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Franz Mehring 19140618 Molochs Selbstanklage

Franz Mehring: Molochs Selbstanklage

18. Juni 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 69, 18. Juni 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 636-638]

Der Militarismus hat schon viele Ankläger gefunden, und darunter sehr scharfe, aber noch niemand hat ihn so hart angefasst wie der Kriegsminister von Falkenhayn mit den Strafanträgen, die er gegen die Kritiker der Soldatenmisshandlungen gerichtet hat.

Gegen die Kritiker nicht einmal, sondern nur gegen diejenigen Nutznießer der deutschen Pressfreiheit, die die Soldatenmisshandlungen als eine Erscheinung erwähnt haben, die im deutschen Heere an der Tagesordnung sei. Die Erwähnung dieser Tatsache, an der nun einmal nicht zu rütteln ist, soll nach Ansicht des preußischen Kriegsministers eine Beleidigung des deutschen Offizierskorps enthalten, denn es wäre dabei unterstellt, dass die Offiziere nicht mit der genügenden Energie und Schärfe gegen die Misshandlungen der Soldaten einschritten.

Über diese halsbrecherische Logik an sich brauchen nicht viele Worte verloren zu werden. Wenn man die notorische Tatsache erwähnt, dass die Prostitution und das Zuhältertum in Berlin an der Tages- oder auch Nachtordnung seien, so wird nächstens Herr v. Jagow wegen Beleidigung der Berliner Polizei klagen, weil diese nicht mit dem nötigen Eifer gegen die Prostitution und das Zuhältertum einschreite. Nun gehört die Logik gewiss nicht zu den hervorragenden Eigenschaften eines forschen Kriegsmanns, aber in dem Falle der Soldatenmisshandlungen liegt die Sache doch noch ganz besonders. Um die Strafanträge des Herrn v. Falkenhayn zu verstehen, muss man sein Bekenntnis mit heranziehen, dass ihm die ganze Kultur gestohlen werden könne, in welchem heroischen Verzicht er die moderne Arbeiterbewegung als die größte Kulturerscheinung der Weltgeschichte mit einbegreifen mag.

Denn sonst müsste er doch wissen, dass die sozialdemokratische Agitation zwar eine unerbittliche Gegnerin des Militarismus ist, aber dass sie ihn deshalb nie für so dumm gehalten hat, um an den Soldatenmisshandlungen seine Freude zu haben. Seit einem Menschenalter und länger ist in sozialdemokratischen Reden, Schriften, Zeitungen immer wieder gesagt worden: Wir glauben gern, dass die Heeresverwaltung alles Mögliche tut, um die Soldatenmisshandlungen auszurotten; wir glauben gern, dass sie es als einen Schandfleck des „herrlichen Kriegsheeres" empfindet, wenn aus seinem Schoße immer wieder so erbärmliche und feige Schufte auftauchen, wie misshandelnde Vorgesetzte sind. Aber solange das „Volk in Waffen" nicht mehr als eine täuschende Redensart ist und solange sich das deutsche Heer nicht von der Organisation jener Söldnerheere frei zu machen weiß, deren Seele die Disziplin der Entnervung war, solange werden die Soldatenmisshandlungen sich als unausrottbar erweisen.

Das altpreußische Heer, das Heer des alten Fritz, wurde zusammengehalten durch den Kitt der Soldatenmisshandlungen. Es bestand zur größeren Hälfte aus geworbenen, d. h. durch eine Handvoll Geld und einen Sack voll trügerischer Versprechungen heran gelockten Ausländern, zur kleineren Hälfte aus gewaltsam gepressten Inländern. Nach Art der „großen Männer" oder, wie die hohenzollernschen Historiker sagen, „mit der Naivität des Genius" verachtete Friedrich alle moralischen Einwirkungen auf die „Kerls"; der Stock sollte sie zusammenhalten und hielt sie zusammen. „Respekt vor dem Stock" war das Zaubermittel der Disziplin, das der König seinen Generalen nicht oft und nicht scharf genug einzuprägen wusste.

Nirgends auf der weiten Welt wurde so viel geprügelt wie im preußischen Heere, auch noch zur Zeit, wo in den Söldnerheeren kultivierterer Staaten dies Mittel der Disziplin längst als infam galt. Als die französische Heeresverwaltung, geblendet durch die scheinbaren Erfolge des preußischen Despoten, die Prügelstrafe in ihr Heer einführen wollte, scheiterte sie kläglich; mit Recht sagte der alte Ziegler einmal im Reichstage: „Es gehört zu den schönsten Seiten in der Geschichte des französischen Volks, dass der Unteroffizier, der im ersten Falle diese Prügel austeilen musste, sofort das Gewehr ergriff und sich als Geschändeter vor der Front erschoss." Was bei der preußischen Prügelmethode wirklich herauskam, zeigte sich bei Jena und Auerstedt.

Aber auch nach diesem furchtbaren Zusammenbruch war der Stock noch nicht endgültig aus dem preußischen Heere verabschiedet. Selbst der Freiherr vom Stein hielt an der Prügelstrafe fest. Es war das Verdienst Scharnhorsts und Gneisenaus, dass sie offiziell abgeschafft wurde. Scharnhorst wandte gegen Stein ein: „Kein Soldat ist so erbärmlich gepeitscht wie der preußische, und keine Armee hat weniger geleistet." Und Gneisenau schrieb seine berühmte Abhandlung über die „Freiheit der Rücken". Jedoch selbst diese Männer, so frei sie von junkerlichen Vorurteilen waren, konnten sich den ehernen Konsequenzen der Dinge selbst nicht entziehen; da sie ihre Heeresreformen gegen den halsstarrigen Willen des Königs und der Junker nur in schwächlicher Weise durchführen und dem alten Söldnerheere keinen gründlichen Kehraus tanzen konnten, so mussten sie am letzten Ende auch nach dessen Pfeife tanzen, und Gneisenau hat im Herbste 1813 über die schlesische Landwehr ebenso barbarische Strafen verhängt, als wären die Helden von Jena noch am Ruder gewesen.

Nach dem Siege über Napoleon wurden die paar militärischen Reformer alsbald zum Teufel gejagt, und König- wie Junkertum setzten ihre ganze Kraft daran, alle volkstümlichen Elemente aus der Heeresverfassung zu entfernen und diese in ihren vorjenaischen Stand zurückzuführen. Es galt nunmehr wieder die Disziplin der Entnervung bis in ihre letzten Konsequenzen durchzuführen, den Soldaten wehr- und willenlos gegenüber seinen Vorgesetzten zu machen, den Ungehorsam selbst gegen wahnsinnige Befehlshaber mit lebenslänglichem Zuchthause zu strafen, das Schießen auf Vater und Mutter je nach dem Befehle des Kriegsherrn als ehrenvolle Soldatenpflicht zu erklären. Freilich so ungeniert, wie in den Tagen vor Jena, ließen sich diese Zustände nicht wiederherstellen, zumal da doch auch die holde Mär vom „Volke in Waffen" aufrechterhalten werden musste. So wagte man den Stock nicht wieder in seine altpreußische Herrlichkeit einzusetzen, aber da alle Voraussetzungen dieser Herrlichkeit von neuem gegeben waren, so fand sich der unheimliche Gast auch ungebeten ein.

Aus dieser Sachlage zieht nun der preußische Kriegsminister seine sonderbaren Schlussfolgerungen. Will er der Sozialdemokratie beweisen, dass die Heeresverwaltung nach Kräften die Soldatenmisshandlungen auszurotten sucht, so rennt er offene Türen ein; die Sozialdemokratie ist überzeugt, dass der heutige Militarismus gern diese Frucht los wäre, an der sein abschreckendes Wesen am ehesten erkannt werden kann, und hat nie etwas anderes behauptet.

Will Herr v. Falkenhayn aber nur der patriotischen Welt beweisen, dass er und seine Offiziere die äußerste Kraft daransetzen, die Soldatenmisshandlungen auszurotten, ohne dass sie doch trotz ihrer schrankenlosen Machtvollkommenheit ihr anerkennenswertes Ziel erreichen, so kann der Militarismus sich selber nicht wirksamer anklagen.

gez.: F. M.

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