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Franz Mehring 19140307 Eine Drachensaat

Franz Mehring: Eine Drachensaat

7. März 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 28, 7. März 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 620-622]

Allem Anschein nach sind die Gegner der Arbeiterklasse zur Zeit des trockenen Tones satt, und es gelüstet sie, wieder recht den Teufel zu spielen. Selbst gegen „die Rote Woche"1 rücken sie mit den Spießen und Stangen der Polizei ins Feld, und wenn anders die scharfmacherische Presse auf der richtigen Spur ist – und Bluthunde pflegen ja gute Spürhunde zu sein –, so steht eine neue Ära von Verfolgungen bevor, bei der die Hauptrolle jene Justiz spielen wird, die angeblich die Grundlage der Königreiche sein soll.

Sein soll, aber freilich nicht ist. Denn sonst wären alle monarchischen Staaten und die paar Republikchen dazu, die es innerhalb der schwarz-weißroten Grenzpfähle gibt, längst vom Erdboden verschlungen worden. Und zuallererst hätte den preußischen Staat dies Schicksal ereilt, der, getreu seinem Berufe, der „führende Staat" zu sein, in Justizsachen immer an der Spitze marschiert, wenn auch just nicht an der Spitze der Zivilisation. Unter den Fabeln der preußischen Legende ist keine so dreist wie die Fabel von der Unabhängigkeit der preußischen Gerichte; höchstens die Fabel von dem „Sozialen Königtum" der Hohenzollern kann ihr die Palme streitig machen.

Es sind jetzt fast zwanzig Jahre her, seit ein preußischer Richter im Juliheft der „Preußischen Jahrbücher" von 1895 mit einer Fülle urkundlichen und völlig unwiderleglichen Materials einen erschöpfenden Nachweis führte, erstens dafür, dass die preußische Staatsanwaltschaft ein vollkommen abhängiges und willenloses Werkzeug der jeweiligen Regierung sei, und zweitens dafür, dass die preußischen Strafkammern in einer sehr weit reichenden Abhängigkeit von der preußischen Staatsanwaltschaft ständen. Dieser preußische Richter schrieb wörtlich: „Wer den Satz aufstellen wollte: In Preußen wird die Strafrechtspflege von der Staatsanwaltschaft geübt, gemildert durch ein Vetorecht der Gerichte gegenüber extravaganten Ansprüchen der Staatsanwaltschaft, der würde zwar rechtlich etwas Unrichtiges aussprechen, aber von den tatsächlichen Verhältnissen sich nicht allzu weit entfernen." Das ist heute nicht anders geworden, als es dazumal war, oder wenn es anders geworden sein sollte, so ist es jedenfalls nicht besser geworden.

Im Grunde ist der alte Grundsatz: justitia fundamentum regnorum, die Gerechtigkeit ist die Grundlage der Reiche, im Preußischen auch nur für die berechnet, die nicht alle werden. In den „maßgebenden Kreisen" dieses glorreichen Gemeinwesens las man die holde Botschaft von jeher ganz anders. Der alte Fritz stellte zwar den herrlichen Grundsatz auf: Wenn die Gesetze sprechen, so hat der König zu schweigen, aber dessen ungeachtet verprügelte er die Kammergerichtsräte, die nach den Gesetzen des Landes und nicht nach seiner launenhaften Willkür gerichtet hatten, höchst eigenhändig mit seinem Krückstock, kassierte sie infam und schickte sie nach Spandau auf die Festung. So auch ekelte der König Friedrich Wilhelm IV. den alten Grolman, der Johann Jacoby von der blödsinnig-nichtswürdigen Anklage des Hochverrats freigesprochen hatte, mit den kleinlichsten Schikanen aus seinem hohen richterlichen Amte.

Und so bis in die neue Zeit. Als 1878 im Reichstage bei Beratung des Sozialistengesetzes ein langes und breites über die „richterlichen Garantien" der Beschwerdekommission geschwatzt worden war, die sich später durch ihre Praxis den Ehrennamen der „Reichsgalgenkommission" verdient hat, berief Bismarck einen Ministerrat und verlangte die Berufung von Richtern nach dem Muster des brutal-servilen Staatsanwalts Tessendorf in die Beschwerdekommission. Unersättlich in seiner Rachsucht und bar jedes Rechtsgefühls, jammerte dieser nationale Held, dass nicht alle Staatsanwälte zu den feilen Schergendiensten eines Tessendorf bereit wären, worauf ihn der Justizminister, der Hüter des Rechts, damit tröstete, dass die preußischen Richter alle „praktisch zuverlässig" seien. Die kleine Szene ist ein Bild echt preußischer Kultur, und es gehört dazu, dass ein preußischer Kultusminister sie in seinen Denkwürdigkeiten, wie es scheint ohne jedes Gefühl von Scham, der Nachwelt überliefert hat.

Diese Überlieferung von Jahrhunderten lastet auf dem preußischen Richterstande, der unter ihrem Druck aufwächst und nach allen Gesetzen menschlicher Seelenlehre ihn auf die Dauer gar nicht mehr als Druck empfindet, es sei in einzelnen Fällen, die als Ausnahmen nur die Regel bestätigen. Solche Ausnahmenaturen haben diese traurigen Zustände dann freilich auch tiefer erkannt und drastischer geschildert, als irgendein Außenstehender es vermöchte; was schon der französische Aufklärer Helvetius von den besoldeten Richtern des vorrevolutionären Frankreichs gesagt hat, das haben ihm preußische Richter, wie Franz Ziegler und Karl Twesten, bestätigt: Hätte die Pest Orden und Pensionen zu vergeben, so würden die Juristen beweisen, dass die Pest von Gottes und Rechts wegen bestehe und dass sich ihr zu entziehen Hochverrat sei.

Nur die oberflächliche Auffassung des Liberalismus kann die Richter als einzelne Personen oder auch nur den Richterstand als solchen für die preußische Klassenjustiz verantwortlich machen. Die Richter sind nicht minder die Opfer dieser Justiz, als es diejenigen sind, die von ihnen in die Gefängnisse und Zuchthäuser geschickt werden. Llorente, der große Geschichtsschreiber der Inquisition und ihr bitterster Feind, erhebt nach sorgfältiger Durchmusterung ihrer geheimsten Papiere nicht einmal eine Anklage gegen den sittlichen Charakter der Inquisitoren; während er die Grausamkeit ihres Verfahrens verabscheut, bestreitet er nicht die Reinheit ihrer Absichten. Und ähnlich Townsend, ein Geistlicher der englischen Kirche, der die Inquisition in Barcelona beschrieben hat und ihren Mitgliedern bezeugt, dass sie alle ehrenwerte Männer und die meisten von ihnen sogar ausgezeichnet menschenfreundlich gewesen seien.

Das mag auch von den preußischen Richtern gelten; wir können es nicht wissen, aber wir nehmen es an, gemäß der alten Rechtsregel, dass bis zum Beweise des Gegenteils von jedem Menschen das Gute gilt. Allein wie die Inquisition deshalb um kein Haarbreit weniger scheußlich war, um kein Atom weniger mit dem Fluche der gesitteten Menschheit belastet ist, weil zwischen Inquisitoren gute Leute sein mochten, so verdient die preußische Klassenjustiz kein auch nur um einen Hauch milderes Urteil, weil sich ihren Trägern nichts Böses nachsagen lässt. Diese Justiz rücksichts- und schonungslos zu bekämpfen bleibt deshalb nicht weniger Recht wie Pflicht menschlicher Kultur.

Es ist bei alledem just nicht – man muss auch den Gegnern gerecht zu werden wissen – der übelste Gedanke der Scharfmacher, die Rote Woche mit einem Appell an die hässlichste, weil verheucheltste Form der Gewalt zu begrüßen. Sie wollen anscheinend in handgreiflicher Deutlichkeit die alte Sage wahr machen, dass eine Saat von Drachenzähnen geharnischte Scharen aus dem Boden lockt. Und diesen Dienst wird die Rote Woche den Todfeinden des Proletariats gern leisten – im Sinne des Dichters: Den Leuten kann geholfen werden.

gez.: F. M.

1 Vom 8. bis 15. März 1914 veranstaltete die SPD eine „Rote Woche", die der Agitation für die Sozialdemokratie und ihre Presse diente. Als Ergebnis konnte ein wesentlicher Mitgliederzuwachs und eine Erhöhung der Abonnentenzahl für die Presse verzeichnet werden.

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