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Franz Mehring 19110601 Positivitis

Franz Mehring: Positivitis

1. Juni 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 313-316. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 541-544]

Der Reichstag ist gestern auf vier Monate vertagt worden, nachdem er die elende Reichsversicherungsordnung noch unter Dach und Fach gebracht hat. Alle bürgerlichen Parteien sind an diesem traurigen Machwerk beteiligt, und auf sie alle fällt die Verantwortung dafür, auch auf die Fortschrittliche Volkspartei, von deren 48 Mitgliedern nur 10 mit Nein gestimmt haben, 24 aber mit Ja, während 14 bei der Abstimmung durch ihre Abwesenheit glänzten. Unter den Jasagern befand sich Herr Naumann, der ehedem die Sozialdemokratie in der Führung der Arbeitermassen ablösen wollte und jetzt für ein Gesetz gestimmt hat, das, wie ein Blatt seiner eigenen Partei sagt, von „skandalösen, antisozialen, volksfeindlichen Bestimmungen" wimmelt oder, wie ein anderes Blatt derselben Partei ausführt, die „agrarische Scham- und Gewissenlosigkeit ohne jedes Feigenblatt" enthüllt.

Die tapfere Sprache dieser freisinnigen Blätter entspringt nun freilich in erster Reihe wahlagitatorischen Rücksichten; eines von ihnen fragt, wie solle man „diese Attentate auf die Volksgesundheit", „diese Eingriffe in die Selbstverwaltung noch brandmarken", wenn man die Antwort erwarten müsse: „Ganz schön, aber 24 Abgeordnete der Fortschrittlichen Volkspartei haben ja auch für das Gesetz gestimmt?" Die „Deutsche Tageszeitung" bekennt in ihrer Art, dass diese Sorge ganz begreiflich sei, denn jeder Unbefangene werde aus der Tatsache, dass gerade die Hälfte der Fortschrittlichen Volkspartei die Schleppe der Junker getragen habe, nur den Beweis entnehmen, dass es sich bei der Agitation gegen die Reichsversicherungsordnung um „plumpe und frivole Agitationsmätzchen" handle.

Sicherlich wird die Abstimmung der Naumann und Konsorten in diesem Sinne ausgebeutet werden, und sie können nicht einmal für sich geltend machen, dass sie in heldenhafter Pflichterfüllung das Wohl des Vaterlandes über das Wohl der Partei gestellt haben. Für solche pompöse Redensarten ist die Spottgeburt der Reichsversicherungsordnung wirklich nicht geschaffen. Der umgekehrte Fall ist viel wahrscheinlicher, wie auch eines der räsonierenden Freisinnsblätter andeutet, dass die umgefallenen Unentwegten nicht „von sachlichen Motiven" geleitet gewesen sind, dass sie nach Lage der Parteiverhältnisse in ihren Wahlkreisen durch die Zustimmung zur Reichsversicherungsordnung ihre persönlichen Wahlchancen zu verbessern geglaubt, also ihre eigenen Interessen über die Interessen der Partei gestellt haben. Indessen lassen wir diese Frage gern auf sich beruhen und nehmen nur an, dass die Naumänner von der „Positivitis" befallen sind, einem neu aufgekommenen Worte, dessen abschreckende Hässlichkeit mindestens den Vorzug hat, getreu die abschreckende Hässlichkeit der Sache widerzuspiegeln, die mit ihm gekennzeichnet werden soll.

Der deutsche Philister scheut, eben weil er ein tatloses Subjekt ist, nichts sosehr wie den Vorwurf, tatlos zu sein. Der Vorwurf, nur „negieren" zu können, regt ihn wie kein anderer auf; er steht immer mit aufgekrempten Hemdsärmeln da, um „positiv" mitzuarbeiten, und da er selbst unfähig ist zu denken oder zu handeln, so macht ihn nichts glückseliger, als wenn ihm seine so genannten Grundsätze erlauben, im Schatten der hohen Obrigkeit „praktisch zu arbeiten", selbst wenn seine „Grundsätze" dabei mehr oder weniger oder auch ganz zum Teufel gehen. Mit dieser Eigenheit des deutschen Philisters hat die Reaktion von jeher trefflich zu krebsen verstanden; an dem Narrenseil der „Positivitis" hat sie ihn immer wieder in den Sumpf gezogen, selbst Männer wie Johann Jacoby, der im „Krönungsgassenjubel" des Jahres 1859 bedenklich an der „Positivitis" krankte, geschweige denn die Naumänner von heute.

Den Kunstgriff, den sie dabei benutzte, hatte freilich schon Fichte durchschaut, indem er schrieb: „Wo der eigentliche Streitpunkt zwischen uns liegt, das kann ich euch wohl mitteilen. Ihr wollt es freilich nicht ganz mit der Vernunft, aber auch nicht ganz mit eurem wohltätigen Freunde, dem Schlendrian, verderben. Ihr bleibt dabei, unsere philosophischen Grundsätze ließen sich einmal nicht ins Leben führen; unsere Theorien seien freilich unwiderleglich, aber sie seien nicht ausführbar. Das meint ihr denn doch wohl nur unter der Bedingung, wenn alles so bleiben soll, wie es jetzt ist. Aber wer sagt denn, dass es so bleiben solle? Wer hat euch denn zu eurem Ausbessern und Stümpern, zu eurem Aufflicken einiger Stücke auf den alten zerlumpten Mantel, zu eurem Waschen, ohne einem die Haut nass zu machen, gedungen? Wer hat denn geleugnet, dass die Maschine dadurch völlig ins Stocken geraten, dass die Risse sich vergrößern, dass der Mohr wohl ein Mohr bleiben werde? Sollen wir den Esel tragen, wenn ihr Schnitzer gemacht habt? Aber ihr wollt, dass alles beim Alten bleibe; daher euer Widerstand, daher euer Geschrei über die Unausführbarkeit unserer Grundsätze. Nun, so seid wenigstens ehrlich und sagt nicht weiter: wir können eure Grundsätze nicht ausführen, sondern sagt gerade wie ihr's meint: wir wollen sie nicht ausführen."

Dieser Aufforderung Fichtes nachzukommen, hat sich die Reaktion aber wohlweislich gehütet; sie vertraute vielmehr auf die „Positivitis" des deutschen Spießbürgers, und dies Vertrauen hat sich ihr bisher auch immer reichlich gelohnt. Sie sagt nie: wir wollen nicht, sondern immer nur: wir können nicht; wer daran zu zweifeln wagt ergibt sich „öder Negation" und „unfruchtbaren Illusionen"; er legt die müßigen Hände in den Schoß, wo es doch gilt, eifrig mitzuarbeiten an dem Wohle des Vaterlandes. Auf diesen faulen Zauber hat der deutsche Philister immer wieder angebissen; statt mit Fichte zu sagen, dass unwiderlegliche Theorien auch praktisch ausführbar sind, ist er allemal selig gewesen, den Esel zu tragen, wenn die Regierungen Schnitzer machten, und „praktisch" mitzuarbeiten beim Ausbessern und Stümpern, wie jetzt bei der Reichsversicherungsordnung.

Lassen wir den „Zukunftsstaat" beiseite, der unsertwegen allen Philistern ein unüberwindliches Grauen einflößen mag. Aber dass sich eine Reichsversicherungsordnung machen lässt, die der Arbeiterklasse, soweit ihr auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung überhaupt zu helfen ist, wirklich nützt, dass hier also das tatsächliche Hindernis nicht an dem Nichtkönnen, sondern nur an dem Nlchtwollen der Regierung und der reaktionären Parteien liegt, das bestreiten ja auch die Naumänner nicht, und sie können es unmöglich bestreiten. Hat ja doch selbst Herr Mugdan einen feierlichen Eid geleistet, fortan seine ganze Heldenkraft daranzusetzen, um das Unheil wieder auszurotten, das durch diese Reichsversicherungsordnung, für die er selbst gestimmt hat, in die Welt gesetzt werden wird. Dies ist überhaupt die Art der „Positivitis", dass ihre ehrwürdigen Bekenner, um „positiv" mitzuarbeiten, den Kranken das Gift einflößen, mit dem ernsten und männlichen Bekenntnis, es ihnen durch „öde und blöde Negation" wieder auszutreiben.

Jedenfalls aber – die Möglichkeit, eine Reichsversicherungsordnung zu schaffen, die auch den arbeitenden Klassen willkommen gewesen wäre, wurde nur deshalb nicht zur Wirklichkeit, weil die Regierung und die reaktionären Parteien nicht wollten. Solchen bösen Willen bricht man nun nicht, indem man ihm nachgibt und ihn gar noch dadurch vertuschen hilft, dass man neue Stücke auf den alten zerlumpten Mantel aufflickt, sondern indem man ihm die letzte Hülle abreißt und ihn dem Gericht des Volkes denunziert. Wer anders handelt, verrät die nationalen Interessen, und wenn er es nicht aus eigensüchtigen Interessen, sondern aus „Positivitis" getan haben sollte, so ist das durchaus kein Entschuldigungs- oder auch nur Milderungsgrund. Denn nach allen Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts verrät die „Positivitis" eine Schwachköpfigkeit, die nicht die letzte aller politischen Todsünden ist.

Die deutsche Arbeiterklasse ist von dieser Seuche immer frei geblieben. Nicht als ob sie die „positive Mitarbeit", soweit das Wort überhaupt einen vernünftigen Sinn hat, jemals abgelehnt hätte; sie hat eben noch in der elsass-lothringischen Verfassungsfrage1 bewiesen, dass es ihr nicht einfällt, einen historischen Fortschritt deshalb abzulehnen, weil er auf ihrem Wege vielleicht nur eine kleine Etappe vorwärts bedeutet. Allein, was ihr immer fern gelegen hat, was ihr immer fremd geblieben ist, das ist die Torheit, sich mit der Peitsche eines abgeschmackten Schlagwortes ins reaktionäre Geschirr treiben zu lassen. Gerade das Gebiet der Arbeiterversicherungsgesetzgebung bietet ja mehr als ein Beispiel dafür, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten nie auch nur einen Augenblick das Vertrauen ihrer Wähler verloren haben, weil sie sich durch das Geschwätz über die „Unausführbarkeit ihrer Theorien" niemals verblüffen ließen, sondern alle reaktionären Stümpereien ablehnten, selbst auf die Gefahr oder auch gerade auf die Gefahr hin, dass die reaktionäre Maschine dadurch völlig ins Stocken geraten könne.

Für die Aussichten der proletarischen Wahlagitation ist es deshalb völlig gleichgültig, ob die volle Hälfte der Fortschrittlichen Volkspartei für die Reichsversicherungsordnung gestimmt hat. Dagegen ist es begreiflich, dass der Knuten-Oertel seine helle Freude an der „positiven Mitarbeit" so radikaler Sozialpolitiker hat, wie Herr Naumann ist oder sein soll. Schillers Wort von der Dummheit, mit der selbst Götter vergebens kämpfen, erleidet hier eine entschiedene Ausnahme: sei es, weil die ostelbischen Junker mehr als Götter sind, was uns wenig wahrscheinlich dünkt, sei es, weil die „Positivitis", was eher stimmen dürfte, den zu Schillers Zeit bekannten Begriff der Dummheit wesentlich erweitert hat.

1 Gemeint ist die Gewährung der bundesstaatlichen Autonomie für das Reichsland Elsass-Lothringen, der letzte Versuch, der antideutschen Stimmung der Bevölkerung zu begegnen. Mit dem Gesetz vom 26. Mai 1911 erhielt Elsass-Lothringen einen eigenen Landtag und drei Stimmen im Bundestag.

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