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Franz Mehring 19140319 Null und nichtig

Franz Mehring: Null und nichtig

19. März 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 33, 19. März 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 623-625]

Über den Scheinkonstitutionalismus hat Lassalle in seinen Verfassungsreden schon alles Nötige gesagt, und fünfzig Jahre deutscher Geschichte haben dafür gesorgt, dass jedes seiner Worte mit einer Fülle drastischer Beispiele erläutert werden kann.

Aber er selbst hätte sich schwerlich träumen lassen – trotz seiner geringen Meinung von der deutschen Bourgeoisie –, dass sie fünfzig Jahre nach seinem Tode auf dem Gebiet des Scheinkonstitutionalismus noch Proben ihrer Leistungsfähigkeit ablegen würde, von denen er sich bei seinen Lebzeiten bei alledem nichts träumen ließ.

Dazumal, in den Tagen des preußischen Militärkonflikts, gefiel sich das preußische Abgeordnetenhaus darin, eigenmächtige Beschlüsse der Regierung für null und nichtig zu erklären. Darüber spottete Lassalle, da mit dieser bloßen Wortberauschung in hochtönenden Beschlüssen noch kein Stein vom andern gerückt würde. Aber der deutsche Reichstag kann mehr als seinerzeit das preußische Abgeordnetenhaus. Er verschmäht den leeren Apparat hochtönender Worte und weiß seinen Null- und Nichtigkeitserklärungen dennoch eine zerschmetternde Wirkung zu geben. Indem er in seiner laufenden Session wiederholt, in der Affäre Zabern, in der Duelldebatte usw., vor den Herausforderungen des Militarismus zurückgewichen ist, erklärt er sich selbst für null und nichtig. Und dies Urteil vollstreckt er zugleich, indem er es fällt.

Ein Parlament, das eine Beschwerde, die es gegen die Krone erhoben hat, auf eine drohende Gebärde der Krone fallen lässt, ist kein Parlament mehr im historischen Sinne des Wortes, sondern nur noch das trügerische Scheinbild eines Parlaments. Worin das historische Wesen eines Parlaments besteht, das hat schon vor fast genau siebenhundert Jahren, im Jahre 1215, die englische Magna Charta1 ausgesprochen, die Geburtsurkunde des europäischen Parlamentarismus.

In ihr heißt es, dass, wenn das Parlament eine Beschwerde erhebe und die Krone diese Beschwerde nicht innerhalb vierzig Tagen abstelle, so soll das Parlament „zusammen mit der ganzen Gemeinde des Reichs Uns" – nämlich die Krone – „auf alle mögliche Weise zwingen und verkümmern lassen durch Beschlagnahme unserer Schlösser, Ländereien und Besitzungen, und auf welche andere Weise sie können, bis die Beschwerde abgestellt ist, jedoch ohne Harm für Unsere Person, Unsere Gemahlin und Unsere Kinder, und wenn die Beschwerde abgestellt ist, werden sie Uns gehorchen wie zuvor. Und jede Person im Königreich mag schwören, dass sie den Befehlen des Parlaments gehorchen und Uns mit ihm verkümmern will nach bestem Vermögen." So verpflichtete sich der König Johann ohne Land seinem aufständischen Volke, und eben daraus erwuchs die Macht des englischen Parlaments, dass es auf jeder Beschwerde bestand, bis sie abgestellt worden war; höchstens dass es an seinem Teil die Abmachungen der Magna Charta übertrat und einem widerspenstigen Träger der Krone auch an seiner Person einigen „Harm" zufügte, wie jenem Könige Karl, den es aufs Blutgerüst schickte.

Damit vergleiche man die Unzahl von Beschwerden, die der deutsche Reichstag jahraus, jahrein an die Reichsregierung richtet, ohne einen anderen Erfolg, als dass er damit die Papierkörbe des Bundesrats füllt! Nicht genug damit, dass sich der Reichstag en Canaille behandeln lässt, nicht genug damit, dass er die überwältigenden Machtmittel, die die Regierung ihm gegenüber bereits besitzt, nicht anzutasten wagt, spendet er ihr fort und fort neue Machtmittel, selbst wenn sie nach der Überzeugung seiner Mehrheit dem allgemeinen Wohle schädlich sind, nur aus Angst vor einem jener „Konflikte", in denen dies Parlament, das etwas bedeuten will, gerade seine Bedeutung zu zeigen hat. Indem der Reichstag immer die Flagge streicht, ehe es zum Kampfe kommt, lässt er seine Waffen – und bei all seinen spärlichen Rechten hat er Waffen genug, um wirksam zu kämpfen, wenn er nur kämpfen will – gänzlich verrosten und verliert darüber mehr und mehr an moralischem Ansehen, das zwar an und für sich noch keine Macht ist, aber das, wo es hinschwindet, am sichersten die wachsende Ohnmacht bekundet.

An diesem traurigen Stande der Dinge tragen alle bürgerlichen Parteien ihren Teil der Schuld, und weniger denn jemals früher darf man darauf hoffen, dass sich eine von ihnen bessern und der deutsche Parlamentarismus einen neuen Aufschwung nehmen wird. Man kann froh sein, wenn er nicht noch tiefer sinkt, wenn wenigstens dies äußerste Maß der Erniedrigung von ihm ferngehalten wird, dass er sich, wie einst beim Erlass des Sozialistengesetzes, auch den ausschweifendsten Angriffen der Regierung auf die Grundlagen eines verfassungsmäßigen Lebens fügt. Gegen solche Attentate hat der Reichstag in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Widerstandskraft gezeigt, ebenso wie gegen absolutistische Auswüchse, die allzu tief in die ökonomischen Interessen der besitzenden Klassen einschneiden würden. Allein dabei ist er kaum über die Grenzen hinausgegangen, die auch im absolutistischen Staat oft genug von bürokratischen Körperschaften der allzu anspruchsvollen Willkür der Krone gezogen worden sind. Ein Parlament, dessen einzige Leistungsfähigkeit darin besteht, äußersten Zumutungen des Absolutismus gegenüber noch Fuß beim Mal zu halten, ist kein wirkliches Parlament, sondern im günstigsten Falle eine Körperschaft, die sich mit einem vormärzlichen Staatsrat vergleichen lässt.

Indem wir diese Ohnmacht des Reichstags feststellen, wissen wir uns frei von jeder Schadenfreude. Der bürgerliche Parlamentarismus ist ein notwendiges Durchgangsstadium der geschichtlichen Entwicklung, und wir haben selbstverständlich nichts mit den Reaktionären zu tun, die das gesunkene Ansehen des Reichstags benutzen, um die Rückkehr zu feudalständischem oder sonstigem, geschichtlich überlebtem Unwesen zu fordern. Solchen Leuten gegenüber muss man durchaus zum Reichstage halten, mag er sonst sein, wie er will. Aber in aller Politik ist klare und scharfe Erkenntnis der wirklichen Lage immer das oberste Gesetz, und die Frage nach der tatsächlichen Macht des Reichstags hat eine hohe Bedeutung auch für die Politik der Arbeiterklasse. Entschließt man sich, auf einem bestimmten Gelände zu kämpfen, so muss man dessen Natur genau studieren, um nicht auf dem einen Kampfplatz nutzlos zu vergeuden, was auf einem anderen Kampfplatz mit größerer Wirkung eingesetzt werden könnte.

Und für eine Klasse, die so auf den Kampf gestellt ist wie das Proletariat, gibt es günstigere Kampfplätze als ein Parlament, das jedem Kampfe den perversen Genuss vorzieht, sich selbst für null und nichtig zu erklären.

gez.: F. M.

1 Magna Charta Libertatum (lat.) – Große Urkunde der Freiheiten, als Gesetz am 15. Juni 1215 vom englischen König Johann ohne Land erlassen; es bestätigte und erweiterte die Privilegien der Feudalaristokratie, regulierte die Abgaben des niederen Adels, erweiterte die Selbstverwaltung der Städte, sicherte Handelserleichterungen und vereinheitlichte Masse und Gewichte; die königlichen Geldforderungen an die Stände wurden juristisch fixiert und allen Freien Rechtssicherheit gegen königliche Übergriffe zugesichert. Ein Kontrollkomitee des Hochadels wurde zum Beginn der parlamentarischen Ständeversammlung. Mit der M. Ch. beginnt die verfassungsmäßige Beschränkung der englischen Krone.

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