Franz Mehring‎ > ‎1914‎ > ‎

Franz Mehring 19140122 Das Zeitalter der Skandale

Franz Mehring: Das Zeitalter der Skandale

22. Januar 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 10, 22. Januar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 608-610]

Wir leben in einer Zeit der gesellschaftlichen Skandale. Einer jagt den anderen, und kaum hat einer aufgehört, mit seinen trüben Fluten die Spalten der Zeitungen zu überschwemmen, als schon ein neuer Skandal noch trübere Fluten heranwälzt.

An sich sind solche gesellschaftlichen Skandale gewiss keine neue Erscheinung der Geschichte, aber in doppelter Beziehung unterscheiden sich die heutigen Skandale von ihren Vorläufern: Sie haben an Menge ebenso zugenommen, wie sie an Wirkung abgenommen haben. Man erinnere sich an den Halsbandprozess der Königin Marie Antoinette, der in den bürgerlichen Geschichtsbüchern über die große französische Revolution als ein Haupthebel dieser gewaltigen Umwälzung gekennzeichnet zu werden pflegt, oder man denke an die Ermordung der Herzogin Choiseul-Praslin durch ihren Gatten, die den Sturz des Bürgerkönigtums in Paris und die Revolution des Jahres 1848 einleitete.

Man braucht nun wirklich nur einige Jahre oder Jahrzehnte in der deutschen Geschichte zurückzublicken, und man wird sie bis zum Bersten mit Skandalen gefüllt finden, die in ihrer Gesamtheit das Dutzend- oder Hundertfache von dem bedeuten, was ehedem nach der überlieferten Geschichtsschreibung genügt haben würde, nicht nur eine Monarchie in die Luft zu sprengen, sondern sogar eine gesellschaftliche Umwälzung herbeizuführen. Nun kann und wird aber niemand behaupten, dass diese Massenproduktion an Skandalen je auch nur einem armseligen Ministerium ein Haar gekrümmt, geschweige denn die kapitalistische Gesellschaft irgendwie erschüttert hat.

Die Schönfärber der kapitalistischen Gesellschaft suchen diese widerspruchsvolle Erscheinung dadurch zu erklären, dass sie sagen, in früheren Zeitaltern seien ebenso viele oder noch mehr Skandale vorgekommen; der Unterschied bestünde nur darin, dass heute, bei der unendlich erweiterten Öffentlichkeit, jeder Skandal sofort an die große Glocke gehängt würde und auf das unendlich verfeinerte Rechtsgefühl der Massen einen viel tieferen Eindruck mache. Wie es nun aber immer sonst um diesen Einwand stehen mag, so verfehlt er jedenfalls gerade den Punkt, auf den es ankommt. Wenn der Halsbandprozess, trotz des damals stumpferen Rechtsgefühls der Massen, gleichwohl eine starke revolutionäre Wirkung hatte, so ist es ja um so unbegreiflicher, dass die ungeheure Anzahl von Skandalen, die seit einem Menschenalter in Deutschland zu verzeichnen gewesen ist, auf das ungleich feinere Rechtsgefühl der Nation durchaus nicht aufreizend gewirkt hat.

Die tatsächliche Lösung des Rätsels liegt ganz woanders. Die gesellschaftlichen Skandale entspringen aus dem Privateigentum, von dem sie unzertrennlich sind und unzertrennlich bleiben werden. Solange diese Erkenntnis noch nicht durchgedrungen war, solange man hoffte, durch Reformen auf dem Boden des Privateigentums einen Zustand allgemeiner Glückseligkeit herzustellen, solange man die Skandale nicht als Produkte des Privateigentums an sich, sondern nur einer besonderen Form des Privateigentums betrachtete, solange übten sie auf die beherrschten Klassen einen aufrüttelnden und auf die herrschenden Klassen einen entnervenden Einfluss aus.

Jedoch je mehr sich herausstellte, dass die gesellschaftlichen Skandale nichts anderes sind als Konflikte, die sich auf dem Boden des Privateigentums erzeugen und unerschöpflich neu erzeugen müssen, gleichviel welches seine Form sei, je mehr hörte ihre revolutionäre Wirkung auf. Die beherrschten Klassen begannen zu begreifen, dass man die Wirkung nicht beseitigen könne, ehe man die Ursache nicht zerstört habe, und die herrschenden Klassen begannen einzusehen, dass Skandale in den Kauf genommen werden müssen, wenn man nicht auf das Privateigentum verzichten wolle, woran sie natürlich nicht denken.

Gewiss, könnten sie die Skandale abschaffen, ohne sich selbst abzuschaffen, so täten sie es mehr als gerne, geradeso wie sie die Soldatenmisshandlungen abschaffen würden, wenn sie es nur könnten, ohne das Heer aus einem Werkzeug der Klassenherrschaft zu einem wirklichen und nicht bloß eingebildeten „Volk in Waffen" zu machen. Aber da es nun einmal ohne Skandale nicht geht, so muss es mit Skandalen gehen, und selbst die Organe der bürgerlichen Presse, die sich als erhabene Tugendrichter über die wachsenden Skandale der kapitalistischen Gesellschaft aufspielen und sogar den letzten Schleier von ihnen reißen, um sich interessant zu machen, schlagen in eine viel echtere sittliche Entrüstung über die Skandalsucht der Sozialdemokratie um, sobald sie vor die entscheidende Frage gestellt werden.

So wie der Vorwurf der Skandalsucht gemeint ist, trifft er natürlich die Agitation der Partei nicht. Es ist die Pflicht wie das Recht namentlich der Arbeiterpresse, die kapitalistischen Skandale zu registrieren als Wirkungen des Privateigentums und als Gradmesser seiner immer zunehmenden Zerrüttung. Wenn die gesellschaftlichen Skandale sich heute in ganz anderem Maße häufen als vor 1789 und 1848, so aus dem Grunde, weil damals nur eine bestimmte Form des Privateigentums zerfiel, heute aber das Privateigentum in der entwickeltsten und höchsten Gestalt zerfällt, die es überhaupt erreichen kann. Diese Zusammenhänge aufzuklären und eingehend aufzuzeigen, wie die besitzenden Klassen, die sich ein Herrschaftsrecht über die arbeitenden Klassen anmaßen, innerlich verfaulen, das ist eine unerlässliche Aufgabe der Arbeiterpresse, in deren Erfüllung sie sich keinen Augenblick durch zimperliches Gerede oder durch die heuchlerischen Vorwände der Sünder beirren lassen darf, die von ihren Sünden nicht gesprochen haben wollen.

Aber eben auf die tieferen Zusammenhänge kommt es an, die wir nie aus den Augen verlieren dürfen, wenn wir die kapitalistischen Skandale registrieren. Wir dürfen niemals unbesehen in die „allgemeine Entrüstung" einstimmen, die sie unter den Spießbürgern erregen, da nichts, aber auch gar nichts dahinter steckt als am letzten Ende eine Nasführung derer, die sich dadurch täuschen lassen. Wir dürfen nie vergessen, dass die kapitalistische Gesellschaft an ihren Skandalen nicht sterben wird, dass sie sich längst mit diesen unvermeidlichen Begleiterscheinungen ihrer Herrlichkeit abgefunden hat und dass, selbst wenn sie daran sterben könnte und würde, der Arbeiterklasse durchaus nicht damit gedient wäre, zu warten, bis sie einmal eine durch und durch verfaulte Erbschaft antreten könnte.

So sind wir um eine Welt entfernt von dem geschäftsmäßigen Betriebe der bürgerlichen Presse, die mit einer Hand die kapitalistischen Skandale aufbauscht und sie mit der andern Hand vertuscht. Wir beschäftigen uns mit ihnen in dem reinen Sinn eines prinzipiellen Kampfes, der auch aus den widerlichsten Symptomen des Verfalls immer noch die heilsame Lehre zu schöpfen weiß, dass eine gesittete Welt nicht anders hergestellt werden kann, als indem der kapitalistischen Gesellschaft die Axt an die Wurzel gelegt wird.

gez.: F. M.

Kommentare