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Franz Mehring 19100115 Der revolutionäre Wille

Franz Mehring: Der revolutionäre Wille

15. Januar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 577-580. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 477-481]

In dieser Woche hat der deutsche Reichstag seine Arbeiten wieder aufgenommen, und eine neue Session des Abgeordnetenhauses ist eröffnet worden, aber wenn bei dem Beginn der Woche einige bürgerliche Blätter sich anstellten, als erwarteten sie davon eine Auffrischung des politischen Lebens, so hat das Ende der Woche bereits mit der holden Illusion aufgeräumt. Im Reichstag hat nur die Verhandlung über die Kattowitzer Beamtenmisshandlungen ein flüchtiges Strohfeuer aufflackern lassen, und die Thronrede, womit der Landtag eröffnet wurde, war von einer trostlosen Dürftigkeit.

Jedoch kann es der liberalen Leichtherzigkeit überlassen bleiben, in dieser anscheinenden Ermattung und Ermüdung ein trauriges Zeichen der Zeit zu erblicken. Was sich in ihr ausspricht, ist vielmehr das Bewusstsein, dass die Sache bei den Triariern steht, das heißt, dass es viel weniger auf das Gerede und Getue in den Parlamenten als auf die Anschauungen und Stimmungen der Massen ankommt, die in dem anschwellenden Sturme auf das preußische Wahlrecht ihre Kraft erproben und in den herannahenden Reichstagswahlen ihren Willen in die Waagschale werfen werden. Hiervon hängt in der Tat nicht mehr und nicht weniger als alles ab; das Auf und Ab, das Hin und Her der parlamentarischen Parteien ist völlig in den Hintergrund gedrängt; der „Druck von außen" hat das entscheidende Wort.

Die herrschenden Klassen sind sich darüber auch vollkommen klar, und es ist nur wieder ein Beweis für die oberflächliche Auffassung politischer Fragen, die dem Liberalismus angeboren ist, wenn liberale Blätter ihren allzu billigen Witz an der apathischen Haltung des neuen Reichskanzlers üben. Sicherlich ist Herr v. Bethmann Hollweg kein Genie, und es mag auch sein, dass sein Temperament den Forderungen seiner Lage glücklich entgegenkommt, aber man darf deshalb doch nicht übersehen, dass sein Verzicht auf die Mätzchen und Schnurren seines Vorgängers, auch wenn dieser Verzicht nur in seiner persönlichen Hilflosigkeit wurzeln sollte, doch einen tieferen Zusammenhang hat. Die Zeit für solche Scherze ist eben vorbei. Dadurch ist die ganze Lage der Dinge jedoch nur um so ernsthafter geworden, und der dumpfe Trotz, womit die Reaktion bekennt: Hier stehe ich, und ich weiche keinen Schritt!, hat an Gefährlichkeit nichts verloren, weil sie auf alles Brimborium verzichtet, womit ihr Trotz in den Tagen des Fürsten Bülow zu verkleiden gesucht wurde.

Wenn wir nicht irren, so war es Tocqueville, der einmal sagte, die gefährlichste Lage für ein innerlich überlebtes Staatswesen trete in dem Augenblick ein, wo es zu reformieren beginne, wo es die Schleusen öffne, durch die sich die bis dahin gewaltsam zurückgestauten Forderungen und Hoffnungen der Massen dann reißende und unwiderstehliche Bahn brächen, weit über den Willen derer hinaus, die die Schleusen eben nur ein wenig öffnen wollten. Von dieser Weisheit sind unsere Junker tief durchdrungen. Da Bülow in seinem Leichtsinn einmal das Wort der Krone für eine „Reform" des preußischen Wahlrechtes eingesetzt hat, so werden sie sich vielleicht mit sauersüßer Miene dazu bequemen, ein bisschen daran herumzuflicken. Allein wenn sie sich nicht dazu bequemen werden, auch nur ein wesentliches Gebrechen der Dreiklassenwahl preiszugeben, so sind sie dabei keineswegs so einfach, wie die Liberalen annehmen, von junkerlicher Beschränktheit verblendet. Gewiss, falls sie etwa auf die Öffentlichkeit der Wahl verzichteten, so würden sie damit wohl den Jubel aller bürgerlichen Gegner des preußischen Wahlrechtes erregen und diesen Gegnern damit den Mund stopfen, aber als gute Geschäftsleute sagen sich die Junker: Was wir uns dafür kaufen! Ob sie die bürgerlichen Gegner beschwichtigen oder nicht, das ist ihnen gleichgültig, da sie diese Gegner nicht fürchten und nach allen Erfahrungen der Vergangenheit auch nicht zu fürchten brauchen. Was sie wirklich fürchten, das ist die revolutionäre Erregung der Massen, und von ihr wissen sie nur allzu gut, dass sie ihr den kleinen Finger nicht anders reichen können als auf die Gefahr hin, dass ihnen alsbald die Hand abgeschlagen wird.

Lasse man sich also durch die scheinbare Gleichgültigkeit, womit die Regierung die Zügel schleifen lässt, nicht zu dem verhängnisvollen Irrtum verleiten, als ob sie damit ihre innere Schwäche bekunde. Vielmehr bekundet sich darin ihre Entschlossenheit, es aufs Biegen oder Brechen ankommen zu lassen. Die Junker rechnen mit zwei Umständen, durch die sie sich immerhin vor dem Vorwurf schützen, dass sie nichts lernen und nichts vergessen. Einmal mit so genannten „Ausschreitungen", die in dem politischen Sturm gegen die preußische Dreiklassenschmach vorkommen und die willkommene Gelegenheit bieten könnten, die Flinte schießen und den Säbel hauen zu lassen, worauf dann sämtliche Reichsphilister sich wie eine verblödete Schafsherde in den junkerlichen Wolfshürden zusammendrängen würden. Zweitens aber mit dem allmählichen Einschlafen des preußischen Wahlrechtskampfes, wenn er auf einen unerschütterlichen Widerstand stoße, und der allmählichen Gewöhnung an die neuen Reichssteuern, die bei den nächsten Reichstagswahlen mehr oder weniger vergessen sein würden.

Es lässt sich nun auch nicht leugnen, dass diese junkerlichen Rechnungen nicht ganz ins Blaue hinein angestellt sind. Seitdem die Junker nach den Attentaten des Jahres 1878, wie sich einer der Ihren damals geschmackvoll ausdrückte, den roten Lappen so kräftig schwenkten, dass der Philister den Feuerschein brennender Städte zu sehen glaubte, haben sie die bürgerlichen Gimpel so oft auf ihre Leimrute zu locken gewusst, dass man es verstehen kann, wenn sie diese für sie so lukrative Methode des politischen Kampfes nicht preisgeben mögen. Dass sie auch jetzt darauf hinarbeiten, zeigt die Sprache der reaktionären Presse an jedem Tage, und dass die Polizei gelehrig genug ist, an diesen staatsretterischen Aufgaben mitzuarbeiten, zeigen die eben jetzt gerichtsnotorisch gewordenen Brutalitäten, die sie sich bei und nach der harmlosen Ferrer-Versammlung1 gestattet hat.

Solche sauberen Pläne haben die Arbeiter nun freilich stets zu vereiteln verstanden; selbst in den schweren Tagen des Sozialistengesetzes haben sie sich dieser perfiden Taktik gewachsen gezeigt, und um soviel mehr werden sie es jetzt können. Gefährlicher ist die Rechnung der Junker darauf, dass sich die Empörung der Massen an ihrem hartnäckigen Widerstand abmatten werde; ihr Spott über die „kochende Volksseele" kann sich leider darauf berufen, dass ihre Schandpolitik ihnen allzu lange ungenossen hingegangen ist. Wie oft in den letzten Jahrzehnten haben wir sagen zu sollen geglaubt: Nun ist endlich das Maß der Sünden voll, und doch versank eine Untat der Junker nach der anderen im Strome der Vergessenheit. Gerade auch der Kampf gegen das preußische Wahlunrecht ist schon mehr als einmal unternommen worden und mehr als einmal wieder eingeschlafen; so ist es zu begreifen, dass die Junker auch diesmal damit rechnen, auf eine für sie so wohlfeile Weise davonzukommen.

Worauf es ankommt, ist vor allem, dass sie sich hierin gründlich verrechnen. Bleibt die Gärung der Massen im Flusse und schwillt sie von Tage zu Tage mehr an, so hilft den Junkern all ihr Trotz nicht; so groß ihre Macht leider noch ist, so ist sie auf die Dauer doch ohnmächtig, sobald der revolutionäre Wille der Massen erwacht und auch seinerseits entschlossen ist, es aufs Biegen oder Brechen ankommen zu lassen. Deshalb kann man der proletarischen Wahlrechtsbewegung auch keinen schlechteren Rat erteilen als ein Bündnis mit den bürgerlichen Elementen zu schließen, die sich ebenfalls zum allgemeinen Wahlrecht für die preußische Volksvertretung bekennen. Es wäre das beste und wirksamste Mittel, den revolutionären Willen der Massen zu lähmen, von dem allein alles abhängt. Selbst wenn wir annehmen wollten – was schon eine voreilige Annahme wäre –, dass es alle Liberalen, die sich mit dem Munde zum allgemeinen Wahlrecht bekennen, damit in ihrer Weise ehrlich meinen, so ist diese Weise eben völlig, unfähig, das allgemeine Wahlrecht zu erobern. Sie kämpfen mit Gründen der Gerechtigkeit und der Vernunft, was gewiss sehr achtbare Gründe sind, nur dass sie den Junkern ganz und gar nicht imponieren. Wie einst der brave Hammerstein alle Gründe der Gerechtigkeit und Vernunft, die gegen die Dreiklassenwahl vorgebracht wurden, mit dem klassischen Worte abfertigte: Papperlapapp, es ist unser Profit, und damit basta!, so heute der Knuten-Oertel, der, wie einst der Geliebte der Flora Gass, mit dem lieben Gott auf dem denkbar besten, aber mit Anstand, Ehre und Würde auf dem denkbar schlechtesten Fuße steht.

Auch wo bei den Liberalen im Kampfe für das allgemeine Wahlrecht der Geist willig sein mag, ist das Fleisch immer schwach gewesen und wird auch immer schwach bleiben. Sie lassen es nie aufs Biegen oder Brechen ankommen, und deshalb sind sie nie gegen die Junker aufgekommen. Der landläufige Vorwurf, den sie den Junkern machen, dass diese nämlich die Interessen der Partei über die Interessen des Staates stellen, ist in liberalem Sinne ganz sinnlos. Die Junker kämpfen, indem sie für die Interessen ihrer Klasse kämpfen, für den von den Junkern beherrschten Staat, das heißt für den preußischen Junkerstaat, wie er heute besteht. Wenn aber die Liberalen sich, sobald es zum Klappen kommt, immer vor diesem Staate beugen, den Interessen dieses Staates die Interessen der bürgerlichen Klasse hintanstellen, so treiben sie keine Staats-, sondern Junkerpolitik, und weil sie von jeher diese Junkerpolitik getrieben haben, sind sie immer im Hintertreffen geblieben.

Einer der besten deutschen Liberalen, die es je gegeben hat, ein Mann, dem das allgemeine Wahlrecht mindestens ebenso am Herzen lag wie irgendeinem heutigen Liberalen, resignierte sich schließlich, als alle liberalen Anläufe gegen die Junkerherrschaft scheiterten, mit dem Worte: Uns bleibt unser Bewusstsein und unser Leid. Das ist nun ein verdammt magerer Trost, mit dem sich die Arbeiterklasse nicht bescheiden kann und will und wird. Sie kämpft fürs allgemeine Wahlrecht mit jedem Mittel, das tauglich ist, dies Ziel zu erreichen, auch auf die Gefahr hin, dass der preußische Junkerstaat dabei in tausend Scherben geht. Dieser Aussicht, die jeden Liberalen bis ins innerste Herz erschreckt, sieht das Proletariat mit der gelassenen Zuversicht entgegen, dass sich dann neunundneunzig Prozent der preußischen Bevölkerung neunundneunzig Mal so glücklich und munter befinden werden, wie sie sich jemals unter der Herrschaft des preußischen Staates befunden haben.

Dieser revolutionäre Wille kann sich, wie unter anderem die englische Wahlreformbewegung von 1832 gezeigt hat, siegreich durchsetzen, ohne dass auch nur eine Fensterscheibe zerbrochen wird. Aber vorhanden sein muss er, wenn je das allgemeine Wahlrecht den preußischen Junkern entrissen werden soll; mit den Mitteln, die von liberaler Seite selbst im günstigsten Falle ins Spiel gesetzt werden können, ist es niemals zu bekommen. Von dieser Erkenntnis ist auch der Parteitag der preußischen Sozialdemokratie durchdrungen gewesen. Den revolutionären Willen in den Massen künstlich zu erwecken ist keiner Partei gegeben, aber ihn, sobald er einmal erwacht ist, zu nähren und zu stärken, das ist der einzige Weg, der zum Siege führt.

1 Guardia Francisco Ferrer, geb. 1859, bedeutender spanischer Publizist und Pädagoge, wurde beschuldigt, am Aufstand in Katalonien (an der so genannten Blutwoche vom 26.-31. Juli 1909) maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Er wurde unschuldig zum Tode verurteilt und am 13. Oktober 1909 durch Erschießen hingerichtet. In Deutschland, Frankreich, Italien und in anderen Ländern fanden große Protestdemonstrationen gegen dieses Schandurteil statt.

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