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Franz Mehring 19100205 Die preußische Wahlrechtsvorlage

Franz Mehring: Die preußische Wahlrechtsvorlage

5. Februar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 705-708. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 486-489]

Das gesetzgeberische Machwerk, durch das Herr v. Bethmann Hollweg das königliche Wort einlösen will, das für eine Reform des preußischen Wahlrechtes verpfändet worden ist, soll zwar erst im Laufe des heutigen Tages in seinem Wortlaut an das Licht der Öffentlichkeit gelangen, aber über seine Grundzüge hat gestern Abend schon das offiziöse Hauptblatt einen Artikel veröffentlicht, der hinlänglich erkennen lässt, wes Geistes Kind es ist.

Im Wesentlichen bleibt alles beim Alten; weder an die Öffentlichkeit der Wahl noch an die Klasseneinteilung noch an die Abgrenzung der Wahlkreise wird nach dem üblichen Ausdruck der preußischen Bürokratie „die bessernde Hand" gelegt. Nur die indirekte Wahl wird beseitigt, woran wenig gelegen ist, und dann wird eine Reihe von Änderungen vorgeschlagen, die teils den Zweck verfolgen, allzu lächerliche Auswüchse des bestehenden Wahlrechtes zu beseitigen, teils aber den Zweck, aus den „gebildeten" Kreisen und namentlich auch aus den Kreisen der Bürokratie, eine neue Schar von Landsknechten für das „elendeste und widersinnigste" aller Wahlsysteme zu erwerben. Parlamentariern, Akademikern, Ehrenbeamten der Verwaltungskörperschaften und Kommunalverbänden, Reserveoffizieren, Zivilversorgungsberechtigten, diesen nach fünf- bis fünfzehnjähriger Karenzzeit usw., soll das Avancement in eine höhere Klasse ermöglicht werden, als in die sie nach ihrer Steuerleistung gehören.

In die zum Teil verwickelten Einzelheiten, die von der Tagespresse reichlich erörtert werden, an dieser Stelle näher einzugehen ist um so weniger nötig, als sie vollständig doch erst nach der Veröffentlichung des ganzen Entwurfs übersehen werden können. Die entscheidende Tatsache, dass diese Vorlage den nach ihrem Rechte hungernden Volksmassen nur einen Stein statt Brotes bietet, steht heute schon fest. Selbst ein liberales Blatt vermag die Leistung des Herrn v. Bethmann Hollweg nur „mit brennender Scham und heißer Empörung" zu begrüßen, mit Empfindungen, die man verstehen kann, ohne dass man sie deshalb zu teilen braucht. Vielmehr müsste man alle Erfahrungen der Geschichte verleugnen, wenn man etwas anderes erwartet hätte; noch hat es keine herrschende Klasse gegeben, die freiwillig auf ihre Vorrechte verzichtet hätte, und die preußischen Junker sind die allerletzten, von denen man einen Bruch mit den uralten Überlieferungen herrschender Klassen hätte erwarten können. Sie geben niemals heraus, was sie besitzen, es sei denn unter dem Zwange der äußersten Not.

Einen solchen Druck auf sie von den anderen bürgerlichen Parteien des preußischen Abgeordnetenhauses erwarten hieße eine neue Illusion nähren. Allerdings gibt es in diesem Hause eine Mehrheit wenigstens für die geheime Wahl, allein Herr v. Zedlitz-Neukirch, dem sich unmöglich eine intime Kenntnis des parlamentarischen Kulissentreibens absprechen lässt, hat bereits das holde Geheimnis ausgeplaudert, dass sich das Zentrum niemals zu einer Wahlreform herbeilassen werde, die den preußischen Junkern unbequem sei. Das ist nach der ganzen Lage der Dinge auch wahrscheinlich genug, trotz der sittlichen Entrüstung, die die ultramontanen Blätter gegen die Enthüllung des Herrn v. Zedlitz aufbieten. Was die Partei für Freiheit, Wahrheit und Recht im Umfallen leisten kann, ist ja bekannt genug.

Hat sie darin aber einen ebenbürtigen Konkurrenten, so sind es die Nationalliberalen. Sie haben eben wieder im Reichstag gezeigt, was von ihnen zu halten ist, wenn es darauf ankommt, der junkerlichen Anmaßung entgegenzutreten; selbst dem dreisten Treiben des Januschauers haben sie nicht die Stirn zu bieten gewagt. Bliebe also unter den bürgerlichen Parteien des preußischen Abgeordnetenhauses nur das freisinnige Häuflein, das im besten Falle „brennende Scham und heiße Entrüstung" aufbieten wird, womit in der moralischen Welt große Eroberungen zu machen sein mögen, aber sicherlich nicht in der politischen Welt. Deshalb ist die Hoffnung gering, dass die preußische Wahlrechtsvorlage im preußischen Abgeordnetenhaus irgendwie zum Besseren umgestaltet werden wird, selbst wenn man davon absieht, dass als drohendes Gespenst auch noch das Herrenhaus im Hintergrunde steht.

Die Wahlrechtsvorlage der Regierung ist nicht dazu bestimmt, das preußische Wahlrecht auch nur von seinen volksfeindlichsten Bestimmungen zu reinigen, sondern im Gegenteil gerade dazu, es in seinem elendesten und widersinnigsten Kern dauernd zu befestigen. Das weiß natürlich niemand besser als die Junker, was sie jedoch nicht hindern wird, die Vorlage zu bekämpfen, weil sie in allzu gefährlicher Weise an den bewährtesten Grundlagen des preußischen Staates rüttele, um dann schließlich mit dem bekannten schweren Herzen und nach angeblicher Unterdrückung der gewichtigsten Gewissensbedenken ihre seufzende Zustimmung zu geben. So ist ihre altbewährte Taktik, die sie auch diesmal befolgen werden. Haben sie damit doch stets die besten Geschäfte gemacht!

Ausgetrieben kann ihnen das Komödienspiel nur werden durch den „Druck von außen", und diese eine gute Seite hat die preußische Wahlrechtsvorlage allerdings, dass sie von den entrechteten Massen als dreister Hohn empfunden werden wird. Nun ist freilich auch aus dem sozialdemokratischen Parteilager neuerdings eine Stimme laut geworden, die – von Berlin und einzelnen anderen Orten abgesehen – den rechten Schwung und Zug in der Massenbewegung gegen das preußische Wahlrecht vermisst. Es ist darüber gestritten worden, ob es nötig gewesen sei, den Junkern dies Gaudium zu bereiten, das ihre Presse reichlich genug ausgekostet hat; indessen muss man darüber philosophisch denken. Ist die Beobachtung unrichtig, so wird sie bald durch die Wirklichkeit widerlegt sein; ist sie aber richtig, so war es nie sozialdemokratische Gewohnheit, vor unbequemen Tatsachen die Augen zu verschließen.

Unseres Erachtens beruhte sie auf einem Sehfehler, weil sie die Beteiligung der Arbeiter an den letzten Landtagswahlen als entscheidenden Gesichtspunkt ins Auge fasste. Diese Beteiligung mag zu wünschen übrig gelassen haben, ohne dass deshalb schon ein ungünstiger Rückschluss auf die Kraft der Massenbewegung gestattet wäre. Lassalle hat zwar einmal gesagt, dass, wenn ein Räuber ein gutes Schwert stehle und dafür einen elenden Knüppel zurücklasse, man auch mit diesem elenden Knüppel dem Räuber nachsetzen müsse, aber er gebrauchte den Vergleich nur, um zu erläutern, dass die widerrechtlich oktroyierte Dreiklassenwahl deshalb noch nicht wirkliches Recht geworden sei, weil die Wähler sich ihrer als einer Notwaffe bedient hätten. Keineswegs aber wollte er damit sagen, dass mit einem elenden Knüppel große Siege erfochten werden könnten. Eben diese haltlose Annahme aber muss man schon machen, wenn man aus der mangelhaften Beteiligung der Arbeiter an den letzten preußischen Landtagswahlen einen Rückschluss auf ihre mangelnde Kampflust ziehen will.

Sollte das Interesse für den Parlamentarismus im eigentlichen und engeren Sinne des Wortes innerhalb der deutschen Arbeiterklasse eher sinken als wachsen, was hier dahingestellt bleiben mag, so würde darin eher ein gutes als ein schlechtes Zeichen zu erblicken sein, namentlich unter dem Gesichtspunkte, dass sich dadurch ein schärferer Blick für die realen Machtverhältnisse offenbaren würde. Die deutschen Arbeiter kämpfen unter ganz anderen historischen Bedingungen um das Wahlrecht, als die englischen und französischen Arbeiter darum gekämpft haben. Das englische und in seiner Weise doch auch das französische Parlament war immer eine Macht, während die deutschen Parlamente immer machtlos gewesen sind. Es ist da nicht einmal eine noch so langsam aufsteigende Bewegung zu entdecken; im Gegenteil, wenn es anders möglich wäre, so würden sie immer machtloser. Die günstigen Gelegenheiten, die dem deutschen Reichstag seit Jahr und Tag geboten worden sind, endlich festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, von dem Zusammenbruch des persönlichen Regimentes im Herbste vorigen Jahres bis zur Episode des Januschauers1, sind aufs schmählichste versäumt worden; der bürgerliche Parlamentarismus hat in Deutschland nun einmal kein Blut in den Adern und kein Mark in den Knochen. Es müsste mit wunderbaren Dingen zugehen, wenn diese bitteren Erfahrungen, die sich wieder und wieder häufen, nicht auch ihre Rückwirkung auf die arbeitenden Klassen ausüben würden.

Nur freilich keine einschläfernde, sondern eine aufrüttelnde Wirkung, und in dieser Beziehung wird auch die preußische Wahlrechtsvorlage ihre Schuldigkeit tun. Sie führt den Arbeitern mit Frakturschrift zu Gemüte, dass sie nichts, gar nichts von der freiwilligen Einsicht der herrschenden Klassen zu erwarten haben, und diese Einsicht ist mehr wert als irgendeine Nachgiebigkeit jener Massen in einzelnen, an sich noch so wichtigen Punkten sein könnte. Machen die deutschen Arbeiter bei den nächsten Reichstagswahlen von ihrem Wahlrecht den ausgiebigen Gebrauch, den sie davon machen können, nicht um „positiv mitzuarbeiten", nicht um das leere Stroh des bürgerlichen Parlamentarismus dreschen zu helfen, sondern um zu zeigen, wie hoch die Flut gestiegen ist, dann haben sie ihre gründliche Revanche für die preußische Wahlrechtsvorlage genommen, und ihre Vertreter werden sich kein X für ein U machen lassen, sobald der Bankrott an die Tore des Reiches klopft.

Es ist noch immer wahr, dass sich niemals in der Geschichte unter der scheinbar starren und unerschütterlichen Hülle der äußeren Zustände gewaltigere Umwälzungen im gesellschaftlichen Leben vollzogen haben und vollziehen als gegenwärtig, und unter dem bornierten Starrsinn der Junker birgt sich im letzten Grunde doch nur die Angst, dass, wenn einmal der Strom die Dämme zerbricht, alle ragende Herrlichkeit des Klassenstaats wie morsches Gerümpel davon geschwemmt werden wird.

1 Gemeint ist der berüchtigte Ausspruch des preußischen Junkers Oldenburg-Januschau am 29. Januar 1910 im Reichstag, dass der Kaiser mit einem Leutnant und zehn Mann das Parlament nach Hause schicken könne.

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