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Franz Mehring 19140212 Neue Parteiliteratur

Franz Mehring: Neue Parteiliteratur

12. Februar 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 18, 12. Februar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 614-616]

Neue Parteiliteratur oder – je nachdem man will – alte Parteiliteratur. Kaum hat sich uns im Briefwechsel zwischen Engels und Marx ein Bergwerk erschlossen, das in seinen – mitten durch zerklüfteten Fels laufenden – Goldadern allmählich erst abgebaut werden kann, als neue Schriften beider Männer erscheinen: die eine von Marx, die bisher in einem bürgerlichen Verlage, wenigstens für Arbeiterleser, halb vergraben war, aber nunmehr nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist frei geworden ist, die andere von Engels, die zum ersten Male aus seinem handschriftlichen Nachlass auftaucht.

Die erste Schrift – Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte ist unter dem unmittelbaren Eindruck des Staatsstreiches geschrieben worden, durch den sich Napoleon III. am 2. Dezember 1851 auf eine Reihe von Jahren zum Herrn von Frankreich machte. Er wurde darob von ganz Europa angestaunt, als Gesellschafts- und Staatsretter gefeiert, selbst von seinen Gegnern als eine unheimliche Geistesgröße gefürchtet. Man lauschte atemlos den Orakelsprüchen, die am Neujahrstage aus den Tuilerien erschollen; und auch Bismarck pilgerte an den Hof dieses gekrönten Abenteurers, um dessen gnädige Duldung für das eiserne Würfelspiel des Jahres 1866 zu ergattern.

Marx aber schrieb auf frischer Tat die Geschichte des bonapartistischen Staatsstreichs, den die einen nur bewundern, die andern nur verabscheuen konnten. Es war eine der ersten Proben, die er mit seiner historischen Theorie auf die Geschichte der Gegenwart machte, und die kleine Schrift ist eine ihrer glänzendsten Proben geblieben. Funkelnd von Geist und Witz, den erfolgreichen Verbrecher tiefer ins Herz treffend, als es der größte Dichter Frankreichs, als es Victor Hugo mit seinen geistreichsten Scheltreden vermochte, ist sie zugleich ein Muster tief eindringender Geschichtsforschung, stellt sie dem bonapartistischen Regiment mit kaltblütiger Sicherheit das Horoskop seiner gleich schmachvollen Erfolge und Niederlagen.

Seitdem sie geschrieben wurde, sind zwei Drittel eines Jahrhunderts verflossen, aber dennoch entbehrt sie eines lebhaften Interesses für die politischen Fragen der Gegenwart nicht. Was Marx in ihr überzeugend nachweist, wie nämlich der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, die einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichten, das ist die Frage des Imperialismus überhaupt. Im einzelnen mögen die Umstände und die Verhältnisse und namentlich auch die Persönlichkeiten verschieden sein, obgleich vor fünfzig Jahren alle europäischen Herrscher von Gottes Gnaden mit dem nachgemachten Cäsar an der Seine die Bruderhand gehärtet haben: Im allgemeinen ist der scheinbare Glanz der modernsten Monarchie nichts anderes als der fahle Widerschein, den das lichterloh flammende Feuer der modernsten Klassenkämpfe in die Wolken wirft.

So dankenswert es ist, dass unser Stuttgarter Parteiverlag diese Schrift von Marx in seine kleine Bibliothek (Preis 1 Mark) aufgenommen hat, so möchten wir für eine neue Auflage doch den Wunsch nach einer erläuternden Vorrede aussprechen. Ein Personenverzeichnis und eine rein chronologische Übersicht, die dieser Ausgabe beigefügt sind, genügen nicht, um selbst nur dem vorgeschrittenen Arbeiter die um mehr als sechzig Jahre zurückliegenden Ereignisse, die Marx unter sein kritisches Messer nimmt, völlig zu erklären. Und auch ein Wort über die eigenen Schicksale der Schrift wäre in einer neuen Auflage wohl am Platze. Völlig von der europäischen Presse ausgeschlossen, bedrängt von nagenden Nahrungssorgen und quälender Krankheit, schrieb Marx sie für ein amerikanisches Blatt, das sein Freund und Gesinnungsgenosse Weydemeyer herauszugeben begonnen hatte. Aber ehe noch das Manuskript über den großen Teich gelangt war, hatte Weydemeyers Blatt schon zu erscheinen aufgehört, und die Schrift hätte überhaupt nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt, wenn nicht ein deutscher Arbeiter, ein Schneider aus Frankfurt, hochherzig genug gewesen wäre, seine ganzen Ersparnisse in der Höhe von vierzig Dollar für ihre Drucklegung zu opfern. So ist die Schrift auch ein rühmliches Denkmal proletarischer Opferwilligkeit.

Wie viel ein klassisches Werk unserer Parteiliteratur durch eine zugleich gemeinverständliche und sachverständige Erläuterung gewinnen kann, zeigt der erste Entwurf, den Friedrich Engels für das Kommunistische Manifest gemacht1 und den Genosse Bernstein jetzt aus dem Nachlass des Verfassers im Verlage des „Vorwärts" herausgegeben hat (Preis 50 Pf.). Für den, der das Kommunistische Manifest geistig in sich aufgenommen hat, bietet die kleine Veröffentlichung freilich nur den Reiz eines fesselnden Einblicks in die Gedankenwerkstatt, aus der eine weltgeschichtliche Urkunde hervorgegangen ist. Aber um das Manifest völlig zu bewältigen, bedarf es schon eines nicht geringen Maßes von Vorbildung, und auf dem Wege dazu kann man sich keinen besseren Führer wünschen als diesen Entwurf von Engels.

Er ist in der Form eines Katechismus abgefasst: in 25 Fragen und Antworten. Was ist der Kommunismus? Was ist das Proletariat? Wie ist das Proletariat entstanden? Wie unterscheidet sich der Proletarier vom Sklaven, vom Leibeigenen, vom Handwerker, vom Manufakturarbeiter? Und so weiter. Einzelne Antworten, die in dem Manuskript ausgefallen sind, hat Bernstein aus dem Kommunistischen Manifest sachgemäß ergänzt. Ohne Zweifel war es ein Fortschritt, dass Marx und Engels für die schließliche Redaktion des Manifestes die Katechismusform aufgaben und die historische Darstellung vorzogen, die ihnen gestattete, einen noch reicheren Inhalt in eine noch knappere Form zu fassen. Aber mit der wachsenden Höhe des stolzen Baus brachen auch manche Brücken des Verständnisses ab, die in dem ersten, schlichteren Entwurf noch vorhanden sind.

Auffallend tritt in ihm die Ähnlichkeit mit den Grundgedanken von Lassalles späterer Agitation hervor: das eherne Lohngesetz in der Fassung Ricardos, das Zensuswahlrecht als untrügliches Kennzeichen der Bourgeoisieherrschaft, die Forderung, womit Lassalle Produktivassoziationen begründete, zunächst einen ersten radikalen Angriff gegen das Privateigentum zu unternehmen, „so wird das Proletariat sich gezwungen sehen, immer weiter zu gehen, immer mehr alles Kapital, allen Ackerbau, alle Industrie, allen Transport, allen Austausch in den Händen des Staates zu konzentrieren"2. Die schroffe Ablehnung von Lassalles Agitation erklärt sich bei Marx und Engels wenigstens zum Teil daraus, dass gerade ehrliche und kluge Menschen am unerbittlichsten gegen Irrtümer zu sein pflegen, die sie selbst einmal gehegt, aber in heißer Arbeit überwunden haben.

gez.: F. M.

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