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Franz Mehring 19111216 Noch lange nicht genug!

Franz Mehring: Noch lange nicht genug!

16. Dezember 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 401-404. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 562-566]

Die Taktik der Regierung in der gegenwärtigen Wahlbewegung unterscheidet sich auffallend von ihrer Taktik bei den Reichstagswahlen von 1907.

Während damals Fürst Bülow die „Paarung zwischen Karpfen und Kaninchen" als eine neue Heilsära des Vaterlandes verkündigte, Herr Dernburg aus seiner Kiste getrockneter Datteln einen tropischen Urwald emporsprießen ließ und das offiziöse Hauptorgan feierlich erklärte, es sei eine tendenziöse Lüge, dass die Regierung umfangreiche Steuervorlagen plane, lassen die Bethmann Hollweg und Genossen die Zügel vollständig am Boden schleifen. Höchstens wiederholt die Regierungspresse, was Herr Wermuth schon im Reichstag auszuführen bemüht gewesen ist, dass nämlich die so genannte „Finanzreform" die Reichsfinanzen wirklich „saniert" habe, was erstens niemand glaubt, zumal der Herr Wermuth selbst noch „einen kräftigen Ruck" angekündigt hat, und was zweitens der ausgeplünderten Masse, die der angeblich vermiedene Reichsbankrott keineswegs über den eigenen Bankrott beruhigt, ein sehr magerer Trost ist.

Nicht genug aber mit dieser Indolenz der Reichsregierung, hält wenigstens die Regierung eines Einzelstaats die Wahlen für den geeigneten Zeitpunkt, ihre Bereitwilligkeit zu neuen Ausnahmegesetzen gegen die Arbeiterklasse zu verkünden. Die königlich-sächsische Regierung macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube; sie will dem Koalitionsrecht an den Kragen, und es ist natürlich nur ein Spiel mit Worten, wenn sie ihre mörderischen Absichten nicht in Gestalt eines Sondergesetzes, sondern auf dem Boden des bestehenden Rechtes, durch Abänderung der Gewerbeordnung und des Strafgesetzbuchs, verwirklichen will. Das ist eine formale Unterscheidung, an der sich freisinnige Denker erlustieren mögen, wie denn der freisinnige Sprecher im sächsischen Landtag sofort auf den Köder angebissen hat; der tatsächlichen Wirkung nach lassen sich Ausnahmegesetze auch auf dem Boden des gemeinen Rechtes basteln, namentlich in einem Lande mit so hoch entwickelter Klassenjustiz, wie Deutschland ist. In einer Wahlbewegung aber Ausnahmegesetze gegen die Arbeiterklasse anzukündigen widerspricht aller bisherigen Praxis der deutschen Regierungen, abgesehen von dem Ausnahmefall, dass sich die Wahlen selbst, wie im Jahre 1878, um die Frage eines Ausnahmegesetzes bewegen. Den Dresdener Staatsmännern zuzutrauen, dass sie sozusagen in naiver Dummheit, ohne zu wissen, was sie tun, just im „roten Königreich" Öl ins Feuer schütten, würden wir geradezu für ein Verbrechen halten.

Auch der schwarzblaue Block geht mit seiner Wahlagitation keineswegs so ins Zeug, wie man es sonst von ihm gewohnt ist. Seine Kerntruppe, der Bund der Landwirte, veröffentlicht einen recht nichts sagenden Wahlaufruf, der sich mit abgedroschenen Redensarten, die längst keinen Hund mehr vom Ofen locken, gegen die Sozialdemokratie wendet, und sein Organ, die „Deutsche Tageszeitung", stolpert gleich kläglich einher. Wir haben den Knuten-Oertel nie für ein Genie gehalten, aber soviel Grips haben wir ihm allerdings bisher zugetraut, dass er nicht mit den gefälschten Reichsverbandszitaten arbeiten würde, mit denen er jetzt tagtäglich herumhausiert. Er sollte doch wissen und weiß auch recht gut, dass die Sozialdemokratie, wenn sie mit dem Zitatensack erschlagen werden könnte, den schon der selige Puttkamer mit so staatsmännischer Gebärde schwenkte, längst tot und begraben sein würde.

Sucht man sich nun diese und ähnliche Erscheinungen zu erklären, so scheint die Antwort auf flacher Hand zu liegen: Die herrschende Reaktion gibt ein Spiel auf, das für sie ein für allemal verloren ist. Die Erbitterung der Massen über die Wirtschaft des Schnapsblocks ist so groß, dass sie sich durch keine noch so hochtönenden Versprechungen für die Zukunft mehr beschwichtigen lässt. Das ist soweit auch ganz richtig gedacht. Aber diese Erwägung würde die Ritter und die Heiligen nicht hindern, sich mit Nägeln und Zähnen an die Macht zu klammern, die noch in ihren Händen ist. Wenn sie mit scheinbarer Gleichgültigkeit ihrer drohenden Niederlage entgegengehen, so denken sie eben weiter und rechnen damit, dass ihnen gerade ihre Niederlage ein Schlachtfeld schaffen wird, auf dem sie den Kampf mit größerer Aussicht auf Erfolg aufnehmen können als gegenwärtig. Mit anderen Worten: Sie wollen die „rote Flut" so anschwellen lassen, dass den biederen Bürgersmann doch wieder ein Grauen überkommt und ihn zum willenlosen Opfer jedes reaktionären Streiches macht; was sie mit einigen Milliarden Reichsverbandszitaten nicht ergattern können, das hoffen sie mit einigen Millionen sozialdemokratischer Stimmen zu erreichen.

Dieser offenkundigen Taktik der Regierung und der reaktionären Parteien gegenüber könnte es fraglich erscheinen, wie die sozialdemokratische Wahltaktik einzurichten sei. Oder vielmehr: Es ist gar nicht fraglich, wenn wir auf die freisinnigen Staatsmänner hören wollen, die bekanntlich alle politische Weisheit mit Löffeln gegessen haben. Die sagen uns: Nicht zu sehr siegen!, denn sonst kommt ihr in die Teufelsküche. Dieser glorreiche Gedanke ist es sogar, mit dem die freisinnige Wahlagitation hauptsächlich hantiert, indem sie sagt, wer sozialdemokratisch wähle, arbeite der Reaktion in die Hände, da ein großer Sieg des Proletariats nur allerlei reaktionäre Hand- und Staatsstreiche fördern würde. Wer also den friedlichen und gesetzmäßigen Fortschritt wolle, der müsse die freisinnigen Biedermänner wählen, die reaktionäre Gewaltstreiche in äußerst wirksamer Weise dadurch abzuwehren wissen, dass sie sich der Reaktion freiwillig zu allen Handlangerdiensten erbieten.

Auf solchen Wegen kann und wird sich aber die deutsche Arbeiterklasse niemals ertappen lassen. Für sie kann die hinterhältige Wahltaktik der reaktionären Parteien und der von ihnen abhängigen Regierung nur ein Anstoß mehr sein, den letzten Hauch von Kraft an diese Wahlbewegung zu setzen. So unsinnig es ist, mutwillig Ausnahmegesetze zu provozieren – schon weil sich jedes Ausnahmegesetz gegen seinen tatsächlichen Urheber kehrt –, so unsinnig würde es sein, aus Angst vor Ausnahmegesetzen auch nur um Haaresbreite von dem Wege der politischen Pflicht abzuweichen. Würde die moderne Arbeiterschaft nichts weiter erstreben, als was der bäuerlichen Klasse auf den mittelalterlichen Landtagen beschieden war: die Stellung einer geborenen Minderheit, die hier und da einige Kleinigkeiten durchsetzen, aber nie die Hand auf den Hebel der Regierung legen konnte, so hätte es noch einigen Sinn zu sagen: Ihr habt jetzt so ungefähr, was ihr wollt, und nun setzt nicht das Gewonnene aufs Spiel, indem ihr nach mehr verlangt. Aber dieses Mehr ist gerade das, was die Arbeiterschaft will, und sie würde sich selbst aufgeben, wenn sie sich durch die Drohung mit Gewalt zwingen ließe, ihr historisches Erbe um ein Linsengericht zu verkaufen.

Eine je größere Stimmenzahl die Sozialdemokratie in diesen Wahlen mustert, um so schwieriger wird es für die Reaktion, Ausnahmegesetze durchzuführen, und um so zweischneidiger werden diese schoflen Waffen für sie selbst sein. Gewiss, am letzten Ende wird es dazu kommen, denn dass die herrschenden Klassen jemals, sobald das allgemeine Wahlrecht eine sozialdemokratische Mehrheit in den Reichstag schickt, mit höflicher Verbeugung sagen werden: Wohlan, meine Herren Arbeiter, Sie haben gewonnen, und nun richten Sie sich, bitte, nach Ihrem Belieben ein – daran glaubt natürlich kein Mensch, der noch über seine fünf Sinne gebietet. Über kurz oder lang werden die besitzenden Klassen ein verwegenes Spiel beginnen, und für diesen Fall gerüstet zu sein ist ebenso eine Notwendigkeit für die arbeitenden Klassen, wie es eine Torheit von ihnen sein würde, durch ihre Abrüstung die Lage der Gegner zu erleichtern. Es kann nur zu ihrem Vorteil ausschlagen, wenn sie immer zahlreichere Streitkräfte um ihr Banner sammeln, auch dann, und dann erst recht, wenn sie dadurch den historischen Gang der Dinge beschleunigen.

Lassalle pflegte seinen Anhängern im vertraulichen Gespräch zu sagen: Wenn ich vom allgemeinen Stimmrecht spreche, so müsst ihr darunter immer die Revolution verstehen. Und als ein revolutionäres Werbemittel hat die Partei das allgemeine Stimmrecht stets aufgefasst. Das Anwachsen ihrer Stimmenzahl hat ihr immer in erster Reihe gestanden, im Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien, denen es ja in erster Reihe auf die Eroberung von Mandaten ankommt. Insofern liegt denn auch eine Art Nemesis darin, dass die Sozialdemokratie mit ihrer Ziffer an Mandaten im Verhältnis zur Zahl ihrer Stimmen immer viel schlechter abgeschnitten hat als alle bürgerlichen Parteien. Jedoch deshalb hat sie sich niemals graue Haare wachsen lassen. Sie hat gern die Mandate mitgenommen, die sie bekommen konnte, ohne ihren Prinzipien untreu zu werden, und sie hat diese Mandate eifrig benutzt, um von den herrschenden Klassen herauszuschlagen, was irgend aus ihnen herauszuschlagen war. Aber sie hat sich nie der Illusion hingegeben, dass der entscheidende Kampf auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus geschlagen wird. Diesen Kampf können und werden nur die Massen entscheiden, die sie mit dem allgemeinen Stimmrecht wirbt.

Die defensiv-offensive Taktik, die höchste Form der Kriegführung, ist auch immer die Taktik der Sozialdemokratie gewesen. Sie appelliert von sich aus niemals an die Gewalt, und sie provoziert nicht mutwillig Ausnahmegesetze, allein wenn ihr Gewalt angetan oder wenn sie durch Ausnahmegesetze geknebelt werden soll, so widersetzt sie sich und geht nur umso rücksichtsloser zum siegreichen Angriff vor. Unter diesen Umständen hat sie die Drohung mit Ausnahmegesetzen nicht zu fürchten, die, wenn damit wirklich Ernst gemacht werden sollte, den Weg zu ihrem Endziel nur abkürzen würden. Die Beseitigung des schwarzblauen Blocks wäre ein entschiedener Vorteil für die Arbeiterklasse, aber eine Förderung der revolutionären Entwicklung wäre sie noch lange nicht, zumal da jede andere bürgerliche Parteikonstellation an den Heeres- und Flottenausgaben, an den indirekten Steuern und Lebensmittelzöllen usw. festhalten würde. Aber wie anders, wenn ein frivoles Attentat auf das bisschen Koalitionsrecht, das die deutschen Arbeiter noch besitzen, neue Scharen auf Scharen in die kampfbereite Phalanx des Proletariats führen würde.

In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte sich die bürgerliche Demokratie den Wahlspruch erkoren: Nondum, das heißt auf Deutsch: Noch nicht; selbst der alte Ziegler hat eine seiner Novellen so getauft. Sie wollte nicht „drängeln", sondern in patriotischer Ergebenheit abwarten, bis ihr die gebratenen Tauben in den Mund flögen. Da aber kam Bismarck und trieb sie zu Paaren, indem er nach dem altmärkischen Wahlspruch seiner Familie handelte: Noch lange nicht genug! Mit dieser hausbackenen Weisheit hat es der Mann immerhin zu etwas in der Welt gebracht.

Wenn auch in nichts anderem, so dürfen wir ihn uns darin schon zum Muster nehmen. Wir können den Wahlkampf nur in dem Sinne führen, dass wir noch lange nicht genug Stimmen haben, wenn wir selbst die Stimmenzahl erreichen, auf die die Reaktionäre ihre heimtückischen Hoffnungen setzen.

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