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Franz Mehring 19110729 Die gute Seite

Franz Mehring: Die gute Seite

29. Juli 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 617-620. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 548-552]

Man kann sich im Grunde nichts Widerlicheres denken als diesen elenden Marokko-Handel, der in der vergangenen Woche einmal wirklich die europäische Welt in Flammen zu setzen schien, freilich für vorübergehende Stunden nur, denn es gibt einen Grad des Blödsinns, den zu erklimmen selbst der europäischen Diplomatie nicht gegeben ist.

Immerhin zeichnet sich die englische Diplomatie dadurch vor der deutschen aus, dass sie wenigstens einen Schimmer von Licht über das Dunkel verbreitet, worin Herr v. Kiderlen-Wächter den Bismarck zu munkeln versucht. England will nicht, dass sich Deutschland in Marokko festsetzt, aber wenn Deutschland und Frankreich sich über sonstige „Kompensationen" auf afrikanischem Gebiet einigen, so will es sich nicht weiter einmischen. Die deutschen Chauvinisten finden, dass der kühne Vorstoß der deutschen Diplomatie damit auf den elenden Schacher um ein paar mehr oder minder wertlose Länderfetzen in Afrika beschränkt sei, und das ist ja auch keineswegs unrichtig. Allein wenn sie hinzufügen, dass dadurch die Ehre der deutschen Nation verletzt sei, so sind sie gewaltig im Irrtum, denn die Ehre der deutschen Nation hat glücklicherweise gar nichts damit zu tun, ob die Kiderlen-Wächter und ähnliche Diplomaten sich blamieren oder nicht.

Für die deutschen Interessen wäre es sogar am besten, wenn diese Gernegroße überhaupt keine „Kompensation" aus dem Marokko-Schacher davontrügen und sich gänzlich den Mund wischen müssten. Die deutsche Nation hat als solche kein Bedürfnis nach einer Vermehrung ihres Kolonialbesitzes, am wenigsten nach einer solchen Vermehrung, wie sie ihr in diesem Falle selbst unter den günstigsten Umständen nur beschieden sein kann. Um des privaten Vorteils einiger kapitalistischen Firmen willen würde sie nichts als neue Lasten davontragen, nichts als neue kostspielige Kolonialabenteuer, während sie an den alten gerade genug hat. Die wahrscheinliche Aussicht, dass die deutsche Diplomatie schließlich um des lieben Friedens willen mit irgendwelchem wertlosen Zeug von „Kompensationen" abgespeist werden wird, ist für die deutsche Nation eine nichts weniger als erfreuliche Aussicht.

Deshalb wollen wir jedoch nicht verkennen, dass diese neueste Auflage des Marokko-Rummels wenigstens eine gute Seite gehabt hat. Sie hat bis in die Philisterkreise hinein das Gefühl der Scham darüber geschärft, dass wochenlang die wichtigsten Lebensinteressen eines Volkes von sechzig Millionen aufs Spiel gesetzt werden können, ohne dass diesem Volke auch nur die geringste Möglichkeit gegeben ist, wir sagen nicht einmal mit zu taten, sondern auch nur mit zu raten. Ein unmündiges Kind von drei Tagen kann von den Beschlüssen über sein Wohl und Wehe nicht vollständiger ausgeschlossen sein als die deutsche Nation bei der Frage, ob sie morgen in einen Weltkrieg verwickelt sein wird, bei dem es sich um ihre Existenz handelt. Ihr ganzes patriotisches Recht und ihre ganze patriotische Pflicht besteht darin, in ehrfurchtsvollem Schweigen dessen zu harren, was die Fähigkeit oder die Unfähigkeit, die Geschicklichkeit oder die Ungeschicklichkeit einiger weniger Personen über sie verhängen wird.

Das schlechthin Unwürdige dieses Zustandes würde natürlich auch dadurch nicht gemildert werden, dass die wenigen Personen, von denen dann alles abhängt, die genialsten Köpfe der Nation wären, was im übrigen von den Herren v. Bethmann und Kiderlen bisher auch der verwegenste Patriot noch nicht behauptet hat. Es ist und bleibt eine Schmach für ein großes Volk, seine Schicksale in die Hände einzelner Personen zu befehlen, sie seien, wer sie seien. Dabei darf man natürlich nicht übersehen, dass die Schuld für diese Schmach nicht sowohl auf die einzelnen Machthaber als auf die Nation selbst fällt. Jedes Volk hat bekanntlich die Regierung, die es verdient; wenn die deutsche Nation heute in allen Fragen der auswärtigen Politik mindestens ebenso mediatisiert ist wie in den Zeiten des seligen Bundestags, so ist das vor allem ihr selbst zuzuschreiben. Gelegenheiten genug hat sie gehabt, ihren eigenen Willen zum Herrn ihrer Geschicke zu machen, und wenn sie die Gelegenheiten allemal verpasst hat, so ist das in erster Reihe ihre eigene Schuld.

Dass sie auf diese Schuld nun einmal so recht mit der Nase gestoßen worden ist, das ist ein gewiss nicht zu unterschätzendes Verdienst des neuesten Marokko-Rummels. Jeder vernünftige Mensch in Deutschland weiß, dass die Marokko-Frage, soweit es sich um die nationalen Interessen handelt, nicht einmal einen Schuss Pulver, geschweige denn die Knochen eines Grenadiers wert ist. Gleichwohl fällt es eines schönen Tages einem beliebigen Diplomaten an der Spitze des Auswärtigen Amtes ein, wegen dieser Frage das Spiel eines Weltkrieges anzuzetteln, mit dem kategorischen Befehl an die sechzig Millionen, um deren Blut und Knochen es sich handelt: Ihr habt gefälligst das Maul zu halten. Da ist es denn begreiflich genug, dass nun sogar der Spießbürger unmutig zu werden und sich zu fragen beginnt, bis wohin die Narretei denn eigentlich noch gehen solle. Freilich, so weit vermag er noch nicht aus seiner patriotisch-untertänigen Haut zu schlüpfen, dass er sich offen gegen die Zumutung zur Wehr setzt, wie ein Kalb zur Schlachtbank geschleppt zu werden. Im Gegenteil „billigen" seine Organe sogar das abenteuerliche Vorgehen des Herrn v. Kiderlen, wenn auch nur mit dem Vorbehalte, dass kein Krieg daraus entstehen dürfe, was denn auf die echt spießbürgerliche Weisheit hinausläuft: Ihr dürft mit dem Feuer spielen, aber brennen darf das Feuer nicht!

Von solchen zaghaften Bedenken ist die Arbeiterklasse glücklicherweise frei. Sie legt den entschiedensten Protest ein gegen die Marokko-Politik der Regierung, mit Recht gänzlich unbekümmert darum, ob sie dadurch die diplomatischen Kreise des Herrn v. Kiderlen-Wächter stört oder nicht. Ein glücklicher Zufall fügte, dass gerade eine Anzahl französischer Gewerkschaftsführer in Berlin anwesend ist und mit ihnen gemeinsam am gestrigen Abend eine machtvolle Kundgebung für den Frieden veranstaltet werden konnte. Die preußische Polizei benützte die Gelegenheit natürlich gern, sich gründlich zu blamieren, indem sie einen französischen Gewerkschafter auswies oder auszuweisen versuchte – denn er hatte schon vorher die gastlichen Gefilde Ostelbiens verlassen –, weil er sachlich vollkommen zutreffend, obgleich in parlamentarisch unzulässiger Form diejenigen Diplomaten als „Schafsköpfe" eingeschätzt hatte, die sich einbildeten, dass sie die modernen Nationen so im Handumdrehen zum gegenseitigen Abschlachten kommandieren könnten. Im Geiste dieser polizeilichen Heldentat verlangt nun auch Knuten-Oertel ein Einschreiten gegen die Kundgebungen der Arbeitermassen für den Frieden, mit dem naiven Eingeständnis, dass jede gesetzliche Handhabe dazu fehle.

Wäre es anders erlaubt, das Alberne und Unverschämte zu befürworten, weil es seinen Urhebern zum Schaden ausschlagen muss, so würden wir diese Forderung des agrarischen Tintenkulis lebhaft unterstützen. Ein Versuch, den Massen in der Frage des Krieges und Friedens ganz und gar den Mund zu verbieten, wäre das trefflichste Mittel, die auswärtige Politik der deutschen Diplomatie um den letzten Rest von Kredit zu bringen, den sie heute noch etwa in den Augen der Philister haben mag. Und das wäre die einzige Wirkung des famosen Vorschlags. Denn dass die Arbeiter sich nicht den Mund verbieten lassen würden, das sollten die Herolde polizeilicher Heldentaten doch noch aus den Tagen des Sozialistengesetzes wissen.

Bei alledem aber ist ihre Nervosität vollkommen begreiflich. Trotz der schnodderigen Redensart Bülows über die auswärtige Politik, die nicht in der Hasenheide gemacht würde, ist keine auswärtige Politik zu machen, die nicht von der Hasenheide gebilligt wird. Je rücksichtsloser die Hasenheide ihre Stimme gegen ein weltpolitisches Abenteuer erhebt, umso mehr schrumpfen die Aussichten dieses Abenteuers zusammen. So geist- und gottverlassen ist selbst das ostelbische Junkertum nicht, um darüber im wirklichen Zweifel zu sein; vor hundert Jahren wehrte es sich gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht namentlich deshalb, weil ein Volk in Waffen nimmermehr eine willenlose Hammelherde bleiben könne und einen Krieg gegen den Willen der Massen zur Unmöglichkeit machen müsse. Dieser Gefahr haben die Junker lange genug dadurch zu begegnen gewusst, dass sie das „Volk in Waffen" trotz der allgemeinen Wehrpflicht zu einer Karikatur zu machen verstanden, aber gegen die innere Logik der Dinge kommen sie auf die Dauer nicht auf; je mehr sich die allgemeine Wehrpflicht ausdehnt, je bewusster sich die Klassen ihrer Lebensinteressen werden und je mehr sich die Abenteuer der Weltpolitik als frivole Profitjagden herausstellen, die mit den Interessen der Nation nicht den mindesten Zusammenhang haben, um so notwendiger ist die Zustimmung der Hasenheide zu einem Kriege, es sei denn, dass die herrschenden Klassen um Kopf und Kragen spielen wollen.

Hand in Hand mit der Drohung polizeilichen Einschreitens geht das moralische Gekrebse mit dem Fahneneid, der für alle, die ihn geleistet haben, eine Fessel sein soll, die ihr eigenes Urteil erwürgt über Krieg und Frieden. Das ist freilich altpreußische Methode. Als ein Jesuitenpater in der Beichte zu einem Soldaten gesagt hatte oder gesagt haben sollte, dass der Bruch des Fahneneids zwar eine schwere Sünde, aber doch keine Sünde sei, die niemals vergeben werden könne, ließ ihn der alte Fritz am Spionengalgen aufhängen. So kurzen Prozess zu machen geht jedoch nicht mehr an. Heutzutage weiß jeder, dass dies Pochen auf den Fahneneid eben auch nur ein Produkt nervöser Ängstlichkeit ist. Für die ungeheure Mehrzahl derer, die ihn leisten, ist der Fahneneid ein erzwungener Eid, und erzwungene Eide haben überhaupt keine moralisch bindende Kraft. Die wirkliche Bedeutung des Fahneneids haben die Junker ja in den Tagen nach Jena reichlich kennen gelernt, und ihre erlauchtesten Häupter gingen mit dem Beispiel voran, ihn nicht einmal für eines Pfifferlings Wert einzuschätzen.

Alles in allem ist die wachsende Einsicht der herrschenden Klasse, dass es ohne die Zustimmung der Hasenheide nun einmal nicht mehr geht, die gute Seite an dem unerbaulichen Feldzuge der deutschen Diplomatie. Je entschlossener die europäischen Arbeiterparteien sind, keinen Krieg zu dulden, und je unzweideutiger sie diesen Entschluss bekunden, umso mehr ist allen weltpolitischen Abenteuern Tor und Tür verrammelt. Und daran wird nichts geändert werden durch polizeiliche Kindereien noch durch moralische Quacksalbereien.

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