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Franz Mehring 19131227 Neujahr

Franz Mehring: Neujahr

27. Dezember 1913

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 1, 27. Dezember 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 600-602]

Es war vor 100 Jahren, in der Neujahrsnacht, die aus dem Jahre 1813 in das Jahr 1814 hinüberleitete. Da stiegen bei Caub a. Rhein 200 Mann preußischer Landwehr in einige Kähne, um über den Strom zu setzen. Und ein jubelndes Hurra tönte durch die tiefe Stille der Nacht, als sie, aus den Kähnen springend, das linke Rheinufer begrüßten.

Die kühne Tat geschah wider den Willen der weisen Feldherren, die im Hauptquartier der verbündeten Heere das große Wort führten. Diese klugen Männer fürchteten die ununterbrochene Reihe der Festungen, die die französische Ostgrenze umgürtete; deshalb leiteten sie die Masse ihrer Streitkräfte auf einem langen Umweg durch Baden und die Schweiz in das südöstliche Frankreich, bis auf die Hochebene von Langres, deren Besitz die wunderbare Fähigkeit haben sollte, ganz Frankreich zu beherrschen. Den preußischen Landwehren unter Blücher war nur die bescheidene Aufgabe zugefallen, in der Reserve zu bleiben.

Aber Blücher und seine Landwehren zerrissen das fein gesponnene Gewebe. Sie waren keine gelehrten Strategen und ließen sich an dem einfachen Feldzugsplan genügen: Dort steht der Feind, den schlagen wir. Sie überschritten eigenmächtig den Rhein, marschierten mitten durch die französischen Festungen und rissen das ängstliche, zögernde, vor lauter Überklugheit hin und her taumelnde Hauptheer mit sich fort, bis sie, immer gleich tapfer und unverzagt, als die ersten die feindliche Hauptstadt erstürmten. Sie wahrten das stolze Gesetz der Initiative, das im Krieg immer den Sieg verbürgt; mit dem sichern Instinkt unterdrückter Massen ließen sie die Neunmalweisen schwatzen und rangen den Feind nieder, wie er allein niedergerungen werden konnte: Brust an Brust und Stirn an Stirn.

Diese geschichtliche Erinnerung – wie sollte sie heute nicht in uns wach werden, die wir auch am rechten Ufer des Rheins stehen gegenüber einem Gürtel von Festungen, mit denen der Feind im vergangenen Jahre seine Grenze stärker getürmt hat als je zuvor. Sollen wir auch unsere Heere von hintenherum auf irgendeine unfindbare Hochebene schicken, von der nur pedantische Phantasten – die gefährlichste Sorte aller Kriegsstifter – sich einbilden können, dass sie das Feindesland beherrsche? Oder sollen wir, wie die preußischen Landwehren vor 100 Jahren, kühn über den Strom setzen, mitten ins Lager des Feindes, wo er allein bis auf den Tod getroffen werden kann?

Wir rühmen uns unserer Erfolge, und wahrlich – wir wären die entarteten Nachkommen glorreicher Vorfahren, wenn wir je des Blutes und des Schweißes vergäßen, womit diese Erfolge errungen worden sind. Aber ebenso wenig würden wir im Sinne unserer Vorläufer handeln, wenn wir uns darüber täuschten, dass wir zwar viel erreicht haben, aber dass noch viel mehr erreicht werden muss, wenn wir unsere großen Ziele erreichen wollen. Das vergangene Jahr hat uns darüber mehr als eine bittere Lehre erteilt. Wir haben eine beispiellose Verstärkung des Militarismus nicht hindern können, der frecher denn je seinen grinsenden Totenkopf erhebt, und aller nationalen Interessen darf eine Regierung spotten, die nichts hinter sich hat als den wechselnden Willen eines einzelnen, fehlbaren Mannes.

Die Schuld daran trägt die Feigheit der bürgerlichen Parteien, gewiss. Aber was haben wir mit alten Weibern zu tun, die auf weiten Umwegen einen Feind umschreiten, der es doch wahrlich nicht an aufpeitschenden Herausforderungen fehlen lässt. Die triviale Weisheit, dass sich mit Reden keine Massenbewegung erwecken lasse, trifft nirgends so zu wie auf parlamentarische Reden. Es sind jetzt gerade 50 Jahre her, seit jeden neuen Morgen ganz Deutschland vor Entzücken aufschrie über die siegreichen Redeschlachten, die die bürgerliche Opposition dem braven Bismarck lieferte. Aber dann kam der Tag, wo die Kanonen von Königgrätz1 donnerten, und die ganze parlamentarische Herrlichkeit war versunken wie ein Spuk der Nacht beim ersten Hahnenschrei.

Ja, die Kanonen! „Was tun? Sie haben Kanonen", jammerte ein hohenzollernscher Kurfürst, als ihm der schwedische Eroberer auf den Leib rückte. „Was tun? Er hat Kanonen", so jammern die bürgerlichen Freiheitshelden, wenn sie den Moloch des Militarismus am Barte zupfen sollen. Jedoch diese klägliche Vorsicht kann nimmermehr die Sache der Arbeiterklasse sein. Sie weiß, dass es keine Kanonen geben würde, wenn sie die Kanonen nicht gösse; sie weiß, dass die raffinierte Mordkultur unserer Feinde die große Industrie zur Voraussetzung hat, und sie weiß, dass die große Industrie das Werk ihrer Hände ist. Sie weiß endlich – und wenn sie es noch nicht weiß, so muss es ihr Tag für Tag gesagt werden –, dass jede Klasse da unüberwindlich ist, wo ihre Arbeit unentbehrlich ist für das Leben der Gesellschaft.

Auch der proletarische Klassenkampf hat seine eigentümliche Dialektik. Jeder Schritt vorwärts, der in mühsamen Kämpfen errungen werden muss, spornt zu neuen Kämpfen an, aber er mahnt auch, den schwer errungenen Besitz nicht zu gefährden. So kann gerade der Sieg zum Hemmnis neuer Siege werden. Und doch wäre die Hoffnung, dass sich die Arbeiterklasse auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft je ein erträgliches Los bereiten könne, eine verhängnisvolle Einbildung. Sie mag für einzelne Schichten des Proletariats zutreffen, aber auch für sie nur um den Preis, dass seine Masse umso schwerer unter dem sozialen Elend zu Grabe keucht. Kein furchtbarerer Zeuge für diese furchtbare Wahrheit als die Arbeitslosigkeit, die eben die Reihen der Arbeiterklasse verheert und ihr mit eherner Gewalt das Dichterwort einprägt, dass ihr das Leben nur gewonnen werden kann, indem sie immer wieder von neuem ihr Leben einsetzt.

Eine Gesellschaft, die Hunderttausende umkommen lässt, um Tausende zu bereichern, ist faul bis ins innerste Mark. Sie kann nicht geheilt, sie muss zertrümmert werden. Und die Bahn des Sieges wird umso schneller durchlaufen werden, je bewusster sich die Massen des Proletariats der einfachen Prinzipien ihres Emanzipationskampfes werden. Von dem jungen Jahre, das heute dem Schoss der Zeiten entsteigt, hoffen und wünschen wir nichts Besseres, als dass es für die Arbeiterklasse alle Nebel zerstreue, die noch über den unversieglichen Quellen ihrer Kraft schweben mögen.

gez.: F. M.

1 Bei Königgrätz – in der Nähe des Dorfes Sadowa – wurde am 3. Juli 1866 die entscheidende Schlacht des Preußisch-Österreichischen Krieges geschlagen. Sie endete mit einer vollständigen Niederlage der österreichischen Armee.

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