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Franz Mehring 19141214 Eine historische Erinnerung

Franz Mehring: Eine historische Erinnerung

14. Dezember 1914

[ungezeichnet, Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 128, 14. Dezember 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 649 f.]

In dem Hamburger Parteiblatt legt ein ehemaliger – um in seinem gegenwärtigen Jargon zu sprechen – Radikalinskis sich mächtig ins Zeug gegen „die nörgelnde Kritik und die selbstsüchtige Eigenbrötelei" der unglücklichen Genossen, deren Gedächtnis nicht schwach genug ist, um heute sich nicht mehr dessen zu erinnern, was die deutsche Sozialdemokratie auf soundso viel nationalen Parteitagen und soundso viel internationalen Kongressen für den Fall eines imperialistischen Weltkriegs beschlossen hat.

An sich lohnt es sich nicht, ein ernsthaftes Wort an das blöde Gerede zu verlieren. Aber da immer von neuem behauptet wird, jeder Parteigenosse habe einfach auf dem Wege nachzutrotten, auf dem die Mehrheit der Reichstagsfraktion gewandelt ist oder die Mehrheit der Parteiblätter wandelt, so muss diese Forderung wieder und wieder als ein halt- und sinnloser Anspruch zurückgewiesen werden.

Nach unserer Parteiverfassung hat einzig und allein der Parteitag das Recht, frühere, die Partei bindende Beschlüsse mit der Wirkung aufzuheben, dass jeder Parteigenosse, der nach wie vor die früheren Beschlüsse für richtig hält, sich dennoch aus Gründen der Parteidisziplin in ihre Aufhebung fügen muss: Weder der Reichstagsfraktion noch der Parteipresse steht dies Recht zu. Setzt sich die eine wie die andere über noch rechtskräftige Beschlüsse der einzig gesetzmäßigen Parteivertretung fort, so sind sie und sie allein die Disziplinbrecher und machen sich in dem Jargon des ehemaligen Radikalinskis, der an der Spitze des Hamburger Parteiblatts die Mitwelt mit seiner Weisheit erleuchtet, „der nörgelnden Kritik und der selbstsüchtigen Eigenbrötelei" schuldig.

Nun sind wir an unserm Teil nichts weniger als formale Prinzipienreiter und erkennen bereitwillig an, dass Notstände eintreten können, historische Konflikte, in denen schnell gehandelt werden muss, ohne dass die Möglichkeit gegeben ist, vorher die Entscheidung des Parteitags darüber einzuholen, ob etwa eine neue Lage eine Revision früherer Beschlüsse erheischt. Die historische Entwicklung ist kein einfaches Rechenexempel, für das sich von vornherein eine unter allen Umständen gültige Lösung feststellen lässt, und wir sind deshalb weit entfernt, die Mehrheit der Reichstagsfraktion und die Mehrheit der Parteipresse mit den abgeschmackten Redensarten des mehrerwähnten Radikalinskis a. D. zu behelligen. Wir nehmen an, dass sie sich in dem guten Glauben eines Notrechts befinden, das sich an und für sich nicht wohl bestreiten lässt.

Aber so milde man darin denken mag, so scharf muss die Heulmeierei darüber zurückgewiesen werden, dass diejenigen Parteigenossen, die nach ihrem besten Gewissen und Wissen an den noch immer rechtskräftigen Beschlüssen festhalten, die von Partei wegen für den Fall eines imperialistischen Weltkrieges gefasst worden sind, als „parteischädigende Disziplinbrecher" denunziert werden. Das ist denn doch die verkehrte Welt, und es ist endlich einmal an der Zeit, dies abgeschmackte Treiben beim richtigen Namen zu nennen.

Am besten wird es durch eine geschichtliche Erinnerung beleuchtet. Als im Herbste 1878 das Sozialistengesetz erlassen wurde, war auch die Möglichkeit ausgeschlossen, dass ein Parteitag darüber befand, wie sich die Partei unter diesem Gesetze zu verhalten habe. Darin unterschied sich die ehemalige Lage allerdings von der heutigen Lage, dass keine früheren Parteitagsbeschlüsse für den Fall eines Sozialistengesetzes vorlagen.

Insofern ließ sich immerhin eher verstehen, dass diejenigen Parteischichten, die etwa der heutigen Reichstagsfraktion und den heutigen Parteiredaktionen entsprechen, eine die ganze Partei bindende Parole ausgeben zu dürfen glaubten. Wie heute lautete sie damals: Schickt euch in die arge Zeit! Jedoch wie heute fanden sich auch damals Parteigenossen, die der Meinung waren, dass in arger Zeit die Parteiprinzipien um so höher gehalten werden müssten, und die deshalb als „Disziplinbrecher", „Eigenbrötler", „Parteischädlinge" usw. verfemt wurden. Es dauerte aber nicht ein Jahr, und aus diesem „sehr kleinen Häuflein" war eine sehr große Masse geworden, nämlich die alte prinzipienklare und prinzipientreue Sozialdemokratie.

Ob es diesmal wieder so kommen wird, wollen wir gern abwarten. Einstweilen schöpfen wir aus der historischen Erinnerung, die wir heraufbeschworen haben, nur die Lehre, dass wir Narren wären, wenn wir uns durch den Spektakel über unsern angeblichen „Disziplinbruch" verblüffen ließen und nicht vielmehr einfach darauf pfiffen.

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