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Franz Mehring 19100219 Die Straßenkundgebungen

Franz Mehring: Die Straßenkundgebungen

19. Februar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 769-772. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 490-493]

Mit ihrer berüchtigten Wahlrechtsvorlage sind die preußischen Junker tiefer ins Fettnäpfchen getreten, als sie vermutet und vielleicht selbst beabsichtigt hatten. Diese Spottgeburt von Dreck und ohne jedes Feuer ruft selbst in der bürgerlichen Welt eine Erregung hervor, wie in ihr lange nicht dagewesen ist, und nun gar die Arbeiterklasse peitscht sie zu einer Empörung auf, die in den Straßenkundgebungen des vorigen Sonntags einen selbst junkerlichem Stumpfsinn imponierenden Ausdruck gefunden hat.

Man darf zunächst ohne Übertreibung sagen, dass sich die Arbeiter das Recht auf die Straße erkämpft haben trotz der Brutalitäten, deren sich die Polizei in einigen Städten, in Halle, Königsberg und namentlich in Frankfurt und Neumünster, erdreistet hat. Den Mut, überall mit dem hauenden Säbel und der schießenden Flinte ein Recht niederzuschlagen, das den Massen in jedem zivilisierten Staate zusteht, hat sie schließlich doch nicht gehabt, und zu ihrem Glücke nicht; dadurch aber, dass sie nur in einzelnen Orten den heimlichen Wünschen aller starken Männer zu entsprechen wagte, hat sie gegen sich selbst gezeugt, hat sie bewiesen, dass auf sie, und auf sie allein, das vergossene Blut kommt. Wie die Straßenkundgebungen in Berlin vollkommen friedlich verlaufen sind, trotz des komischen Bramarbastons, den der Polizeipräsident in einer Proklamation anschlug, wie sie überall sonst im Lande zu keinen Zusammenstößen geführt haben, so hätten sie sich auch an jenen wenigen Orten, wo es zu solchen Zusammenstößen gekommen ist, vollkommen ruhig abgespielt, wenn nicht eben die Polizei den Krawall begonnen hätte, sei es nun aus Nervosität und Tölpelei oder sei es aus noch schlimmeren Beweggründen.

Wenn der praktische Wert solcher Straßenkundgebungen angezweifelt worden ist, so mag man dahingestellt sein lassen, ob dabei süffisante Superklugheit oder andere noch weniger respektable Gründe mitspielen. Tatsächlich haben sich von jeher Straßenkundgebungen als eine wirksame Waffe entrechteter und unterdrückter Massen bewährt, wofür die englische und die französische Geschichte reichliche Beweise liefern, und die Wirkung, die die Kundgebungen der deutschen Arbeiterklasse vom vorigen Sonntag auf ihre Todfeinde gehabt haben, spricht für alles andere eher als dafür, dass sie wirkungslos gewesen sind. Man braucht nur die ersten besten Junkerblätter in die Hand zu nehmen, um eine unheimliche Wut darin glimmen zu sehen, gleichviel ob sie mit einem krampfhaft erzwungenen Scheine von Ruhe sich anstellen, als sei der „Radau" nicht der Rede wert, oder ob sie an den polizeilichen Brutalitäten, die in Frankfurt und einigen anderen Städten vorgekommen sind, zu beweisen suchen, dass die Drachensaat aufgehe und nun mit eiserner Faust endlich Ordnung und Ruhe geschaffen werden müsse.

Hat sich was mit der eisernen Faust! Sie möchten wohl, aber sie können nicht, denn wenn am vorigen Sonntag in Berlin allein hunderttausend Menschen – nach der geringsten Schätzung – auf den Beinen gewesen sind, so ist selbst kein ostelbischer Junkerschädel verbohrt genug, um sich nicht die Folgen klarzumachen, die ein Niedermetzeln solcher Massen für die ganze Junkerherrlichkeit haben müsste und würde. Es ist zu einem Gemeinplatz geworden, dass Barrikadenkämpfe heute keine wirksame Waffe unterdrückter Klassen mehr sind, aber man vergisst damit viel zu sehr, dass sich die Dinge, wenn sie sich am Pole ändern, auch am Gegenpol ändern müssen, dass, wenn die technische Entwicklung der Mordwerkzeuge Barrikadenkämpfe unmöglich macht, sie deshalb noch keineswegs ermöglicht, mit diesen Werkzeugen den Massenmord nach junkerlichen Gelüsten zu betreiben. Das wissen die Junker auch recht gut, und daher rührt ihre ohnmächtige Wut über die gelungenen Straßenkundgebungen der Arbeiter. Mag sich diese Wut nachträglich noch im Drohen mit der eisernen Faust entladen, so ist es keine aus Eisen geschmiedete, sondern eine aus sehr unschädlichem Zeitungspapier geballte Faust.

Überhaupt spricht das eisenfresserische Gebaren der Junker nur dafür, dass sie sich selbst im Besitze der brutalen Gewalt gar nicht mehr sicher fühlen. Die Betrachtungen des Kriegsministers v. Heeringen über den Verfassungseid und die Rodomontaden des Januschauers über den Fahneneid des Heeres lassen, um das geflügelte Wort unseres verstorbenen Genossen Sabor anzuwenden, recht tief blicken. Wer über Eide zu philosophieren beginnt, beweist damit, dass er ihrer bindenden Kraft nicht mehr traut. Herr v. Heeringen tut nicht gut daran, an die historische Tatsache zu erinnern, dass, wenn heute das preußische Heer nicht auf die Verfassung vereidigt ist, dieser Mangel durchaus keinen heiligen Ursprung hat, sondern vielmehr dem schmählichen Bruch eines feierlich verpfändeten Königswortes zu danken ist. Er tat ebenso wenig gut daran, sich auf seiner glorreichen Retirade hinter jenen 223 hessischen Offizieren zu verstecken, die, vom General bis zum Unterleutnant, lieber ihrem Landesvater ihre Degen vor die Füße warfen, ehe sie sich unter Bruch ihres Verfassungseides dazu hergaben, den ehr- und schamlosen Staatsstreich Hassenpflugs1 zu unterstützen. Wenn Herr v. Heeringen darin ein abschreckendes Beispiel sieht, so mag sich das für einen preußischen Kriegsminister schicken, denn die preußische Kriegsgeschichte hat ein ähnliches Beispiel echter Mannhaftigkeit nicht aufzuweisen. Aber mit solchen borussischen Anschauungen noch zu renommieren, das sieht den Verzweiflungsstreichen der zwölften Stunde verzweifelt ähnlich.

Auch der Januschauer, der ja nicht nur ein reaktionärer Hanswurst, sondern auch ein frommer evangelischer Christ ist, hätte bei seinem Beispiel von dem Leutnant mit den zehn Mann, die auf Befehl des Kaisers unweigerlich den Reichstag auflösen würden, an das Wort seines teuren Gottesmannes Luther denken sollen: „Und ist kein Unterschied zwischen einem Privatmörder und dem Kaiser, so er außer seinem Amt unrecht Gewalt, und besonders öffentlich oder notorie unrecht Gewalt, vornimmt; denn öffentliche violentia hebt auf alle Pflichten zwischen dem Untertan und Oberherrn jure naturae." Das hat Luther nicht etwa in seiner revolutionären Periode vor dem Bauernkrieg geschrieben, sondern ein halbes Menschenalter später, im Jahre 1539, als er längst ein gehorsamer Tellerlecker des Fürstentums geworden war. Es ist ja auch selbstverständlich und die Grundlage alles öffentlichen Rechts wie aller öffentlichen Sittlichkeit, dass der Fürst, der sich selbst von allen Pflichten gegen das Volk entbindet, auch das Volk von allen Pflichten gegen ihn entbindet; sich über diese Binsenwahrheit mit allerhand albernen Prahlereien hinwegzusetzen zeugt von allem anderen eher als von einem ruhigen Bewusstsein innerer Stärke.

Auf keinen Fall imponiert solch blödes Fuchteln mit der Plempe den Massen, ebenso wenig wie die Ausfälle ihnen imponieren, die sich der gegenwärtige Reichskanzler im preußischen Abgeordnetenhause gegen das allgemeine Wahlrecht erlaubt hat. Er hat sie heute, auf eine sozialdemokratische Interpellation hin, im Reichstag aus der Welt zu reden gesucht, mit geringem Erfolge selbst bei den bürgerlichen Fraktionen. Könnte die Junkersippe mit dem Reichstagswahlrecht aufräumen, sie würde es heute lieber als morgen tun: Was sie hindert, ist nur der Knüppel, der beim Hunde liegt. Aber eben weil sie das selbst am besten weiß, ist es mehr als töricht, dass sie ihre heimlichen Gelüste nicht besser zu verbergen versteht; sie verrät auch dadurch, dass sie an das Ende ihres Lateins zu kommen beginnt; kann man die böse Tat nicht ausführen, so markiert man nur innere Unsicherheit, wenn man den bösen Willen zum Fenster hinaushängt.

Unter diesen Umständen ist die Hoffnung berechtigt, dass die preußischen Junker die Dinge auf die Spitze treiben und nicht einmal die zerbrechliche Brücke betreten werden, die ihnen ihre nationalliberalen und ultramontanen Freunde in der Frage des preußischen Wahlrechtes bauen möchten. Offenbar wird daran gearbeitet, wenigstens das geheime Wahlrecht als eine Art künstlicher Lunge dem Wechselbalg der Regierung einzusetzen und dann mit diesem „entscheidenden Fortschritt" die preußische Wahlfrage für absehbare Zeit als gelöst zu betrachten. Unseren Lesern brauchen wir nicht zu sagen, dass damit gerade noch nichts Entscheidendes geschehen wäre; ohne das geheime Wahlrecht irgendwie zu unterschätzen, so steht es doch hinter dem gleichen Wahlrecht zurück, und auch die ungerechte Einteilung der Wahlkreise ist eine ungleich ärgere Fälschung des Volkswillens als selbst die öffentliche Wahl. Indessen wenn es gelänge, die geheime Wahl durchzusetzen, für die sich im Abgeordnetenhaus eine knappe Mehrheit herstellen lässt, so würde zweifellos – und nicht zuletzt von liberaler Seite – ein großer Siegeslärm über diesen „Erfolg" erhoben werden, und die Empörung über das gesetzgeberische Attentat Bethmann Hollwegs würde dann in den bürgerlichen Kreisen schnell abflauen.

Einstweilen ist zu erwarten, dass die Junker in ihrer unheilbaren Verblendung sich auf einen Vorschlag, der schließlich doch nur in ihrem eigenen Interesse gemacht wird, nicht einlassen werden. Aber wenn sie es je tun sollten, so mag beizeiten daran erinnert werden, dass für die Arbeiterklasse damit nichts am Stande der Dinge geändert ist. Sie hat den Kampf gegen das Junkertum auf der ganzen Linie aufgenommen, und sie selbst würde die Aussichten auf Sieg, die ihr so nahe winken wie niemals früher, unheilbar kompromittieren, wenn sie sich mit irgendeiner Abschlagszahlung beschwichtigen ließe, und wäre sie selbst größer als die geheime Wahl. Das mag den freisinnigen „Staatsmännern" überlassen bleiben, die ja heute schon nicht genug über die Straßenkundgebungen flennen können.

Feiger Gedanken bängliches Schwanken kann und wird die Arbeiterklasse auf ihrem Wege nicht beirren. Der Entschluss zu siegen, ist für sie schon der halbe Sieg; gegen den unerschütterlichen Willen der Millionen, wie er sich von Tage zu Tage stärker kundgibt, ist auf die Dauer auch die waffenstarrende Macht des Junkertums ohnmächtig.

1 Hans Daniel Ludwig Friedrich Hassenpflug, 1832 Kurhessischer Justizminister und Minister des Innern, bekämpfte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Grundsätze der Kurhessischen Verfassung von 1831. 1837 entlassen, wurde er Chef der Regierung und des Hofgerichts von Hohenzollern-Sigmaringen, 1839 Zivilgouverneur des Großherzogtums Luxemburg, 1841 Mitglied des Obertribunals zu Berlin und 1846 Präsident des Oberappellationsgerichtes in Greifswald. 1850 trat er nach der Entlassung des Märzministeriums wieder an die Spitze der Kurhessischen Regierung. Im September führte er seinen Staatsstreich durch: Er forderte vom restaurierten Bundestag eine Intervention, österreichische und bayrische Truppen rückten in Hessen ein, die Verfassung von 1831 wurde beseitigt und eine neue unter Mitwirkung des Bundestages oktroyiert. Erst 1855 wurde H. abermals entlassen.

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