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Franz Mehring 19120127 Der neue Reichstag

Franz Mehring: Der neue Reichstag

27. Januar 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 625-628. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 567-570]

In seinem berühmten Werke über die Theorie des Krieges spricht Clausewitz häufig von dem „Kulminationspunkt des Sieges". Er versteht darunter die Tatsache, dass im Augenblick eines großen Sieges eine rückläufige Bewegung einzutreten pflegt, zugunsten des Besiegten und zuungunsten des Siegers, eine Tatsache, die durch unzählige Beispiele der Kriegsgeschichte erhärtet wird.

Es würde nun viel zu weit führen, wenn wir hier darlegen wollten, wie Clausewitz diese Erfahrung psychologisch begründet. Aber seine Ausführungen darüber, wie sich der „Kulminationspunkt des Sieges" überwinden lässt, scheinen uns gegenwärtig einiger Beachtung wert zu sein. Er schreibt darüber: „Ist der große Sieg erfochten, so soll von keiner Rast, von keinem Atemholen, von keinem Besinnen, von keinem Feststellen usw. die Rede sein, sondern nur von der Verfolgung, von neuen Stößen, wo sie nötig sind, von der Einnahme der feindlichen Hauptstadt, von dem Angriff der feindlichen Hilfsheere oder was sonst als Stützpunkt des feindlichen Staates erscheint… Solange der Feldherr seinen Gegner noch nicht niedergeworfen hat, solange er glaubt, stark genug zu sein, um das Ziel zu gewinnen, so lange muss er es auch verfolgen. Er tut es vielleicht mit steigender Gefahr, aber auch mit steigender Größe des Erfolges. Kommt ein Punkt, wo er es nicht wagt, weiter zu gehen, wo er glaubt, für seinen Rücken sorgen, sich rechts und links ausbreiten zu müssen – wohlan, so ist dies höchst wahrscheinlich sein Kulminationspunkt. Die Flugkraft ist dann zu Ende, und wenn der Gegner nicht niedergeworfen ist, so wird es höchstwahrscheinlich nicht mehr geschehen." Soweit Clausewitz.

Nach seiner Theorie hat die deutsche Arbeiterklasse bisher ihren Emanzipationskampf geführt und dabei auch glücklich die Schwierigkeiten überwunden, die ihr der „Kulminationspunkt des Sieges" manches Mal geschaffen hat. Aus ihm erklären sich die heftigen Streitigkeiten, die gerade nach großen Wahlerfolgen innerhalb der Partei ausgebrochen sind, so im Jahre 1884, so auch im Jahre 1903. Diese Streitigkeiten drehten sich am letzten Ende um die Frage, ob der Feind rast- und ruhelos niederzukämpfen sei oder ob das kämpfende Heer, um mit Clausewitz zu sprechen, „für seinen Rücken zu sorgen, sich rechts und links auszubreiten" habe. Nur dadurch, dass sich die deutsche Sozialdemokratie immer wieder für die ununterbrochene Niederkämpfung des Feindes entschied, ist sie von Sieg zu Sieg geschritten und hat sie in den Wahlen dieses Jahres den gewaltigsten ihrer bisherigen Siege erfochten.

Aber je gewaltiger dieser Sieg ist, umso gefährlicher droht auch sein „Kulminationspunkt" zu werden, und mehr denn je haben wir den dringendsten Anlass, uns vor allen Illusionen über die Folgen und Wirkungen unseres Sieges zu bewahren. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, den prinzipiellen Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft, das Aufrütteln und Aufwühlen der Massen, um diese Gesellschaft mit Stumpf und Stiel auszurotten, auch nur einen Augenblick zu vernachlässigen um der Herrlichkeiten willen, die uns die liberal-sozialdemokratische Mehrheit des gegenwärtigen Reichstags bescheren dürfte, könnte, möchte, sollte, aber nicht einmal bescheren wird.

Man missverstehe uns nicht dahin, als ob wir die Wahltaktik der Partei tadeln wollten. An dieser Stelle ist schon vor Jahr und Tag, als blinder Eifer jeden Unterschied zwischen den bürgerlichen Parteien leugnete, der Standpunkt vertreten worden, dass die Zertrümmerung des blauschwarzen Blocks allerdings die nächste Aufgabe sei und dass, um dieses Ziel zu erreichen, auch ein Stichwahlabkommen mit den liberalen Parteien nicht zu verwerfen sei. Ob bei diesem Abkommen, wie es nun tatsächlich eingetreten ist, alle Einzelheiten richtig abgewogen worden sind, müssen wir aus Unkenntnis dieser Einzelheiten dahingestellt sein lassen; jedenfalls war es in der Sache selbst richtig gehandelt, dass die liberalen Parteien, wenn sie bereit waren, den Schnapsblock beim Kragen zu packen, die Unterstützung der Sozialdemokratie fanden. Auch um den Preis, dass die Liberalen dadurch eine ausschlaggebende Stellung im Reichstag gewannen, wie sie sie bisher noch niemals gehabt haben. Es lag durchaus im Interesse der Sozialdemokratie, ihnen ein Rhodus zu schaffen, auf dem sie tanzen können. Denn entweder können sie tanzen, und dann muss es uns willkommen sein, wenn sie demokratische Einrichtungen im Reiche schaffen, oder sie können nicht tanzen, und dann krönt der Bankrott des Liberalismus nur den Bankrott des schwarzblauen Blocks, worüber wir auch nicht zu trauern brauchen.

Nun gebietet gewiss die Höflichkeit, zunächst anzunehmen, dass die Liberalen tanzen können werden, aber an diese loyale Einbildung auch nur einen Pfifferling der eigenen Politik zu wenden wäre höchst verkehrt. Es ist ganz richtig, dass, wie ein Wurm, der endlos getreten wird, sich endlich krümmt, so auch der biedere Freisinn sich dazu aufgerafft hat, eine Stichwahlparole gegen den Schnapsblock, wenn auch noch keineswegs für die Sozialdemokratie auszugeben, aber es ist ebenso richtig, dass er gleich am ersten Stichwahltag in nicht weniger als sechzehn Wahlkreisen schmählichen Verrat geübt und damit die Zertrümmerung des reaktionären Blocks überhaupt zu einer ganz illusorischen Sache gemacht hat. Es handelt sich nunmehr um einen Unterschied von wenigen Stimmen, die sich die Schwarzblauen jederzeit mit leichter Mühe aus den Nationalliberalen rekrutieren können.

Es sind jetzt bald fünfzig Jahre, bei den ersten Wahlen auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes, als die Sozialdemokratische Partei beschloss: Die Nationalliberalen bekämpfen wir wie die Junker, denn sie sind um kein Haarbreit besser. Damals gehörten zur Nationalliberalen Partei immerhin noch Leute wie Bamberger und Lasker, die so etwas wie ein liberales Gewissen hatten; heute, wo die „Fraktion Drehscheibe" Hunderte und aber Hunderte Male die liberalen Grundsätze geschändet hat, kann man nicht Häuser bauen auf die Verlegenheitsphrase des auf sozialdemokratischen Krücken in den Reichstag zurückhumpelnden Herrn Bassermann, dass Deutschland in liberalem und sozialem Sinne regiert werden müsse. Es wäre sicherlich ein herrliches Wunder, wenn die Nationalliberalen den modernen Verfassungsstaat herstellen wollten, den sie seit bald einem halben Jahrhundert wieder und wieder preisgegeben haben, aber um an dies Wunder zu glauben, muss man es doch erst leibhaftig vor sich sehen, und dazu ist einstweilen verzweifelt wenig Aussicht.

Auch die Fortschrittliche Volkspartei versagt von vornherein in entscheidenden Fragen des Verfassungsstaats, so in Militär- und Marinefragen, und in sozialreformatorischen Fragen ist ihr fast weniger noch als irgendeiner anderen bürgerlichen Partei über den Weg zu trauen. Dabei geht jetzt schon, wo sie endlich, weniger aus besserer Einsicht als weil ihr das Feuer auf den Nägeln brannte, einen halben und schüchternen Schritt getan hat, sich von dem üblen Erbteil Eugen Richters zu befreien, das Geschmuse über ihre „kühne" und „mannhafte" Haltung in einer Weise los, die jedem Menschen von Geschmack übel machen kann. Besonders groß darin ist das „Berliner Tageblatt", das sich nicht schämt, über die sozialdemokratischen Prinzipien den albernen Schmatz loszulassen: „Die für die Massenbataillone bestimmten Phrasen über den Kapitalismus klingen ja sehr menschenfresserisch, haben wohl aber nur einen dekorativen Wert. Es sind die alten deklamatorischen Effekte, die geschmacklos sind, aber anscheinend nicht entbehrt werden können." Und dabei muss sich dies würdige Organ immer rechts und links von der reaktionären Presse ohrfeigen lassen, und zwar sehr verdientermaßen, wegen des verlogenen Kultus, den es mit dem Könige Friedrich treibt.

Indessen wollen wir trotz aller bedrohlichen Anzeichen einstweilen annehmen, dass die Fortschrittliche Volkspartei doch noch einmal ihre Lenden gürten wird; tut sie es nicht, so werden die „Menschenfresser" schon pünktlich über sie kommen. Hier lässt sich mit gemütlichen Hoffnungen keine Politik treiben, und wir haben vorläufig durchaus keinen Anlass zu irgendwelchen Illusionen über den neuen Reichstag. Der schwarzblaue Block hat zwar schwere Verluste erlitten, aber für die Regierung ist der neue Reichstag unter gewissen Gesichtspunkten sogar dem alten vorzuziehen. Gelingt es Herrn v. Bethmann Hollweg, die Nationalliberalen zu ködern – und zu dieser Leistung reicht sein bescheidener Genius allemal aus –, so hat er nunmehr viel freieren Spielraum als unter dem harten Joche des schwarzblauen Blocks. Es wäre töricht, sich über eine so einfache und klare Tatsache zu täuschen, selbst dann noch töricht, wenn der sozialdemokratische Wahlsieg dadurch verkleinert werden sollte.

Tatsächlich wird er dadurch aber in keiner Weise verkleinert. Was wir auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus erreichen können, das haben wir erreicht: die Niederlage der gefährlichsten Gegner und ihren Ersatz durch die liberalen Parteien, die unseren Weg bahnen müssen, sei es, indem sie das Reich wirklich demokratisieren, sei es, indem sie sich unfähig dazu erweisen und dadurch sich selbst aus unserem Wege räumen. Mehr können wir auf parlamentarischem Boden nicht erreichen, denn die letzte Entscheidung liegt hier nicht.

Wo aber diese Entscheidung liegt, da haben wir einen überwältigenden Erfolg davongetragen, der durch keine noch so verschmitzte Kombination der bürgerlichen Reichstagsfraktionen wettgemacht werden kann. Der Gewinn einer neuen Million an Reichstagswählern weist den einzigen Weg zum Siege der Arbeiterklasse; die Mobilisierung der Massen ist die einzige Waffe, der auf die Dauer keine Macht der Erde widerstehen kann. Diese revolutionäre Taktik gestattet aber kein Atemholen, und wenn der Feind nicht neue Kraft zum Widerstand gewinnen soll, so lässt sie nicht zu, dass die wirkliche Lage der Dinge durch die Illusionen des bürgerlichen Parlamentarismus verschleiert wird.

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