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Franz Mehring 19120316 Der Bergarbeiterstreik

Franz Mehring: Der Bergarbeiterstreik

16. März 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 873-876, Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 585-588]

Mitten in die etwas öden Verhandlungen des Reichstags, die in den letzten Wochen vorwiegend das öffentliche Interesse beansprucht und auch gefunden haben, tritt der Bergarbeiterstreik, um ein Dichterwort anzuführen, wie ein ungeheures Schicksal mit Gigantenschritt. Der Kampf der Bergknappen um ein menschenwürdiges Dasein erschüttert die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft wie ein Erdbeben die Grundmauern eines Gebäudes, das mit ragenden Zinnen in die Wolken zu streben scheint.

Vergebens suchen die Feinde der Arbeiterklasse den Streik als eine politische Machenschaft darzustellen, als ein frivoles Attentat auf das, was sie in ihrem ledernen Jargon die „heiligsten Güter" zu nennen belieben. Es ist vielmehr ein elementares Ereignis, so notwendig und unausbleiblich im Hause der ausbeutenden und unterdrückenden Klassengesellschaft, wie ein Gewitter im Haushalt der Natur ist. Die herrschenden Klassen mögen noch so viel Gewalt besitzen, um den Widerstand des Proletariats gegen seine Entmenschung das eine oder das andere Mal zu brechen, aber seine Wiederkehr zu hindern, bis es endlich auf der ganzen Linie siegt, das liegt außerhalb ihrer Macht.

Mit der Heuchelei, die ihnen zur zweiten Natur geworden ist, lärmen sie über die Frivolität der Arbeitseinstellung, deren kräftigste Geburtshelferin ihre eigene Frivolität gewesen ist: Im Ernste wagen sie selbst nicht einmal zu bestreiten, dass die Forderungen der Bergarbeiter, selbst vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft aus, durchaus berechtigt und erfüllbar sind; was sie harthörig gegen diese Forderungen macht, ist der unbelehrbare Herrendünkel, der in dem „freien Arbeiter" immer nur noch den hörigen und willenlosen Knecht erblickt. Sie spielen mit dem Feuer, von dem sie sich einbilden, dass sie es gewaltsam ersticken können, während es wieder und wieder aus den unterirdischen Vulkanen hervorbricht, auf deren trügerischer Decke wie auf einem seligen Grunde sie einherstolzieren zu können glauben.

Den sanften Träumern von der allmählichen Ausgleichung der Klassengegensätze bereitet die Stellung der Herrenkaste zu diesem Bergarbeiterstreik ein etwas unsanftes Erwachen. Bei seinen Vorgängern, selbst noch im Jahre 1905, fand die Sympathie mit den gequälten und zerdrückten Bergknappen in den besitzenden Klassen ein ziemlich lebhaftes Echo. Heute lässt sich dies Echo nur noch leise vernehmen. Es sind namentlich zwei Tatsachen, die den gegenwärtigen Streik von seinen Vorläufern unterscheiden: seine gewissen- und schamlose Ausbeutung durch die schwarzblauen Parteien und die knechtische Unterwürfigkeit, womit die Regierung nach deren Pfeife tanzt. Gewiss sind diese Erscheinungen nicht neu; namentlich die ostelbischen Junker haben von jeher an der perversen Einbildung ihres ehemaligen Helden v. Puttkamer gelitten, wonach hinter jedem Streik die Hydra der Revolution lauern soll. Allein das Zentrum und die Regierung haben das letzte Feigenblatt abgetan, mit dem sie ehedem bei großen Arbeitseinstellungen ihre Blöße zu bedecken suchten.

Das Zentrum hat die christlichen Gewerkvereine, die leider noch in seinem Schlepptau segeln, zu einer Judasrolle in dem Bergarbeiterstreik zu bestimmen gewusst. Obgleich auch diese Gewerkvereine die Forderungen der Bergarbeiter für berechtigt halten, fallen sie dennoch ihren Kameraden in den Rücken, angeblich, weil der Streik eine sozialdemokratische Machenschaft sein soll. Das ist eine Einflüsterung der ultramontanen Kulissenschieber, die einstweilen triumphieren mögen, dass es ihnen gelungen ist, die ihnen noch folgsamen Arbeiter gründlich zu nasführen. Aber sie werden sich ihres Triumphes nicht lange freuen. Noch hat das proletarische Klassenbewusstsein immer über allen solchen Schwindel gesiegt, und wenn sich jetzt schon die Reihen der christlichen Gewerkvereine lichten durch die Flucht der Arbeiter, die der schmählichen Rolle überdrüssig sind, die ihnen das Zentrum zumutet, so wird dieser Prozess der Selbstbesinnung sich um so schneller vollziehen nach dem siegreichen Ende des Kampfes und sogar noch viel schneller, wenn der Kampf an dem Verrat der christlichen Gewerkvereinler scheitern sollte.

Tief beschämend, wie die Haltung des Zentrums, ist die Haltung der Regierung. Der alte Adam Smith hat zwar schon gesagt – und seit seinen Tagen hat es sich wieder und wieder bestätigt –, dass, wenn sich eine Regierung in die Kämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern mische, die Unternehmer immer ihre Ratgeber seien. Jedoch bisher suchte die deutsche Regierung die Stellung des gehorsamen Kommis, die sie gegenüber der Unternehmerklasse einnimmt, wenigstens unter der dürftigen Maske der Heuchelei zu verbergen; höchstens in einem unbewachten Augenblick, wie einst dem Staatssekretär v. Bötticher, entfloh das niederziehende Bekenntnis ihrer Dienstbarkeit dem Gehege ihrer Zähne. Heute aber prunkt sie im Schmucke ihrer Ketten und wirft den abgeschmackten Humbug vom „Sozialen Königtum" zum alten Eisen, wohin er freilich stets gehört hat. Allein auch sie treibt ein ebenso gefährliches und zweischneidiges Spiel wie das Zentrum. Indem sie das Streikgebiet mit Militär überschwemmt, obgleich die Streikenden eine so musterhafte Ordnung und Ruhe beobachten, wie bei einer Bewegung von Hunderttausenden nur immer möglich ist, fordert sie von den Söhnen des Volkes, die zur Verteidigung des Reiches gegen äußere Feinde berufen sind, Schergendienste, die gleich aufrüttelnd wirken, mögen sie nun in eine leere Posse verlaufen oder in ein blutiges Trauerspiel. Das alte Wort, wonach Kanonen die ultima ratio der Könige sind, mag heute noch wahr sein, aber es ist in einem ganz anderen Sinne wahr als in den Tagen der zusammen geprügelten Söldnerheere.

An der ruhigen Besonnenheit und der selbstbewussten Kraft der streikenden Arbeiter wird die Desperadopolitik der Regierung und der schwarzblauen Parteien scheitern, und wir wollen uns die sichere Hoffnung auf diesen Ausgang des Riesenkampfes auch nicht dadurch verleiden lassen, dass die Übeltäter dabei immer noch billiger wegkommen, als sie verdienen.

Zu der Diskussion über das freisinnig-sozialdemokratische Stichwahlabkommen veröffentlicht Genosse Bernstein im „Vorwärts" folgendes Bruchstück aus einem Briefe, den Friedrich Engels im Jahre 1884 an ihn gerichtet hat:

Singer war hier, ich habe ihm unter anderem meine Ansicht wegen der Taktik bei Stichwahlen gesagt. Ich halte es nämlich für Unsinn, dafür eine für alle Fälle gültige Regel aufstellen zu wollen, die ja auch in Wirklichkeit nie eingehalten wird. Wir haben da eine große Macht in der Hand, die total unbenutzt bleibt, wenn Wahlenthaltung in allen Fällen proklamiert wird, wo keiner der unserigen in der Stichwahl ist. In Wirklichkeit haben sich ja auch immer in solchen Fällen Wahlverträge, z. B. mit dem Zentrum (das damals bekanntlich noch oppositionell war – F.M.), von selbst gemacht: wir stimmen da für euch, wenn ihr dort für uns stimmt, und haben uns manchen Sitz verschafft. Dummheiten passieren dabei natürlich, aber die passieren immer, und das ist kein Grund, eine noch größere zu begehen. Ich sagte ihm sogar, dass z. B. in Orten wie Berlin, wo der Wahlkampf ganz zwischen uns und dem Fortschritt liegt, Verträge vor der Hauptwahl nicht ausgeschlossen seien: ihr tretet uns diese Wahlbezirke ab, dafür wir euch jene – natürlich nur, wenn man auch darauf rechnen kann, dass es eingehalten wird. Was mir ungeschickt erscheint, ist nur dies: auf Kongressen und im Voraus allgemein gültige Regeln aufstellen wollen für taktische Fälle, die der Zukunft angehören."1

Es ist nicht abzusehen, was dies Brieffragment zur Aufklärung der augenblicklichen Streitfragen beitragen soll. Im Gegenteil ist es nur geeignet, eine gewisse Verwirrung hervorzurufen.

Zunächst hatte der Kopenhagener Kongress von 1883 nicht absolute Stimmenthaltung bei Stichwahlen zwischen bürgerlichen Kandidaten beschlossen; ein entsprechender Antrag wurde mit 34 gegen 24 Stimmen abgelehnt. Erst auf dem Kongress in St. Gallen wurde, als Folge der verräterischen Taktik, die der Freisinn bei den Faschingswahlen von 1887 beobachtet hatte, der Beschluss gefasst, den Engels kritisiert. Möglich, dass der Brief erst in dieser Zeit geschrieben worden und die Jahreszahl 1884 auf einem Druck- oder Schreibfehler beruht.

Recht behalten hat Engels darin, dass sich der Beschluss absoluter Stimmenthaltung bei Stichwahlen zwischen bürgerlichen Kandidaten nicht aufrechterhalten ließ und dass es somit „Unsinn" wäre, ihn im voraus zu fassen. Unrecht dagegen hat Engels behalten, wenn er es überhaupt für „Unsinn" erklärte, für Stichwahlen eine in allen Fällen gültige Regel aufzustellen. Darauf hat die Partei nie verzichtet, sondern die Unterstützung bürgerlicher Kandidaten stets von gewissen Minimalforderungen abhängig gemacht, wie noch im vorigen Jahre auf dem Parteitag in Jena. Davon wird sie auch in Zukunft schwerlich lassen.

Ebenso ist der Partei der Vorschlag von Engels, vor der Hauptwahl unter Umständen Verträge mit der Fortschrittspartei abzuschließen, immer fremd gewesen, mit Ausnahme der ersten Wahlen nach dem allgemeinen Wahlrecht im Jahre 1867 und etwa noch 1871. Dieser Vorschlag rührt nämlich ursprünglich von Schweitzer her. Nicht als ob es in dessen Zeit zu solchen tatsächlichen Abmachungen mit der Fortschrittspartei gekommen wäre, aber auf Vorschlag Schweitzers beschloss der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, sich zu derartigen Verträgen bereit zu erklären. Seitdem aber hat die Partei unverbrüchlich daran festgehalten, in den Hauptwahlen auf eigenen Füssen zu stehen und sie als große Heerschauen und Übungsfelder, Gradmesser ihrer wachsenden Kraft zu betrachten, und auch davon wird sie schwerlich in Zukunft abgehen.

Die Gedanken also, die Engels in einem flüchtig geschriebenen Briefe hingeworfen hat, sind etwa geeignet, neue Zweifel an der bisherigen sozialdemokratischen Wahltaktik zu erwecken, wo bisher noch gar keine Zweifel laut geworden sind, aber sie sind in keiner Weise geeignet, die Zweifel zu beschwichtigen, die sich tatsächlich an das freisinnig-sozialdemokratische Stichwahlabkommen geknüpft haben.

1 Die Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein. Mit Briefen von Karl Kautsky an eben denselben. Hrsg. von Eduard Bernstein, Berlin 1925, S. 145/146.

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