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Franz Mehring 19140331 Der politische Streik

Franz Mehring: Der politische Streik

31. März 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 38, 31. März 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 626-628]

Der Reichstag ist in die Osterferien gegangen, nachdem er sich in diesem Winter politisch entwürdigt hat wie noch in keiner früheren seiner Tagungen. Daran hat auch der hingebende und unermüdliche Eifer nichts geändert, mit dem sich die sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder an den parlamentarischen Arbeiten beteiligt haben. Die bürgerlichen Mehrheitsparteien scheinen es darauf angelegt zu haben, jene holde Illusion zu zerstören, die noch im vorigen Herbst an einzelnen, wenn auch gewiss nicht maßgebenden Stellen der Partei verkündet wurde: Durch die praktische Leistungsfähigkeit des Reichstags würde den Arbeitermassen der Wert des allgemeinen Stimmrechts so gründlich eingepaukt werden, dass sie bereitwillig in einen Massenstreik eintreten würden, um dies Recht auch für den preußischen Landtag zu erobern.

In die dumpfe und katzenjämmerliche Stimmung, die der einstweilen scheidende Reichstag hinterlässt, klingt nun aber eine aufmunternde helle Stimme: eine Schrift über den politischen Streik, die Genosse Laufenberg in unserm Stuttgarter Parteiverlag veröffentlicht. Es ist so recht ein rechtes Wort zur rechten Zeit. Denn seien wir doch darin ehrlich und gestehen uns offen: Die Diskussion über die mächtigste Waffe des modernen Proletariats stand in den letzten Jahren nicht mehr auf der Höhe, wenigstens nicht für eine Partei, die von jeher ihren Ruhm darin gesehen hat, nicht minder zu wägen als zu wagen. Mit den beiden unzweifelhaften Wahrheiten, dass der politische Streik von Gewerkschaft und Partei als ein Werkzeug des proletarischen Emanzipationskampfes anerkannt sei, aber dass an seine augenblickliche Anwendung weder Gewerkschaft noch Partei denke, ist wirklich nicht alles über eine Frage gesagt, die über Nacht brennend werden und die Arbeiterbewegung um einen Riesenschritt vorwärts bringen oder um einen Riesenschritt zurückwerfen kann.

Lassen wir uns doch nicht von unsern grimmigsten Gegnern beschämen! Beruhigt sich etwa der moderne Klassenstaat mit der Erwägung, dass für ihn der Krieg zu Lande und zur See eine notwendige Waffe sei, aber dass im Augenblick an keinen Krieg gedacht werde? Fällt ihm gar nicht ein! Die Schränke des deutschen Generalstabes sind gefüllt mit Berechnungen und Erwägungen und Plänen aller Art für den Fall eines Krieges mit Frankreich oder Russland oder England oder sonst einer Macht, und das gleiche gilt von den Generalstäben aller Staaten. Nur dass sie ihre mörderische Weisheit aus dem Sumpfe einer schmutzigen Spionage schöpfen, während die moderne Arbeiterklasse sich über den politischen Streik bereits aus einer großen Geschichte unterrichten kann, die an Helden- und Opfermut turmhoch über den Metzeleien steht, in denen die herrschenden Klassen der einzelnen Länder am letzten Ende um ihre Beuteanteile an den Reichtümern raufen müssen, die das internationale Proletariat schafft.

Es ist die Geschichte des politischen Streiks, die Laufenberg in seiner Schrift erzählt, mit der Gründlichkeit und Sachlichkeit, die seine wissenschaftlichen Arbeiten auszeichnen. Das Bild, das er entrollt, wird in jedem klassenbewussten Arbeiter nicht nur die lebhafteste Bewunderung wecken, sondern auch die Überzeugung, dass es sich bei dem politischen Streik nicht um eine Waffe handelt, die gebraucht oder auch nicht gebraucht werden kann, deren Handhabung davon abhängt, ob irgendeine gewerkschaftliche oder politische Instanz sie zur passenden oder unpassenden Zeit anordnet. Vielmehr handelt es sich um eine geschichtliche Erscheinung, die mit elementarer Gewalt aus den wirtschaftlichen Zusammenhängen der imperialistischen Ära emporwächst und ihren Zug um die Welt angetreten hat. Solche geschichtlichen Erscheinungen lassen sich nicht willkürlich hervorrufen und nicht willkürlich fernhalten; es sind die Geburtswehen einer neuen Zeit, die unaufhaltsam ans Licht drängt. Aber ihre Dauer lässt sich abkürzen, und ihre Opfer lassen sich mildern, wenn die Arbeiterklasse den unvermeidlichen Eintritt dieser neuen Periode ihres Klassenkampfs klar und kühl ins Auge fasst und sich rechtzeitig mit ihren sozialen Bedingungen und politischen Konsequenzen vertraut macht.

Diesem Hauptzweck soll denn auch die Schrift Laufenbergs dienen. In umfassenden Kapiteln über die deutsche Expansion und die Sammlungsbewegung des deutschen Bürgertums legt sie die Triebkräfte dar, die das Unternehmertum zu einem gewaltigen Vorstoß gegen die Koalitionsfreiheit anspornen und Kämpfe auf höherer Stufenleiter hervorrufen werden als die Kämpfe um die Erweiterung des Wahlrechts. Laufenberg verwirft den Versuch, eine starre Grenze zwischen dem ökonomischen und dem politischen Streik zu ziehen, die unaufhörlich ineinander übergehen, und er hebt hervor, dass in den bevorstehenden Zolltarifkämpfen für den einen wie den andern Zweig der Arbeiterbewegung gleichermaßen das Wort gelten wird: Bereit sein ist alles.

Nicht minder nachdrücklich bekämpft Laufenberg das abwiegelnde Gerede, bei den besonderen Machtverhältnissen in Deutschland sei der politische Streik bereits die Revolution, denn die einstweilen übermächtige Regierung werde ihn mit dem Umsturz von oben beantworten. Es ist dieselbe oberflächliche Auffassung, womit man den parlamentarischen Kampf abwiegeln könnte, indem man sagt: In Deutschland ist der Parlamentarismus der reine Bankrott. Sosehr der politische Streik im geschichtlichen Sinne des Worts eine revolutionäre Kampfmethode ist, sosehr gehört er doch zu jenen friedlichen und gesetzlichen Mitteln, mit denen schon vor einem Menschenalter die deutsche Arbeiterklasse das brennende Gelüste eines Bismarck vereitelt hat, sich in Proletarierblut zu baden. Auf der andern Seite streift es an anarchistische Auffassungen, wenn der politische Streik als eine Waffe betrachtet wird, die sofort und unbedingt den Sieg verbürge. Das Vordrängen der deutschen Arbeiterklasse ist ein gewaltiger, von zahllosen Wechselfällen begleiteter geschichtlicher Prozess. Mit Recht sagt Laufenberg, ihre politischen Aktionen hätten in der überwiegenden Zahl der Fälle ihr unmittelbares Ziel nicht erreicht und bildeten doch von Fall zu Fall eine bedeutsame Verbreiterung der Angriffsbasis, eine nicht wieder zu zerstörende Stärkung ihrer politischen und sozialen Position.

Mit alledem soll jedoch nicht gesagt sein, dass Laufenbergs Schrift das abschließende Wort über den politischen Streik ist. Das wird kaum bei der Vielseitigkeit und Weitschichtigkeit der Frage von einem einzelnen gesprochen werden können, aber anzuregen ist oft ein größeres Verdienst als abzuschließen, und ein so wohldurchdachter Versuch, die wissenschaftliche Diskussion über eine entscheidende Zukunftsfrage des proletarischen Klassenkampfes von neuem zu eröffnen, kann im Interesse der Partei nur lebhaft begrüßt werden.

gez.: F. M.

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