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Franz Mehring 19141109 Die Wiederherstellung der Internationale

Franz Mehring: Die Wiederherstellung der Internationale

9. November 1914

[ungezeichnet, Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 116, 9. November 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 646-648]

Unsere amerikanischen Gesinnungsgenossen haben einen Aufruf zur Beschickung eines internationalen Sozialistenkongresses erlassen, der in Washington tagen und über Mittel und Wege zur baldigen Beendigung des gegenwärtigen Krieges beraten soll. Der Aufruf atmet eine Gesinnung, die lebhafte Anerkennung verdient, aber er geht von Voraussetzungen aus, die tatsächlich nicht zutreffen. Doch lässt sich unseren amerikanischen Freunden daraus kein Vorwurf machen, dass sie sich in einer verzwickten Lage nicht gleich zurechtgefunden haben.

Schwerer verständlich ist, dass auch europäische Sozialdemokraten, die mitten in den Dingen stehen, sich in der Illusion gefallen, die Internationale stehe noch aufrecht. Die Sache ist doch einfach die, dass ein Teil der europäischen Arbeiterparteien die Kriegskredite bewilligt hat, ein anderer Teil aber nicht. Daraus ergibt sich nach den einfachsten Regeln der Logik, dass einer von beiden Teilen die bisherigen feierlichen und wiederholten Beschlüsse der Internationalen Sozialistenkongresse missachtet hat, in einer entscheidenden um nicht zu sagen der entscheidendsten Frage der internationalen Solidarität. Danach zu behaupten, die Internationale stehe noch aufrecht, läuft auf die Praxis jener bürgerlichen Partei hinaus, die trotz klaffender Gegensätze in ihren eigenen Reihen sich immer für einig erklärte, eine Praxis, die gerade nur in der sozialdemokratischen Presse die schärfste Kritik gefunden hat.

Fände heute ein internationaler Sozialistenkongress statt, so würde er entweder in ein babylonisches Stimmengewirr verlaufen oder eine mühsam zusammengeklaubte und deshalb nichts sagende Resolution beschließen, die auf den Gang der Dinge nicht den mindesten Einfluss haben würde. Schon deshalb nicht, weil die vollkommen klar und unzweideutig abgefassten Resolutionen, die die früheren Internationalen Kongresse für den Fall eines Weltkrieges gefasst haben, von einem Teil der europäischen Arbeiterparteien als für sie nicht verbindlich erachtet worden sind. Den Respekt, den man den eigenen Beschlüssen versagt, kann man nicht von den Gegnern für diese Beschlüsse beanspruchen.

Es war bisher der Vorzug unserer Partei – ein Vorzug, auf den sie sich mit Recht nicht wenig zugute tat –, dass sie jeder, auch der traurigsten Erfahrung kaltblütig ins Auge zu schauen und in der Niederlage nur die Elemente künftiger Siege zu erkennen wusste. Von dieser Gewohnheit wollen wir doch lieber selbst in der gegenwärtigen Zeit, wo so vieles zerbrochen ist, was wir für unzerbrechlich gehalten haben, noch nicht lassen. Wie die ehrlichste, so ist es auch die klügste Politik, denn schließlich redet man doch nur Kindern ein, dass die Nuss noch heil sei, wenn ihr Kern verloren gegangen ist, aber die Schalen wieder zusammengeleimt worden sind.

Im Unterschied von bürgerlichen Parteien, die im Fall einer Niederlage die Schuld daran überall sonst suchen, nur nicht bei sich selbst, hat unsere Partei stets das wichtigste Element künftiger Siege darin erblickt, zunächst vor der eigenen Tür zu kehren. Sie folgte dabei ebenso ihrem naturwüchsigen Instinkt wie den Ratschlägen ihrer großen Führer; es sei nur an Lassalles bekanntes Wort erinnert vom „Aussprechen dessen, was ist" und an einen ähnlichen Rat, den Marx erteilt und Freiligrath in die Worte gekleidet hat: Räum auf im eignen Haus, räum auf und halte Stich! Soll die Internationale wiedererstehen – und von dieser Notwendigkeit sind wir ebenso tief, ja viel tiefer durchdrungen als diejenigen, die einen Riss, durch den Ströme kostbaren Bluts geflossen sind, mit papierenen Redewendungen verkleben möchten –, so ist die erste Vorbedingung, dass sich jede europäische Arbeiterpartei auf die unerschütterlichen Grundsätze des internationalen Sozialismus besinnt, und insoweit, als die deutsche Sozialdemokratie bisher die führende Stelle in der Internationalen behauptet und auch wohl beansprucht hat, sollte sie auf diesem Wege vorangehen.

Es ist wahr: Ein deutsches Gewerkschaftsblatt macht einen andern, wie wir zugeben rationalen Vorschlag zur Lösung des Problems. Es regt an, alle Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie, die an deren gegenwärtiger Politik etwas auszusetzen hätten, zur Tür hinauszuwerfen. Allerdings soll diese Massenexekution bis zum Abschluss des Friedens verschoben werden, bis dahin verlässt sich dies treffliche Arbeiterblatt auf die Militärzensur. Indessen scheint uns sein Vorschlag bei aller Klarheit und Konsequenz, die er von seinem Standpunkt für sich geltend machen kann, wenig geeignet zu sein, die Internationale wiederherzustellen. Einzig auf prinzipieller Grundlage kann sie zur ehernen Faust werden; sind ihre Beschlüsse nur Handschuhe, die man nach Belieben aus- und anzieht, so wäre sie – darin hat die bürgerliche Presse nicht so unrecht – allerdings von fragwürdigem Wert.

Täuschen wir uns also nicht über die Lage der Dinge, wie unerfreulich diese Lage immer sein mag, und erinnern wir uns, wenn wir der Internationale einen neuen Weg bahnen wollen, an das Wort des proletarischen Dichters: Räum auf im eignen Haus, räum auf und halte Stich.

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