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Franz Mehring 19111125 Freie Hand

Franz Mehring: Freie Hand

25. November 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 305-308. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 558-561]

In den Verhandlungen der Budgetkommission über das Marokko-Abkommen hat die auswärtige Politik der Bethmann Hollweg und Kiderlen-Wächter, trotz aller entgegengesetzten Versicherungen dienstwilliger Offiziöser, nichts weniger als glorreich abgeschnitten. Namentlich ist es nicht gelungen, den „Panthersprung" irgendwie als eine notwendige oder nützliche Aktion zu rechtfertigen; vielmehr hat, wie sich immer klarer herausstellt, diese „Geste" den ersten Anstoß dazu gegeben, dass im vergangenen Sommer ein verheerender Weltkrieg mehr als einmal dicht vor der Schwelle gestanden hat. In anderer Beziehung hat Herr v. Kiderlen-Wächter sein Konto von einigen Beschuldigungen zu entlasten gewusst, mit denen es beladen worden war. Namentlich scheint er sich nicht, wie von beachtenswerter Seite behauptet wurde, formaler Unhöflichkeiten gegen das Auswärtige Amt in London schuldig gemacht zu haben. Freilich muss man darüber erst die andere Seite hören, wie denn überhaupt ein abschließendes Urteil über die Affäre erst möglich ist, wenn auch die englische Regierung gesprochen haben wird, was übermorgen geschehen soll. Aber man braucht das, was die Bethmann und Kiderlen zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen haben, deshalb nicht von vornherein auf die leichte Achsel zu nehmen. Man würde den alldeutschen Kriegshetzern nur Wasser auf ihre Mühle liefern, wenn man die auswärtige Politik Englands, die von jeher eine hart gesottene Geschäftspolitik gewesen ist, in milderem Lichte erblicken oder darstellen wollte, als die geschichtliche Erfahrung gestattet. Und das wäre noch nicht einmal das schlimmste. Allein unser ganzer prinzipieller Standpunkt würde verletzt werden, wenn wir aus noch so berechtigter Abneigung gegen die Reaktionswirtschaft, unter der wir leiden, ihrer auswärtigen Politik mehr aufbürdeten, als sie verdient.

Sie ist seit langen Jahren tölpelhafter betrieben worden als die auswärtige Politik Englands oder Frankreichs, was sich daraus erklärt, dass die deutsche Diplomatie sich aus der rückständigen Junkerklasse rekrutiert und an deren kurzsichtige Interessen gebunden ist. Jedoch die Methoden, nach denen sie betrieben wird, sind in anderen Ländern nicht besser als hierzulande, und wenn die auswärtige Politik Englands und Frankreichs geschickter gehandhabt werden mag als die auswärtige Politik Deutschlands, so ist sie deshalb in London und Paris nicht etwa edel- und großmütiger oder gar mehr auf die Interessen der arbeitenden Klassen bedacht als in Berlin. In ihrem Hader mit auswärtigen Mächten sind wir schon deshalb zu strenger Unparteilichkeit gegen die deutsche Diplomatie verpflichtet, weil es nicht im Interesse des internationalen Proletariats liegt, dass sie als die allein Schuldige an der Kriegsgefahr des vorigen Sommers erscheint; der Kampf gegen die imperialistische Politik würde nur erschwert werden, wenn als alleinige Schuld einer einzelnen Regierung erschiene, was tatsächlich die Schuld aller Regierungen oder noch genauer die Schuld eines verderblichen Systems ist.

Was heute mit so tiefem Eindruck die große Masse der Nation gepackt hat, dass selbst die Agitation für die Reichstagswahlen darüber in den Hintergrund tritt, ist eine Stimmung, wie sie den Reiter der Ballade überkam, als er unwissend über das Eis des Bodensees getrabt war, ein tödlicher Schrecken über den grauenhaften Zustand, dass eine winzige Zahl von Leuten, deren Einsicht und deren guter Wille völlig unkontrollierbar ist, darüber entscheiden darf, ob Europa durch einen Weltkrieg verwüstet werden soll oder nicht. Niemals ist dieser unerträgliche Zustand so grell und krass hervorgetreten wie gegenwärtig, und niemals ist die Empörung darüber bis tief in bürgerliche Kreise gleich lebhaft und tief gewesen. Je notwendiger es ist, dies Feuer zu schüren, um so notwendiger ist es auch, immer die prinzipielle Seite der Sache hervorzukehren und sorgsam bedacht zu sein, dass nirgends die verkehrte Meinung entstehen kann, als läge die Sache irgendwie anders, wenn Bethmann Hollweg und Kiderlen-Wächter ebenso pfiffige Kartenspieler wären, wie sie es zweifellos nicht sind. Diese diplomatische Durchstecherei ist gleich verwerflich, ob nun Bismarck die Emser Depesche fälscht oder Kiderlen den „Panther" nach Agadir schickt.

Man darf auch kein übermäßiges Gewicht darauf legen, dass Deutschtand mit seinem persönlichen Regiment übler daran ist als Staaten mit parlamentarischen Regierungen. Auf dem Gebiete der auswärtigen Politik macht das zwar auch einen Unterschied, aber keinen so sehr großen. Wenn je in einem Punkte, so haben die deutschen Verteidiger des persönlichen Regiments nicht so ganz unrecht mit der Behauptung, dass die auswärtige Politik auch in parlamentarisch regierten Staaten über die Köpfe des Parlaments gemacht werde. So wie heute die auswärtige Politik aller Staaten ist, eine Raub- oder Schacherpolitik, mit dem Ziel, andere Staaten übers Ohr zu hauen zum Besten des eigenen Staates, kann sie nicht durch eine Versammlung von mehreren hundert Köpfen kontrolliert werden. Ein Parlament kann wohl die auswärtige Politik in großen Zügen vorzeichnen, aber es kann die Befolgung seines Willens nicht kontrollieren; es kann sich nicht dagegen schützen, dass in der Ausführung die Zwecke vertauscht werden. Ein Kabinett, das die Interessen der Dynastie und der herrschenden Klassen gegenüber dem Ausland vertritt, kann sich von einem Parlament nicht in die Karten sehen lassen, mit denen es das Ausland bemogelt oder zu bemogeln versucht, schon um des Gegensatzes willen nicht, der zwischen den Interessen der Dynastie und der herrschenden Klassen auf der einen, den Interessen der Arbeiterklasse auf der anderen Seite besteht.

In sehr drastischer Weise hat Lothar Bucher vor sechzig Jahren die Art und Weise geschildert, wie sich selbst das englische Unterhaus auf dem Gebiete der auswärtigen Politik über den Löffel barbieren lässt. Er schreibt: „Der Minister des Auswärtigen knüpft im tiefsten Geheimnis Verhandlungen an, erteilt Instruktionen an Gesandte und Admirale, zeichnet Punktationen. Nach einiger Zeit wird vom Ausland her etwas ruchbar; jemand verlangt Auskunft, interpelliert. Der Minister enthält die Auskunft vor. Wie er das macht, hängt von seinem Temperament, seiner Geschicklichkeit ab. Der eine verweigert rundweg die Antwort ,aus hohem Pflichtgefühl', ,im Bewusstsein seiner Verantwortlichkeit', ,im Interesse des Dienstes'! ,Die Sache schwebt', der diplomatische Hexenkessel kocht, die Massen sind in Fluss, das Gold ist beinahe fertig; ein vorzeitiges Wort, ein profaner Blick – und alles wäre verdorben, der Stein der Weisen würde zur Kohle. Hohes Haus bebt im abergläubischen Schauder zurück und ergibt sich in seine Unwissenheit. Lord Palmerston erreicht denselben Zweck auf eine andere, lustigere Weise. Er springt mit einer Behendigkeit auf, als habe er die Interpellation gar nicht erwarten können. Er ist äußerst glücklich, ja dankbar, dass sein ehrenwerter Freund – wenn er denselben so nennen darf – die Sache vor das Haus gebracht, dem alle Diener Ihrer Majestät verantwortlich, dem nichts zu groß und nichts zu klein, dessen Weisheit die Geschicke Englands leitet! Und er sagt entweder eine faktische Unrichtigkeit oder einen sorgfältig erwogenen Doppelsinn oder eine Abgeschmacktheit oder eine Insolenz. Wir haben nicht alle Reden Palmerstons nachgelesen, aber sehr viele, und wir haben keine Antwort gefunden, die nicht in eine der vier Kategorien gehörte." Soweit Bucher, der ein scharfer Beobachter war und die diplomatischen Gaunereien aus dem Grunde kannte, aber in seiner bürgerlichen Hilflosigkeit sich keinen besseren Rat wusste, als das willenlose Werkzeug eines Diplomaten zu werden, der noch ungleich geriebener und gerissener war als Palmerston.

Für die Arbeiterklasse gibt es diese Hilflosigkeit nicht mehr. Sie hat ein probates Mittel, die Kriegs- und Friedensfrage den Händen der Diplomatie zu entreißen, indem sie diese Frage in ihre eigenen Hände nimmt. Das diplomatische Spiel, über dessen unglaubliche Einfältigkeit selbst Bismarck sich manches Mal verächtlich genug ausgelassen hat, wird nur dadurch zum furchtbaren Ernst, dass die Massen mit ihrem Gut und Blut die diplomatischen Anweisungen honorieren. Sobald sie sich dessen weigern, fallen die diplomatischen Kartenhäuser zusammen. Soweit sind wir leider noch nicht, aber wir sind auf dem besten Wege, an dieses Ziel zu gelangen. Wenn im vorigen Sommer die Wetterwolken des Krieges sich zwar zusammenballten, aber am Ende doch nicht entluden, so gebührt ein wesentlicher Teil des Verdienstes daran den Friedenskundgebungen des internationalen Proletariats, und wenn heute nicht nur die Grey vor dem englischen Parlament, sondern auch die Kiderlen vor dem Reichstag sich in ganz anderer Weise verantworten müssen, als es in den Tagen Palmerstons und auch noch Bismarcks diplomatische Sitte war, so ist auch das dem Entschluss der Arbeiterklasse zu danken, sich ihr eigenes Urteil über Krieg oder Frieden vorzubehalten.

Ein alter Poet hat gesagt: Wenn sich die Könige zanken, so bekommen die Völker die Prügel. Aber wenn die Völker erklären, dass sie sich nicht mehr prügeln lassen wollen, so werden die Könige bald ein Haar darin finden, sich zu zanken. Gewiss kann die Friedenspolitik der Arbeiterklasse noch nicht unter allen Umständen einen Weltkrieg verhindern, allein sie kann dafür sorgen, dass ein solcher Krieg zum Verderben aller derer ausschlägt, die ihn angezettelt haben. Diese Politik kann durchaus nur eine Politik der freien Hand sein. Sie braucht sich aus angeblich nationalen Gründen nicht für die Bethmann und Kiderlen zu begeistern, aber sie braucht auch nicht aus Abscheu vor diesen Junkern für die Grey und Lloyd George zu schwärmen. Sie braucht nicht zu sagen, was sie beim Ausbruch eines Weltkriegs tun, aber sie braucht auch nicht zu sagen, was sie in diesem Fall unterlassen wird.

Worauf es einstweilen nun ankommt, ist dies: In allen großen und kleinen Diplomaten der politischen Welt die Empfindung zu erwecken und stetig wach zu halten, dass von nun an der Knüppel beim Hunde liegt. Das können sie schon kapieren, so gering nach Bismarcks und Buchers Behauptung im allgemeinen ihr Grips sein mag, und sobald sie es kapiert haben, ist der Friede so lange und so weit gesichert, als es in dem kapitalistischen Zeitalter nur immer möglich sein mag.

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