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Franz Mehring 19141221 Eine historische Untersuchung

Franz Mehring: Eine historische Untersuchung

21. Dezember 1914

[ungezeichnet, Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 130, 21. Dezember 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 651-653]

Eine Reihe von Parteiblättern wird nicht müde, die Schatten von Engels und Marx zu beschwören, um zu beweisen, dass diese beiden Vorkämpfer des internationalen Proletariats sich über den gegenwärtigen Weltkrieg im Stil deutscher Kriegsvereinsreden äußern würden. Das soll namentlich durch die Stellung der beiden Männer zum Kriege 1870 bewiesen werden.

Soweit es sich dabei um die praktische politische Diskussion handelt, möchten wir nicht darauf eingehen. Es steht immer schlecht um eine Sache, wenn sie nicht mit sachlichen Gründen verteidigt werden kann, sondern durch Berufung auf irgendwelche Autoritäten entschieden werden soll. Wir an unserem Teil betreten so schlüpfrige Wege nicht und würden unsere sachliche Überzeugung auch dann vertreten, wenn wir irgendwelchen Grund zu der Annahme hätten, dass Engels und Marx heute anderer Ansicht sein würden. Damit würden wir auch nur im Geiste dieser Männer handeln. Aber vom rein historischen Standpunkt hat es natürlich einen großen Reiz, zu untersuchen, wie unsere Vorkämpfer sich zum gegenwärtigen Weltkrieg stellen würden, und dieser Untersuchung wollen wir gern einige Augenblicke widmen.

Zunächst wenn die Haltung, die Marx und Engels zu einem früheren Krieg eingenommen haben, etwas für ihre Haltung zum gegenwärtigen Krieg beweisen soll, so könnte sich auch der Blutzar auf sie berufen. Er könnte uns deutschen Sozialdemokraten sagen: Aber, ihr guten Leute, was klagt ihr denn darüber, dass ich euer Vaterland überfallen habe? Wollten euer Marx und Engels im Jahre 1848 nicht auch unser Vaterland überfallen, obgleich wir damals ganz still hinter unsern Grenzen saßen und keiner europäischen Fliege ein Leid zufügten? Lest doch nur die „Neue Rheinische Zeitung"! Gestern mir, heute dir. Das ist nun mal so der Lauf der Welt. Der Blutzar würde damit genauso verfahren wie die Parteiblätter, die sich auf Marx und Engels berufen: Weil beide sich früher für einen Krieg begeistert haben, sollen sie für alle späteren Kriege haftbar gemacht werden.

Soweit wir uns noch zu erinnern vermögen, waren Marx und Engels in erster Reihe Historiker, die sich ihr Urteil über Kriege je nach den bestimmten historischen Umständen bildeten, unter denen ein Krieg stattfand. Im Jahre 1870 urteilten sie etwa so:

Wir haben seit Jahrzehnten eine nationale Revolution geschürt, um die deutsche Einheit herzustellen, deren die deutsche Arbeiterklasse für ihre Emanzipation unbedingt bedarf. Diese Revolution ist gescheitert an der Feigheit der Bourgeoisie und der Schwäche des Proletariats. Dafür hat Bismarck sie hergestellt im Jahre 1866, zwar in sehr verkümmerter und verstümmelter Form, aber doch so, dass der Arbeiterklasse damit mehr genützt ist als mit der Fortdauer der elenden Vielstaaterei, wie sie bis zum Jahre 1866 in Deutschland bestanden hat. Wenn nun Bonaparte diese elende Vielstaaterei im Interesse seiner schuftigen Despotenwirtschaft wiederherstellen will, so haben die deutschen Arbeiter allen Anlass, sich zu widersetzen, unter gleichzeitiger schroffster Ablehnung der Regierungspolitik, die auf Sicherung der Grenzen, das heißt auf Annexion französischen Gebiets, abzielt.1

Sobald diese Absicht Bismarcks klar wurde, haben nicht nur Marx und Engels sie aufs schroffste bekämpft, sondern haben auch alle sozialdemokratischen Abgeordneten die Kriegskredite verweigert.

Was hat das alles nun mit dem gegenwärtigen Krieg zu tun? Für den beschränkten Untertanenverstand gar nichts. Aber nach der Ansicht höherer Instanzen würden Marx und Engels heute so sprechen: Wir haben auf den Kongressen der Internationale den Imperialismus und Militarismus mit den stärksten Worten bekämpft und so auch den imperialistischen Weltkrieg, von dem wir richtig vorausgesagt haben, dass er über kurz oder lang einmal ausbrechen werde. Aber nachdem er nunmehr ausgebrochen ist, müssen wir Kriegsvereinsreden halten und eine Politik treiben, die auch die grimmigsten Feinde der Arbeiterklasse zu dem reumütigen Bekenntnis zwingt, dass wir gewiegte Staatsmänner sind. Versteht uns aber recht, Proletarier aller Länder! Wenn wir auch die Beschlüsse der Internationalen Kongresse als Fidibusse behandeln, so steht doch die Internationale in voller Glorie da, und sobald nur erst der Friede geschlossen sein wird, werden wir dem Imperialismus und Militarismus wieder gewaltig auf den Leib rücken und durch feierliche Resolutionen jeden neuen Weltkrieg verhindern. So würden Marx und Engels heute sprechen, nach Ansicht der Parteiblätter, die ihren Namen unnütziglich im Munde führen.

Darf sich der beschränkte Untertanenverstand überhaupt noch ein schüchternes Wort erlauben, so halten wir diese Auffassung für irrig; wir meinen vielmehr, dass noch kein Bauer so unverdrossen mit der Leiche seiner Frau gekebst hat wie jene Parteiblätter mit dem Andenken unserer großen Vorkämpfer.

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