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Franz Mehring 19110708 Das Marokko-Abenteuer

Franz Mehring: Das Marokko-Abenteuer

8. Juli 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 505-507. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 545-547]

Wenn es anders richtig sein soll, dass die Spuren schrecken, so muss man sich einigermaßen wundern, dass Herr v. Kiderlen-Wächter sich wieder auf das Glatteis der Marokko-Frage begeben hat, auf dem die auswärtige Politik des Deutschen Reiches schon mehr als einmal in bedenklichster Weise ausgeglitten ist. Die Entsendung erst eines kleineren und dann eines größeren Kriegsschiffs nach dem marokkanischen Hafen Agadir, angeblich um das Leben und das Eigentum der Deutschen in jenen Gegenden zu schützen, ist vielleicht das Produkt einer tiefsinnigen Weisheit, hat aber vorläufig ganz den Anschein, der Vorbote einer neuen Blamage zu sein.

Natürlich glaubt kein Mensch an den angeblich harmlosen Zweck der Maßregel; der englische Premier hat erklärt, dass dadurch eine „neue Situation" geschaffen sei, die er einmal dahin erläuterte, dass die künftige Entwicklung die englischen Interessen direkter berühre, als es bisher der Fall gewesen sei, und dann dahin, dass England seine Vertragspflichten gegen Frankreich erfüllen werde. Das heißt mit anderen Worten, dass England eine Festsetzung Deutschlands an der marokkanischen Küste nicht dulden werde. Dieser empfindliche Nasenstüber war der erste Erfolg der kühnen Politik, mit der Herr v. Kiderlen-Wächter nach Bismarcks Lorbeeren trachtete. Der zweite Erfolg war dann eine starke Spannung zwischen Deutschland auf der einen, England und Frankreich auf der anderen Seite, und man muss gestehen: Für eine kurze Woche waren das Resultate genug.

Eine andere Lesart derjenigen deutschen Blätter, die das Gras wachsen hören, geht dahin, Deutschland beanspruche gar kein Stück des marokkanischen Kuchens, aber wenn Frankreich diesen Kuchen verspeise, so wolle es sich irgendwo sonst Kompensationen sichern. Dies ist die Politik, die seinerzeit der falsche Bonaparte gegenüber Bismarck trieb; durch jeden Machtzuwachs Preußens glaubte er einen Anspruch auf einen Machtzuwachs Frankreichs erworben zu haben. Er beging nur den Fehler, seinen Erfolg von diplomatischen Verhandlungen zu erwarten, statt sich klarzumachen, dass man „Kompensationen" dieser Art nur erwirbt, wenn man entschlossen ist, sie mit den Waffen in der Hand durchzusetzen. Fehlt dieser Entschluss, dann ist das Endergebnis eine gewaltige Niederlage; ist er aber vorhanden, so stehen wir am Vorabend eines Weltkriegs.

Glücklicherweise ist der erste Teil dieser Alternative der weitaus wahrscheinlichere; um des elenden Marokko-Handels willen wird schwerlich ein Weltkrieg entstehen. Wir rechnen dabei nicht mit der Einsicht der offiziellen Diplomatie – die lässt sich nicht leicht tief genug einschätzen –, aber mit ihrer Angst vor den Folgen; ein Weltkrieg würde mehr als einen europäischen Thron gewaltig ins Wackeln bringen. Da der Knüppel beim Hunde liegt, so wird sich der Hund aufs Bläffen beschränken. Insofern sieht die Situation nicht gar zu bedenklich aus trotz des wütenden Kriegsgeheuls, das die alldeutschen Blätter erheben.

Dennoch aber ist dies neue Anschneiden des Marokko-Rummels ein durchaus geeigneter Anlass, der offiziellen Diplomatie gehörig auf die plumpen Finger zu klopfen. Mag die Kriegsgefahr ferner oder näher sein, so ist es ein unerträglicher Zustand, dass ein Mann von den Qualitäten des Herrn v. Kiderlen-Wächter einfach mit den Lebensinteressen einer Nation von sechzig Millionen spielen darf. Wenn die deutsche Regierung nicht einmal der Ehren ist, die Gründe eines Vorgehens, das einen europäischen Konflikt hervorrufen kann, der Nation mitzuteilen, so muss ihr die Nation kategorisch erklären: Wo wir nicht mit raten, da taten wir auch nicht mit; kokettiert ihr mit dem Kriege, so werden wir alles daransetzen, den Krieg zu hindern.

In höchst dankenswerter Weise haben unsere französischen Genossen diesen Weg beschritten. Auch für Frankreich ist das Marokko-Abenteuer eine windige Sache – wenn auch nicht ganz so windig wie für Deutschland –, die mit den nationalen Interessen nichts zu tun hat, sondern höchstens die Profitwut kleiner Bourgeoiskreise berührt. Mit Recht sagen unsere französischen Genossen, dass Marokko nicht die Knochen eines einzigen französischen Arbeiters wert sei. Sie haben eine energische Aktion der gesamten Partei beschlossen, um die Regierung zum Frieden zu zwingen; getreu den Beschlüssen des Internationalen Sozialistischen Kongresses wollen sie sich nötigenfalls mit allen Mitteln dem Ausbruch eines brudermörderischen Krieges widersetzen.

Diese Beschlüsse unserer französischen Genossen werden den lebhaftesten Widerhall in der deutschen Arbeiterklasse finden, die sicherlich alles, was in ihren Kräften steht, tun wird, die Aktion der französischen Sozialdemokratie zu unterstützen. Gelingt es, die Massen diesseits und jenseits der Vogesen gegen den Marokko-Schwindel mobil zu machen, dann wird den Machthabern in Berlin und in Paris die nötige Besonnenheit und Vorsicht bald anerzogen sein. Aber über den einzelnen Fall hinaus ist es auch sonst die höchste Zeit, den Regierungen klarzumachen, dass die Völker aufgehört haben, die willenlosen Hammelherden zu sein, die sich so mir nichts dir nichts auf die Schlachtbank treiben lassen.

Auf diese Weise wird dann auch von vornherein jeder Versuch vereitelt, die „auswärtige Aktion", die dem Herrn v. Kiderlen-Wächter beliebt hat, als Wahlpopanz zu missbrauchen. Die Aussichten dafür sind zwar sehr gering, ebenso gering wie die Wahrscheinlichkeit, dass die deutsche Regierung aus diesem diplomatischen Feldzug als Siegerin heimkehren wird, aber es ist schon sicherer, den Spieß von vornherein umzukehren und die souveräne Missachtung der Nation, die die Regierung in dem Marokko-Abenteuer wieder bewiesen hat, als wirksamstes Agitationsmittel gegen sie selbst zu wenden. Allerdings lehren uns die Neunmalweisen, dass diplomatische Verhandlungen im Geheimen betrieben werden müssen, und für die alte Diplomatie des alten Absolutismus mag das auch bis zu einem gewissen Grade richtig gewesen sein, da es bei ihr darauf ankam, wer den anderen am verschlagensten übers Ohr hauen könne. Aber seitdem die Völker mündig geworden sind, brauchen ihre internationalen Geschäfte nicht mehr nach dem Muster von Gaunereien betrieben zu werden, die das Licht des Tages zu scheuen haben.

Mit der Redensart von der notwendigen Geheimtuerei der Diplomatie imponiert man heutzutage keinem vernünftigen Menschen mehr. Die Völker werden sich ihr Recht nicht nehmen lassen, zu erfahren und selbst zu beurteilen, wofür sie sich die Hälse brechen sollen, und mindestens die Arbeiterklasse wird, auf dieses unveräußerlichste aller Menschenrechte nicht verzichten. Gibt der Marokko-Rummel, eben in seiner unglaublichen Frivolität, hierzu den entscheidenden Anstoß, so hat er wenigstens einen guten und vernünftigen Zweck gehabt und wird an seinem Teile dazu beitragen, die reaktionäre Wirtschaft im Reiche zu brechen. Es wäre dann auch die würdigste Feier des Jubiläums, das, wie wir aus patriotischen Blättern ersehen, gestern die Hohenzollernherrschaft mit ihrem fünfhundertsten Geburtstag gefeiert hat.

Gerade dieses Fürstengeschlecht ist sehr verwöhnt worden, indem es über Gut und Blut der Provinzen und Staaten, die zu ihrem Verhängnis unter sein System gerieten, stets unbeschränkt verfügen konnte. Aber in einem halben Jahrtausend ist gerade genug in Schafsgeduld konsumiert worden, und es ist um so ratsamer, ein neues Blatt zu beginnen, als ein zweites Halbjahrtausend sich gewiss nicht vollenden wird, und wenn die Kiderlen und Genossen so weiter arbeiten, vielleicht nicht einmal mehr ein Halbjahrhundert.

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