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Franz Mehring 19130918 Die Massenstreikdebatte

Franz Mehring: Die Massenstreikdebatte

18. September 1913

[gezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 217, 18. September 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 597-599]

Die Debatte über den Massenstreik, die den diesjährigen Parteitag eröffnete, war kein besonders glücklicher Auftakt seiner Verhandlungen. Soweit bisher schon Pressstimmen aus der Partei vorliegen, sind sie darüber im Allgemeinen einig, wie im Besonderen auch darüber, dass der Berichterstatter des Parteivorstandes die erste und größte Schuld an der Zerfaserung und Zerfahrenheit der Debatte trug.

Genosse Scheidemann behandelte eine Frage, die die Massen der Partei aufs tiefste bewegt und die wichtigsten Zukunftsprobleme in ihrem Schoße birgt, als eine Bagatellinjurienklage, die von etwelchen Krakeelern gegen den Parteivorstand angestrengt worden sei. Sein einleitender Vortrag erinnerte an einen Scherz des alten Ziegler, den dieser also zu erzählen pflegte:

Ein Regierungsrat, ein braver, ehrenwerter Mann, traf mich 1848 und rief mir zu: „Gott, was sagen Sie dazu, wir haben wirklich eine Revolution!" „Es scheint so", erwiderte ich. „Ja", fuhr er fort, „wenn man nur wüsste, was das Volk eigentlich will, es hat ja gar keinen Grund dazu; denn, wenn ich auch zugeben will, dass wir mitunter einige Reste gehabt haben, so sind sie doch immer aufgearbeitet, wenn die Resterzettel vorgetragen wurden."

Diese Weisheit des „braven, ehrenwerten Mannes" ins Pathetische und Pompöse oder, wie das „Berliner Tageblatt" in scheuer Bewunderung sagt, ins „Zornbebende" übertragen – das war der sachliche Inhalt des Vorstandsberichts, durch den Genosse Scheidemann sehnsüchtige Erinnerungen vergangener Tage erweckte.

Damit soll jedoch nicht bestritten werden, dass dem Parteivorstand manch ungerechter Vorwurf gemacht sein mag, seitdem in den Parteimassen der Gedanke lebendig geworden ist, dass sich die Parteipolitik nicht ganz in dem richtigen Geleise bewege. Es ist nun einmal Menschenart, in solchen Fällen die Schuld lieber bei andern zu suchen als bei sich selbst. Wenn jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, so hat auch jede Partei den Parteivorstand, den sie nach Lage der Dinge haben muss, so dass alle Vorwürfe, die dem Parteivorstande gemacht werden, im letzten Grunde auf die Partei selbst zurückfallen. Und insofern mögen dem Parteivorstande ungerechte Vorwürfe gemacht worden sein.

Aber hier liegt doch wirklich nicht der Schwerpunkt des Streites. Es ist ja gewiss bedauerlich, wenn der Parteivorstand mehr tragen soll, als er zu tragen verpflichtet ist, jedoch ganz so wichtig ist dieser Umstand doch wohl nicht, wie Genosse Scheidemann meint. Engels sagte einmal, gerade auch im Hinblick auf den Parteivorstand: „Die Deutschen können sich noch immer nicht daran gewöhnen, dass jemand in Amt und Würden nicht Anspruch auf zarteres Anfassen hat als andre Leute."1 Und die „andern Leute" haben, wenn die Sache einmal auf diesen kleinlichen Gesichtspunkt herabgezerrt werden soll, schließlich auch einen Anspruch darauf, „zart angefasst" zu werden. Es ist doch ein rechtes Gerede in den Tag hinein, wenn Genosse Scheidemann die Genossin Luxemburg eine Schulmeisterin nennt, die der Partei in der Hauptsache nur Schwierigkeiten bereitet habe. Wer so mit Steinen wirft, braucht nicht gleich vor Zorn zu beben, wenn einmal ein paar Scheiben in seinem Glashause klirren.

Genug, nachdem die Debatte von vornherein durch den Genossen Scheidemann in ein falsches Geleise geschoben worden war, konnte sie sich nicht so frei entfalten, wie im Interesse der Sache zu wünschen gewesen wäre. Sicherlich war die geringere Klarheit und Wucht der Argumente nicht auf Seiten derer, denen die farblose und im Grunde nichts sagende Resolution des Parteivorstandes nicht genügte. Wenn diese schließlich angenommen worden ist, nachdem eine bestimmter und schärfer gefasste Resolution gegen eine Zweidrittelmehrheit abgelehnt worden war, so ist damit nicht mehr und nicht weniger erreicht, als dass die Sache auf dem alten Flecke bleibt. Es wird sich jetzt praktisch zeigen müssen, ob die neue Bewegung der Massen wirkliches Feuer oder aber nur Strohfeuer ist; mit der Resolution als solcher ist nichts entschieden.

Trotz unserer kritischen Stellung zu den Ausführungen des Genossen Scheidemann verkennen wir nicht, dass sie auch Wahrheiten enthalten: Wahrheiten, die nicht gerade in frischer Jugendblüte prangen, aber doch mit den ehrwürdigen Reizen von Methusalems Alter geschmückt sind. Er hat durchaus Recht, zu sagen, dass sich die Massen nicht durch Reden und Zeitungsartikel auf die Beine bringen ließen, sondern nur durch Dinge, die ihnen an die Nieren gingen. Ganz unsere Ansicht! Wir glauben nur beobachtet zu haben, dass den Parteimassen alles, was sie seit den letzten Reichstagswahlen erlebt haben, an die Nieren gegangen ist: der immer neue Verrat der traurigen Helden, um derentwillen der freudige Schwung der Stichwahlen „gedämpft" wurde, die ungeheuerliche Wehrvorlage, die frechen Drohungen der Scharfmacher, der „lückenlose Zolltarif", der am Horizonte droht, das Widerstreben der Besitzenden und die Ohnmacht der arbeitenden Klassen, aus dem Reichstage mehr zu machen als ein Messer ohne Klinge und Griff usw. usw. Alles das genügt am Ende auch wohl, den deutschen Arbeitern an die Nieren zu gehen, und deshalb – nicht jedoch wegen einiger Reden und Zeitungsartikel – scheinen uns die Massen der Partei auf den Beinen zu sein.

Die Aufgabe der Reden und Zeitungsartikel ist unter so bewandten Umständen nur, eine ebenso nützliche wie notwendige Bewegung nicht zu bremsen oder zu dämpfen oder zu kühlen, sondern sie zu schüren und sie über sich selbst aufzuklären, an der Hand der Prinzipien, auf denen die Zukunft der Partei beruht wie auf ehernen Säulen. Dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist vor allem eine oberste Pflicht der Parteipresse, und sie muss ihr gerecht werden, unbekümmert darum, ob sie dabei die „Instanzen" hinter sich hat oder nicht.

1 Siehe die Briefe von Friedrich Engels an Karl Kautsky vom 11. Februar 1891 und an Friedrich Albert Sorge vom 11. Februar 1891. In: Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms. Neu durchgesehene und vermehrte Ausgabe, Berlin 1946, S. 54 u. 55.

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