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Franz Mehring 19140103 Der getretene Wurm

Franz Mehring: Der getretene Wurm

3. Januar 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 2, 3. Januar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 603]

Im neuesten Heft der „Preußischen Jahrbücher" kommt ihr Herausgeber auf den Fall Zabern1 zu sprechen. Herr Hans Delbrück ist bekanntlich ein Schreckenskind der bürgerlichen Parteipolitik. In mancher Beziehung denkt er noch verworrener als der landläufige Reichspatriot; in anderen Fragen hat er viele ganz lichte Augenblicke. So auch in seinem neuesten Aufsatz. Was er über die Sozialdemokratie sagt, die am Ende ihres Lateins angelangt sei und deshalb den Fall Zabern mit tosendem Beifall begrüßt habe, ist ganz gewöhnlicher Kohl, wie er in den Gärten des Reichsverbandes gezüchtet wird. Ganz verständig aber ist, was Herr Delbrück über die vollkommene Harmlosigkeit des Misstrauensvotums sagt, das der Reichskanzler von der bürgerlichen Mehrheit des Reichstages erhalten hat. Er führt richtig aus, dass die drei bürgerlichen Parteien, die für das Misstrauensvotum gestimmt hätten (Freisinnige, Nationalliberale, Ultramontane), in der Sache ebenso dächten wie Herr von Bethmann Hollweg, dessen Sturz sie gar nicht beabsichtigten, während die einzige bürgerliche Partei (die Konservative), die eifrig daran arbeite, den Reichskanzler um die Ecke zu bringen, gegen das Misstrauensvotum gestimmt habe. Dies Misstrauensvotum gehört in der Tat zu jenen augenblicklichen Temperamentsaufwallungen, zu denen preußische Perfidie nicht allzu selten selbst schwache Parlamente hingerissen hat. Das bekannteste Beispiel ist der Steuerverweigerungsbeschluss2, den die bürgerliche Mehrheit der Berliner Vereinbarerversammlung im November 1848 zwischen Tür und Angel fasste, um danach sofort umzufallen. Den Schaden hatten die ehrlichen Leute, die den Beschluss der Steuerverweigerung ernsthaft nahmen und dafür mit Kerker und Verbannung büssen mussten. Diesen Schaden wird das Misstrauensvotum des Reichstags gewiss nicht anrichten, aber man braucht auch nicht für Spott zu sorgen, indem man solches Fuchteln mit einem Flederwische ernsthaft nimmt. Wenn der getretene Wurm sich einmal krümmt, so beißt er deshalb noch lange nicht in Molochs eiserne Ferse.

gez.: F. M.

1 1913 setzte ein Leutnant Freiherr von Forstner in der elsässischen Stadt Zabern eine „Belohnung" von zehn Mark für denjenigen Soldaten aus, der einen „elsässischen Wackes" niederstechen würde. Die Bewohner der Stadt empörten sich, worauf im November der „kleine Belagerungszustand" wegen „anarchistischer Ausbrüche" verhängt wurde. Lenin charakterisierte die „Zabernaffäre" : „Nicht die .Anarchie' ist in Zabern ,ausgebrochen', sondern die wahre Ordnung in Deutschland, die Säbelherrschaft des halbfeudalen preußischen Grundbesitzers hat sich verschärft und ist ans Licht getreten." (W. I. Lenin: Zabern. In: Werke, Bd. 19, S. 510.)

2 Der Beschluss über die Steuerverweigerung wurde von der preußischen Nationalversammlung in ihrer 102. Sitzung am 15. November 1848 im Saale des Hotels Mielenz gefasst (s. Verhandlungen der constituirenden Versammlung für Preußen. 1848, Bd. 9, Suppl.-Bd.), er lautete: „Das Ministerium Brandenburg ist nicht berechtigt, über Staatsgelder zu verfügen und Steuern zu erheben, solange die Nationalversammlung nicht in Berlin ihre Sitzungen frei fortsetzen kann. Dieser Beschluss tritt mit dem 17. November in Kraft.

Nationalversammlung vom 15. November." (Zit. nach: Marx/Engels: Werke, Bd. 6, S. 30)

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