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Franz Mehring 19120323 Der Schrecken ohne Ende

Franz Mehring: Der Schrecken ohne Ende

23. März 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 921-924. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 589-592]

Judas Ischariot!" riefen die sozialdemokratischen Mitglieder des Dreiklassenparlaments dem Führer der christlichen Bergarbeiter zu, der mit dreister Stirn und ödem Geschwätz den Verrat zu beschönigen suchte, den die von ihm mitgeleitete Organisation an den um ein menschenwürdiges Dasein ringenden Knappen verübt hat. Aber der Judas quittierte mit vergnügtem Grinsen über die verdiente Züchtigung, und er ist einstweilen als Sieger auf dem Plan geblieben.

Einstweilen, denn man braucht noch lange nicht in die tiefe historische Erkenntnis zu graben, um in der Niederlage der streikenden Bergarbeiter den Vorboten künftiger Siege zu sehen. Wie diesmal die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die vor vierzig Jahren gegründet wurden, um die Streiks auszurotten, Schulter an Schulter mit ihren Kameraden gekämpft haben, so wird auch die Masse der Arbeiter, die sich heute noch vom Zentrum betören lassen, dahin gelangen, wohin sie Ehre und Pflicht rufen. Nur dass diese Entwicklung sich ungleich schneller vollziehen wird als bei den Gewerkvereinen, die einst von den fortschrittlichen Kapitalisten gegründet wurden, um die Arbeiterbewegung zu spalten. Der augenblickliche Sieg der Judasse wird sich für sie noch verhängnisvoller erweisen, als wenn ihr Verrat misslungen wäre, denn er ruft in weit stärkerem Masse das Gefühl der Reue und Scham in den Arbeitern hervor, die sich einstweilen haben betören lassen.

Ebenso geringen Anlass zum Triumphieren wie die „christlichen" Führer haben die herrschenden Klassen und hat vor allem die Regierung, die mit Ross und Reisigen gegen eine durchaus friedliche und gesetzliche Bewegung ins Feld gezogen ist. Die Desperadopolitik der Heydebrand und Konsorten ist an der besonnenen Ruhe der streikenden Arbeiter gescheitert, und die bewaffnete Macht muss ruhmlos abziehen wie die Katze von einem wohlverwahrten Taubenschlag. Man wird immer wieder an das alte triviale, aber niemals täuschende Wort erinnert, dass die Götter den mit Blindheit schlagen, den sie verderben wollen. Eine günstigere Gelegenheit, den Ausfall der Reichstagswahlen einigermaßen abzuschwächen, ließ sich nicht leicht denken; wären die bescheidenen Forderungen der Bergarbeiter, die auf die Dauer doch befriedigt werden müssen, in loyaler Weise bewilligt worden, hätten die Bergherren, die Regierung und die herrschenden Klassen überhaupt eine halbwegs loyale Haltung zu dem Streik im Ruhrbezirk eingenommen, so hätten sie nur ihrem eigenen Interesse gedient. Aber es ist stets das sicherste Zeichen für den unaufhaltsamen Niedergang herrschender Klassen gewesen, ihre eigenen Interessen nicht mehr zu verstehen und noch mit dem Feuer zu spielen, das ihnen schon die Finger verbrennt. Sie werden ihres Sieges nicht froh werden, wenn neue Heersäulen streitbarer Männer aus den Drachenzähnen erwachsen, die sie in den letzten Wochen gesät haben.

Einstweilen fühlen sie sich noch sicher, und mit den neuen Wehrvorlagen, deren Inhalt von der offiziösen Presse endlich veröffentlicht wird, treiben sie es so toll wie je. Eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke um nahezu 30 000 Mann, dazu eine Vermehrung der Flotte um ein drittes aktives Geschwader und endlich Mehrkosten für Heer und Marine im jährlichen Betrag von voraussichtlich 125 Millionen Mark – das ist in der Tat eine nette Bescherung, von der man annehmen sollte, dass sie selbst den bürgerlichen Parteien einiges Grausen einflößen würde. Allein davon ist nichts zu spüren. Die bürgerliche Presse, einschließlich der fortschrittlichen Blätter, findet die Sache ganz in der Ordnung; sie hat sich mit dem Rüstungswahnsinn vollkommen abgefunden. Wohin sind die Zeiten, als der deutsche Liberalismus noch einen jahrelangen Krieg führte um die paar Millionen jährlicher Mehrausgaben, die die Heeresreorganisation Roons beanspruchte, oder auch selbst nur die Zeiten, wo Bismarck immerhin noch den ersten seiner Plebiszitschwindel inszenieren musste, um den Nationalliberalen das Gelüste nach jährlicher Bewilligung der Friedenspräsenzstärke auszutreiben!

Damals – im Jahre 1874 – haben selbst Nationalliberale, wie Forckenbeck und Miquel, offen ausgesprochen, ein Parlament, das sich gegenüber Militärforderungen der Regierung des eigenen und selbständigen Willens begebe, sei nichts als ein Schattenspiel an der Wand. Das ist ja auch so einfach und klar wie das Einmaleins. Ein Heer, das nicht einmal auf die Verfassung vereidigt wird und auf Befehl des „obersten Kriegsherrn" nicht vor dem Eltern- und Geschwistermord zurückschrecken soll, ist ein Machtmittel des Absolutismus und das furchtbarste Machtmittel, das überhaupt absolutistischen Zwecken dienen kann; stärkt die Volksvertretung dies Machtmittel, sobald eine solche Stärkung von der Regierung verlangt wird, so verurteilt sie sich dadurch selbst zur völligen Bedeutungslosigkeit. Zu solchem moralischen und politischen Selbstmord sind aber nahezu drei Viertel des gegenwärtigen Reichstags bereit. Man muss diese Tatsache scharf ins Auge fassen, auch auf die Gefahr hin, deshalb anarchistisch-syndikalistischer Neigungen verdächtigt zu werden. Nichts könnte eine Arbeiterpartei moralisch und politisch mehr kompromittieren, als wenn sie ein Wrack, das hilflos vor dem Winde treibt, für ein Kriegsschiff halten würde, mit dem sich eine neue Welt erobern ließe.

Nun sucht der Liberalismus seinen schmählichen Umfall in Sachen des Rüstungswahnsinns dadurch zu verhüllen, dass er in der „Deckungsfrage" der Himmel weiß welche Heldentaten zu verrichten verheißt. Hierbei hat er aber schon von vornherein eine ungünstige Position, denn wenn er die neuen Rüstungen im Interesse des Vaterlandes, um das Reich vor auswärtigen Feinden zu schützen, für notwendig erklärt, so antwortet ihm der Militarismus in seiner robusten Logik: Sind die Rüstungen notwendig, so müssen auch die Mittel dazu aufgebracht werden, so oder so. Und da haben sich bisher noch immer hundert Wege gefunden, diese unbequeme Schlussfolgerung wenigstens so weit zu umgehen, dass die neue Steuerlast an den arbeitenden Klassen hängen blieb.

Vorläufig freilich wagt selbst die Regierung mit dieser Absicht noch nicht offen hervorzutreten. Aber immerhin sucht sie die Dinge so zu schieben, dass sie auf die schiefe Ebene geraten. Am nächsten lag der Gedanke, den Plan der Erbschaftssteuer wieder aufzunehmen, aber das verbot der blauschwarze Block dem Reichskanzler, der auch diesmal gehorchte und selbst den Reichsschatzsekretär in schroffer Weise ausschiffte, weil dieser Herr auf der Erbschaftssteuer bestand. Die Konferenz der einzelstaatlichen Minister, die kürzlich die Deckungsfrage beriet, hat sich dann dahin entschieden, die Branntweinliebesgabe zu opfern, womit die Mehrkosten für Heer und Flotte aber nur zum vierten oder fünften Teil gedeckt sein würden. Wie der weit überwiegende Rest aufgebracht werden soll, bleibt vorläufig im Dunkeln, worin für die besitzenden Klassen gut munkeln ist. Ob die Fortschrittliche Volkspartei, die noch bei der berühmten „Finanzreform" die Ansicht vertrat, dass, wenn von neuen Steuern ein Fünftel auf die besitzenden Klassen fällt, vier Fünftel von den arbeitenden Klassen getragen werden müssen, inzwischen zu verständigeren Ansichten gelangt, wird ja abzuwarten sein; will sie wirklich zeigen, dass sie ein wenig zu lernen und zu vergessen weiß, so muss sie natürlich mit äußerster Energie dafür eintreten, dass auch nicht ein Pfennig neuer Steuern auf das Proletariat fällt.

Aber die „Deckungsfrage", so wichtig sie insofern ist, als die erdrückenden Lasten, die auf den arbeitenden Klassen ruhen, nicht noch vermehrt werden dürfen, tritt doch verhältnismäßig in den Hintergrund gegenüber der Tatsache, dass die Steigerung der Rüstungen von allen bürgerlichen Parteien gefördert wird. Schon deshalb, weil – selbst wenn die arbeitenden Klassen diesmal ungerupft davonkommen – der unersättliche Moloch über Jahr und Tag mit neuen Forderungen kommen wird, deren Kosten dann doch den Massen aufgehalst werden. So gänzlich die Hoffnung aufgegeben werden muss, dass sich die deutsche Bourgeoisie je noch einmal zu einem energischen Widerstand gegen die Forderungen des Militarismus aufraffe, so naiv wäre die Erwartung, dass sie je dauernd diese Forderungen aus eigener Tasche befriedigen werde.

Hüten wir uns also, die „Deckungsfrage" allzu einseitig zu betrachten: Sie ist wichtig, aber nicht entscheidend. Die Opposition gegen den Wahnsinn der Rüstungen ist der Punkt, wo sich das Korn von der Spreu sondert. In dem Masse, wie der Reichstag hier nachgegeben hat, ist er ohnmächtiger und ohnmächtiger geworden, und ehe er sich nicht endlich aufrafft, um dem Militarismus und Marinismus ein Quos ego! zuzurufen, wird er immer nur die Karikatur eines bürgerlichen Parlaments bleiben. Dieser Satz ist um so mehr zu betonen, als er zwar vor zwanzig Jahren noch das A und O jedes nationalliberalen Politikers war, aber heute an manchem Orte vergessen zu sein scheint. Was man von jeder liberalen Partei, die sich selbst und ihre Prinzipien achtet, beanspruchen darf, ist nicht ein weitläufiges Gerede über die „Deckungsfrage", sondern ein klares und kurzes Nein gegenüber den neuen Wehrvorlagen.

Über diese Vorlagen äußert ein englisches Blatt mit grimmigem Hohne: Wenn denn schon einmal die Verrücktheit des Wettrüstens andauern solle, so müsse man ihr ein schnelleres Tempo wünschen, um zu sehen, welche der beiden Nationen am ehesten ausgepumpt sein würde. Diese Meinung ist so uneben nicht, wenn es anders richtig sein soll, dass ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen sei. Es bleibt nur die eine Hoffnung, dass die arbeitenden Klassen hüben und drüben mächtig genug werden, um dem Schrecken doch ein Ende zu setzen, und sie werden diese Macht um so eher gewinnen, je rücksichtsloser sie sich von Moloch und Molochs Freunden scheiden und je schroffer sie ihre eigenen Prinzipien vertreten.

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