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Franz Mehring 19141200 [An die Redaktion des „Labour Leader", London]

Franz Mehring: [An die Redaktion des „Labour Leader", London]

Dezember 1914

[Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1958, S. 77. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 654]

Werte Genossen!

Für ein Mitglied der deutschen Sozialdemokratie ist es eine schwere Aufgabe, im gegenwärtigen Augenblick über die Solidarität des internationalen Proletariats zu schreiben. Es hieße heucheln, wenn man bestreiten wollte, dass die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion dieser Solidarität zwar nicht die einzige, aber doch die erste und die tiefste Wunde geschlagen hat, und man kommt darüber nicht hinweg mit der törichten Rede, dass die Internationale kein wirksames Werkzeug im Kriege, sondern im wesentlichen ein Friedensinstrument sei.1 Das heißt sagen: An einem Schwert ist das Wesentliche nicht die Klinge, sondern der Griff.

Aber das ungünstige Licht, worin die deutsche Sozialdemokratie den Schwesterparteien des Auslandes erscheint; täuscht dennoch. Was sich heute in ihr abspielt, hat sein Vorbild in dem ersten Jahre des Sozialistengesetzes, wo die Führer auch kopflos wurden, aber die Massen sich alsbald sammelten unter der Parole: Mit den Führern, wenn diese wollen, ohne die Führer, wenn sie untätig bleiben, trotz den Führern, wenn sie widerstreben. Schon gärt es mächtig in allen großen Parteizentren Deutschlands : in Berlin, Hamburg, Leipzig, Stuttgart, und der Tag ist nicht mehr fern, wo der Frieden und die Rückkehr zu den unerschütterlichen Grundsätzen der Internationale von der deutschen Arbeiterklasse gefordert werden wird mit der ungestümen Kraft eines Willens, den die Kämpfe eines halben Jahrhunderts gestählt haben.

Berlin-Steglitz, im Dezember 1914 Franz Mehring

1 Mehring spielt auf Kautskys Artikel „Die Internationalität und der Krieg" an; s. „Die Neue Zeit", 33. Jg. 1914/15, Erster Band, S. 248 ff.

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