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Franz Mehring 19140226 Die Erschrockenen

Franz Mehring: Die Erschrockenen

26. Februar 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 24, 26. Februar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 617-619]

Unter Schreckensherrschaft verstehen wir „die Herrschaft von Leuten, die Schrecken einflößen; umgekehrt, es ist die Herrschaft von Leuten, die selbst erschrocken sind. La terreur (der Schrecken), das sind großenteils nutzlose Grausamkeiten, begangen von Leuten, die selbst Angst haben, zu ihrer Selbstberuhigung.1 So schrieb Friedrich Engels am 4. September 1870 an Karl Marx, und so würde er heute wieder schreiben, wenn er das Schreckensurteil erlebt hätte, das die Frankfurter Strafkammer vor einigen Tagen über – oder vielmehr, da es ein ungerechtes Tendenzurteil ist – gegen die Genossin Luxemburg gefällt hat.

Die laute oder schweigende Zustimmung, die das Urteil in den herrschenden Klassen gefunden hat, ist ein schlagender Beweis dafür, dass diese Klassen erschrocken sind, erschrocken bis in den Tod. Aber wie sehr sie erschrocken sind, erkennt man doch erst, wenn man eine Erinnerung aus der preußischen Geschichte wachruft.

Der Grundgedanke, dessen Aussprechen die Genossin Luxemburg mit einjährigem Gefängnis büssen soll, ist nicht neu, und es gab glücklichere Zeiten, wo er keineswegs nur eine Forderung der Arbeiterklasse war. Auch die bürgerliche Klasse war ehedem der sehr entschiedenen Ansicht, dass eine mündige Nation sich nun und nimmer das Recht nehmen lassen dürfte, aus eigener Machtvollkommenheit über Krieg und Frieden zu entscheiden, dass es nicht nur ihr Recht, sondern ihre Pflicht sei, sich zu widersetzen, wenn sie ungefragt von einem Selbstherrscher in einen Krieg getrieben werden solle. Nach dem Ausbruch der großen Revolution im Jahre 1789 war die französische Nationalversammlung kaum ein Jahr zusammen, als ihre Linke, Lameth, Pethion, Robespierre, den nach Lameth benannten Antrag einbrachte, das Recht über Krieg und Frieden dem Könige zu entziehen und der Nationalversammlung zu übertragen als der berufenen Vertreterin der Nation.

Dieser Antrag fand die lebhafteste Unterstützung der preußischen Regierung. Man findet die Tatsache in allen Geschichtsbüchern über die Französische Revolution verzeichnet. Hören wir von ihnen nur den frömmsten Knecht Fridolin, Herrn v. Sybel, den allezeit getreuen Bewunderer des Hauses Hohenzollern. Er schildert, wie der Antrag Lameth das lebhafteste Interesse der Nationalversammlung erregte, und fährt dann fort: „Sodann griff auch an dieser Stellung die Tätigkeit des preußischen Gesandten Goltz äußerst wirksam ein. In Berlin … empfand man jetzt keinen lebhafteren Wunsch, als dass die demokratische Partei dem Könige und damit der Königin das Recht der Kriegserklärung entreißen möge. Graf Goltz stand seit langem mit einem Abgeordneten der äußersten Linken, Pethion, in stiller Verbindung; er lieferte ihm jetzt Materialien aller Art und gewann ihn vollständig für Lameths Antrag, der diese Übel in der Wurzel auszurotten bestimmt war." Und der preußische Gesandte war gewiss der Berufenste dazu, durch „Materialien aller Art" das „Übel in der Wurzel" aufzudecken; er brauchte nur blindlings in die preußischen Archive hineinzugreifen, und an jedem seiner zehn Finger hing ihm ein urkundlicher Beweis für die Unvernunft des monarchischen Vorrechts, über Krieg und Frieden zu entscheiden.

Überflüssig, zu sagen, dass der altpreußische Staat nur aus den niedrigsten und verächtlichsten Beweggründen den Jakobinern half, der französischen Monarchie das Recht der Kriegserklärung zu entreißen. Darauf kommt es in unserm Zusammenhange nicht an, sondern nur darauf, dass er damals nicht davor zurückschreckte, mit frevelnder Hand das heiligste Kleinod der Monarchie anzutasten. Und was war der damalige preußische Staat für ein Häuflein Unglück gegenüber dem großmächtigen neudeutschen Reich! Was war das damalige preußische Heer, ein zusammengepeitschter Haufe teils von Vagabunden und Verbrechern, teils von entnervten Leibeigenen, gegenüber dem heutigen „Volk in Waffen"!

Über nichts wunderte der alte Fritz sich mehr, als dass ihn seine Grenadiere, wenn er ihre Front abritt, nicht einfach niederschössen als den Urheber ihrer fürchterlichen Qualen. Und sein ungleich schwächerer Nachfolger, dem Jena schon in allen Gliedern spukte, wagte es dennoch, mit dem Feuer zu spielen! Führwahr, der preußische Staat ist immer die verkörperte Unvernunft. Er stellt selbst das Dichterwort auf den Kopf: Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Manne erzittere nicht. Vor den Sklaven hat er im Jahre 1790 nicht gezittert, obgleich das Klirren zerbrochener Ketten von Frankreich herübertönte; heute aber zittert er vor dem freien Manne, dem ein flüchtig verhallendes Wort ins Ohr tönt von dem Recht und der Pflicht jeder mündigen Nation, ihrem souveränen Willen die Entscheidung über Krieg und Frieden zu sichern. Aber am Ende wird er dazu doch auch wohl seine triftigen Ursachen haben.

Denn wenn er sonst nichts weiß, so weiß er doch, dass sich heute nicht mehr siegreiche Kriege führen lassen mit Vagabunden und Verbrechern und entnervten Leibeigenen, sondern nur noch mit den Massen freier Männer, die wohl wissen, und wenn sie es noch nicht wissen, doch leicht begreifen, was sich für eine mündige Nation schickt. Und deshalb hasst und verfolgt dieser Staat jedes flüchtig verhallende Wort, das die Massen an ihr Recht und ihre Pflicht erinnert, wie die Schneeflocke, die die lange schon wuchtende Last der Lawine löst, so dass sie donnernd zu Tale stürzt.

Und deshalb auch sind sie alle sosehr erschrocken, die festen Stützen dieses Staates. Erschrocken ist der Staatsanwalt, der, weil irgendein junger Bursch die Rede der Genossin Luxemburg gehört haben könnte, schon das deutsche Millionenheer in einer Riesenschlacht der Zukunft hilflos zerstieben sieht. Erschrocken ist die Strafkammer, die ein Urteil schöpft, das vor einem leisen Hauche der Kritik wie mürber Zunder zerfällt. Erschrocken ist der Junker, der mit diesem Urteil, noch ehe es rechtskräftig geworden ist, im Reichstage krebst. Erschrocken ist die große Masse der bürgerlichen Presse, die das Urteil als „ganz plausibel und vernünftig" preist. Erschrocken sind selbst die paar Organe dieser Presse, die das Urteil tadeln, aber zugleich die Arbeiter anflehen, dem Moloch nur so am Barte zu krauen, dass er nichts als ein angenehmes Kitzeln verspürt.

Aber dennoch wollen wir nicht über die Erschrockenen spotten. In einem Punkte sind die herrschenden Klassen heutzutage den beherrschten Klassen entschieden überlegen; altersschwache und gichtbrüchige Knochen spüren eher den Wechsel der Witterung als junge und kräftige Glieder. Wittern sie wirklich schon den eisigen Hauch der Lawine, deren lastende Wucht durch jede neue Schneeflocke gelöst werden kann, so dass sie donnernd zu Tale stürzt? Dann wollen wir die Erschrockenen gern begrüßen als die Boten einer frohen Hoffnung.

gez.: F. M.

1 In: Marx/Engels: Briefwechsel, IV. Bd., S. 453.

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