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Franz Mehring 19100827 Nationale Eigenart

Franz Mehring: Nationale Eigenart

27. August 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 809-812. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 506-509]

Der glänzende Wahlsieg in Zschopau-Marienberg hat auf die bürgerlichen Parteien einen geradezu betäubenden Eindruck gemacht. Sie vermuteten zwar nichts Gutes, aber sie waren nicht auf eine Niederlage von solchem Umfang gefasst. Die „rote Hochflut" fängt an, ihnen die bittersten Sorgen zu machen, zumal da sie allesamt nicht wissen, wie sie noch zu stauen sein möchte.

Einstweilen setzen sie ihren lieblichen Streit darüber fort, wer in der nun schon langen Kette sozialdemokratischer Wahlsiege die kräftigsten Schläge erhalten hat, die von der Rechten oder die von der Linken. Es wäre unhöflich, sich in diese intimen Diskussionen der Ordnungsfreunde zu mischen; der unbeteiligte Zuschauer wird sich mit der allgemeinen Betrachtung begnügen dürfen, dass beide Teile ganz zufrieden sein können mit den Quittungen, die ihnen die Wähler ausgestellt haben. Lassen wir also die Rechnungen auf sich beruhen, die die „Kreuz-Zeitung" auf der einen und die „Frankfurter Zeitung" auf der anderen Seite anstellen, um sich selbst möglichst herauszureden und den getreuen Nachbar möglichst herabzusetzen.

Die Konservativen schieben alle Schuld auf die liberale „Hetze" gegen die so genannte Reichsfinanzreform, eine Hetze, die um so unehrlicher sei, als die Liberalen ja bereit gewesen wären, diese „Reform" zu vier Fünfteln mitzumachen und namentlich alle die indirekten Steuern zu bewilligen, die am meisten dazu beitragen, die Massen zu empören. Darin haben die Konservativen auch nicht Unrecht, aber großmütig, wie sie sind, wollen sie Gnade vor Recht ergehen lassen, wenn die Liberalen nur aufhören, den Schnapsblock zu bekämpfen und sich von diesem erhabenen Gebilde als gehorsames Stimmvieh gegen die Sozialdemokratie missbrauchen lassen. Alle Liberalen, die sich dagegen sträuben, sollen endgültig als Reichsfeinde und Vaterlandsverräter in die Wolfsschlucht geschleudert werden.

Auf diesen Handel wollen sich nun aber die Liberalen oder will sich wenigstens ein großer Teil von ihnen nicht einlassen, was ihnen wiederum durchaus nicht verdacht werden kann. Unter schamhafter Verschweigung ihres patriotischen Anteils an der „Sanierung" der Reichsfinanzen möchten sie am liebsten im Trüben fischen und die Erbitterung der Massen über die neue Steuerlast gern für sich ausnützen, aber dabei das patriotische Heer bleiben, das nach seiner eigenen, weniger glaubwürdigen als pompösen Behauptung das stärkste Bollwerk gegen die dreimal vermaledeite Sozialdemokratie sein soll. Es sind nur einige wenige Blätter des Freisinns, die für ein ehrliches, vollkommen erreichbares und auch vollkommen genügendes Stichwahlbündnis mit der Sozialdemokratie eintreten, und selbst diese weißen Raben verderben ihr eigenes Spiel, indem sie ihre naseweisen Bemerkungen in die inneren Auseinandersetzungen der Sozialdemokratie über den badischen Budgetstreit krächzen. Treu und Glauben gehört nun einmal nicht zu den Vorzügen des Freisinns und des Liberalismus überhaupt.

Die unbedingte Zuverlässigkeit der Sozialdemokratie ist es in erster Reihe, die die unzufriedenen Wähler in dichten Massen unter die rote Fahne treibt. Gewiss kann auch dieser überreiche Gottessegen einmal eine Kehrseite entfalten, aber es bleibt ein unvergängliches Ehrenzeugnis der Partei, dass sie in den Zeiten der Not den Wählern als die einzige unzerbrechliche Stütze gilt. Auf die Dauer liegt hierin eine Bürgschaft des Sieges, die auch durch zeitweilige Rückschläge, wie bei den Faschings- und Hottentottenwahlen, wohl verdunkelt, aber nicht aufgehoben werden kann. Flut und Ebbe wechseln, aber nach jeder Ebbe dringt die Flut desto unaufhaltsamer vor, und der bürgerliche Trost über die Mitläufer, die heute kommen und morgen gehen, wird dadurch mehr oder minder illusorisch, dass ein immer wachsender Teil der Mitläufer zu zuverlässigen Parteigenossen wird.

Eine besonders erfreuliche Seite des Sieges, der eben in Zschopau-Marienberg erfochten worden ist, bildet die gänzliche Zerschmetterung des Antisemitismus, eine besonders erfreuliche Seite auch deshalb, weil gleichzeitig der Kronprinz als Rektor der Königsberger Universität eine Kundgebung in antisemitischem Stile vom Stapel laufen zu lassen für gut befunden hat. Der junge Mann, der bisher noch keine Gelegenheit gehabt hat, seine gewiss hervorragenden Gaben öffentlich zu betätigen, hielt sich durch den höfisch leeren Ehrentitel eines Rektors für berufen, den Professoren der Universität Königsberg Weisungen über Ziel und Zweck des akademischen Unterrichts zu erteilen, vor „Verdrossenheit" und „unfruchtbarer Kritik" zu warnen, endlich auch die „internationalisierenden" Bestrebungen zu verurteilen, die die „gesunde völkische Eigenart" zu verwischen drohten.

Der Vorgang ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Wollte der Kronprinz sich gerade in Königsberg über öffentliche Übelstände auslassen, so hätte es für ihn wohl am nächsten gelegen, eine – natürlich „fruchtbare" – Kritik an dem Urteil zu üben, das gerade in Königsberg kürzlich wegen angeblicher Prinzenbeleidigung gefällt worden ist. Da der Kronprinz sich schon als rein zeremonieller Rektor der Königsberger Universität hoch geehrt fühlt, so kann er unmöglich eine Ehrenkränkung in dem Ansinnen erblicken, sich auf dem Wege wirklichen Unterrichts sein Brot zu erwerben. Unter diesen Umständen muss es für den Kronprinzen doch eine peinliche Empfindung sein, dass ein Staatsbürger, der ihm eben jenes Ansinnen gestellt hatte, deshalb wegen Beleidigung auf vier Monate ins Gefängnis spazieren soll; eine Verwahrung gegen jede Solidarität mit einem so himmelschreienden Urteil hätte ihm sicherlich kein vernünftiger Mann als unerlaubten Eingriff in die Rechtsprechung der Gerichte ausgelegt.

Auch war der Kronprinz doch nicht der nächste dazu, über „Verdrossenheit" und „unfruchtbare Kritik" zu klagen. Diese Erscheinungen ergeben sich aus der allgemeinen Not, in der sich die große Mehrheit der Nation befindet, und der Kronprinz, dem die Not des Lebens aus eigener Erfahrung bisher gänzlich unbekannt geblieben ist, kann kein zutreffendes Urteil in solchen Dingen haben. Am wenigsten im gegenwärtigen Augenblick und am allerwenigsten als der älteste Sohn eines Hauses, dessen an sich ja schon ganz stattliches Jahreseinkommen von etwa fünfzehn Millionen Mark eben jetzt um jährlich drei bis vier Millionen erhöht worden ist, aus den Taschen derselben Steuerzahler, deren Mehrheit aufs schwerste mit der allgemeinen Verteuerung der Lebensmittel zu ringen hat. Da der Kronprinz gewiss ein Verehrer unseres nationalen Dichters ist, so kennt er wohl auch dessen Wort: Vom sichern Port lässt sich gemächlich raten, womit Schiller unseres unmaßgeblichen Erachtens kein Lob aussprechen wollte. Die Königin Marie Antoinette sagte einmal, als man mit ihr von der Unerschwinglichkeit der Brotpreise für die Volksmassen sprach: Nun, so gebe man ihnen Kuchen. Natürlich ist der Kronprinz hoch erhaben über solche Frivolität, aber da er so reichlich mit Kuchen versehen ist, so kann er sich doch nicht in die Lage der Unzähligen versetzen, denen es schwer wird, selbst mit der sauersten Arbeit ein armseliges Stück Brot zu erwerben, und so kann sein Verdikt über die „Verdrossenheit" und die „unfruchtbare Kritik" nicht als ein erschöpfendes Urteil gelten.

An seinen Äußerungen über die „internationalisierenden Bestrebungen", die unsere „gesunde völkische Eigenart zu verwischen drohen", fällt zunächst die Sprache auf. Es ist eine geheiligte Überlieferung deutscher Fürsten, zwar nach allen Lorbeeren zu trachten, die Herrschaft verleihen kann, nur nicht nach dem Lorbeer, den die Herrschaft über die Sprache verleiht; das war immer so, seitdem Kaiser Sigismund, der Hus-Verbrenner, den Kaiser als höhere Instanz über der Grammatik etablierte, und Kaiser Karl V., der Luther-Verfolger, die deutsche Sprache nur für brauchbar in der Unterhaltung mit Pferden erklärte: mit einzelnen Ausnahmen, die die Regel bestätigen, wie Friedrich Wilhelm IV., den Heine ja schon als solche Ausnahme besungen hat. Wir wollen deshalb ganz dahingestellt sein lassen, ob der Kronprinz sich mit dem neuen Verbum: internationalisieren als glücklicher Sprachschöpfer bewährt hat, aber wir glauben allerdings, dass er sich mit der „gesunden völkischen Eigenart" nicht gerade an die richtige Schmiede gewandt hat. Die Worte: völkisch und Volkheit sind, wie schon in der freisinnigen Presse ganz richtig hervorgehoben worden ist, österreichisches Antisemitengewächs und versündigen sich an dem Geiste der deutschen Sprache ebenso wie das Wort: diesbezüglich und ähnliches Unkraut aus der gleichen Gegend.

In der bürgerlichen Presse hat gerade dieser Satz des Kronprinzen – von den internationalisierenden Bestrebungen, die die gesunde völkische Eigenart zu verwischen drohen – ein ziemliches Hallo hervorgerufen: Die Alldeutschen und die Antisemiten tun so, als hätten sich die Pforten des Tausendjährigen Reiches aufgetan, während die liberalen Monarchisten mit aufrichtigem Kummer die Möglichkeit erwägen, dass der Thronfolger seine Bildung aus den unsterblichen Werken der Harden und Liman schöpfe, denn diese beiden hervorragenden Denker haben das Erbstück der österreichischen Antisemiten, die völkische Volkheit, in Erbpacht genommen. Uns scheint bei diesem Streite ganz zweckloserweise eine Unmasse von Druckerschwärze und Zeitungspapier verschwendet zu werden, denn einstweilen hat der Kronprinz „nix to seggen", und wir würden es auch mit großer Fassung zu tragen wissen, wenn er in den Harden und Liman seine idealen Vorbilder erblicken sollte. Umso besser für unsere Zukunft!

In diesem Sinne ist es denn freilich bemerkenswert, dass im selben Augenblick, wo sich der Kronprinz in Schlagworten antisemitischen Ursprungs gefällt, die sozialdemokratischen Wähler in Zschopau-Marienberg dem antisemitischen Treiben einen vernichtenden Stoß versetzen. Und so soll es bleiben. Mag es mit der diesbezüglichen völkischen Eigenart stehen, wie es will, nationale Eigenart des deutschen Volkes ist, für die Gegenwart wie für die Zukunft, die stärkste Arbeiterpartei der Welt zu besitzen, die im schroffsten Gegensatz zur Monarchie und allen monarchischen Einrichtungen steht.

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