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Franz Mehring 19140822 Partei und Vaterland

Franz Mehring: Partei und Vaterland

22. August 1914

[ungezeichnet, Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 91, 22. August 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 642 f.]

Dem Weltkriege, der nun schon drei Erdteile in seine Strudel gerissen hat, ist die internationale Arbeiterklasse mit aller Kraft entgegengetreten, doch hat diese Kraft nicht ausgereicht, ihn zu hindern.

So treibt auch ihr Schiff auf dem tosenden Meere, aber deshalb darf es nicht ein willenloses Spiel der Wellen werden. Es muss nach wie vor seinen Kurs nach dem ruhig flammenden Lichte steuern, das vom Leuchtturm des Sozialismus strahlt. Und vor allem von der deutschen Sozialdemokratie, der mächtigsten Organisation des internationalen Proletariats, kann nur das deutsche Dichterwort gelten:

Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen,

Wind und Wellen nicht mit ihrem Herzen,

Herrschend blickt sie in die grimme Tiefe."

Eine harte Notwendigkeit zwingt sie, Schulter an Schulter mit denen zu kämpfen, die sie seit einem halben Jahrhundert bedrängt und bedrückt, geschmäht und verlästert haben. Deshalb erfüllt sie mit gleichem Eifer ihre Pflicht, so wie sie diese Pflicht aus der souveränen Kraft ihrer eigenen Grundsätze erkannt hat. Sie hütet sich, das stolze Erbe ihrer Vergangenheit der wohlfeilen Phrase vom großmütigen Vergeben und Vergessen zu opfern; ihre Proteste gegen den Weltkrieg wären Schall und Rauch gewesen, wenn sie nicht entschlossen wäre, ihren Emanzipationskampf fortzuführen, auch in dem Weltkriege und über den Weltkrieg hinaus.

Wenn sie Schulter an Schulter mit ihren bisherigen Unterdrückern kämpft, so mischt sie nur Blut mit Blut, aber nicht Geist mit Geist. An dem granitenen Bau ihrer Gedankenwelt fließt der sprühende Gischt der Phrasen spurlos ab. Krieg dem Zarismus! – jawohl, aber diesen Krieg führen unsere russischen Brüder seit Jahrzehnten mit unvergleichlichem Heldenmut, und sie allein können ihn siegreich ausfechten, nicht aber diejenigen, die den Zarismus geschützt haben, auch gegen unsere Brüder, und die ihn wieder schützen und stützen werden, sobald sie sich nur selbst vor seinen räuberischen Tatzen gesichert haben.

Verteidigung des Vaterlandes! – jawohl, aber wann war das Vaterland tiefer erniedrigt als in den Tagen der Karlsbader Beschlüsse1 und in den Tagen des Sozialistengesetzes? Zum dritten Male in einem Jahrhundert ziehen die Massen der deutschen Nation in den Krieg, um Ströme von Blut für das Vaterland zu vergießen. Wie 1813 und 1870 lastet wieder auf ihnen die schwerste Wucht des Krieges, aber sie hätten 1813 und 1870 noch ein glückliches Los gezogen, wenn ihnen auch der geringste Lohn geworden wäre. Was sie sich damals wirklich erkämpft haben, steht auf den dunkelsten Blättern der deutschen Geschichte geschrieben. Sechs Jahre nach 1813 kamen die Karlsbader Beschlüsse, acht Jahre nach 1870 kam das Sozialistengesetz.

Die Geschichte braucht sich nicht zu wiederholen, und wir hoffen zuversichtlich, dass sie sich in diesem Falle nicht wiederholen wird. Aber wir bauen unsere Zuversicht nicht auf die Verheißungen und Versprechungen der herrschenden Klassen, so gern wir annehmen, dass diese Verheißungen und Versprechungen ehrlich gemeint und nicht etwa bloß auf eine Täuschung der Massen berechnet sind. Das wäre eine bodenlose Nichtswürdigkeit, die wir auch unsern heftigsten Gegnern nicht zutrauen. Aber ist uns die Lehre unserer großen Meister, dass in geschichtlichen Kämpfen nicht der gute Wille der Menschen entscheidet, sondern der eherne Zwang der Dinge, nicht einmal hauttief gedrungen? Siegt das Deutsche Reich in diesem Kriege, so sind seine besitzenden Klassen um soviel mächtiger und seine arbeitenden Klassen um soviel schmächtiger; dann können die Überlieferungen von 1813 und 1870 nur beschworen werden durch die deutsche Sozialdemokratie, die, ob sie auch aus tausend Wunden blutet, auf der Wacht steht, entschlossen, fertig, klar. In diesem geschichtlichen Sinn ist die Ehre des Vaterlandes die Ehre der Partei, ist die Ehre der Partei die Ehre des Vaterlandes.

Das gilt in noch höherem Grade von den verhängnisvolleren Wechselfällen, die der Weltkrieg mit sich führen kann. Stürmen unsere Brüder in Waffen vorwärts in Feindesland, so handeln wir in gleichem Geist und gleichem Interesse, wenn wir rufen: Zurück auf die Schanzen! Der Weltkrieg ist die Feuertaufe auch des deutschen Sozialismus; sengt sie sein Haupt, so wird die Geschichte von ihm sagen: Gewogen und zu leicht befunden! Vor diesem furchtbaren Urteil sichern wir uns nur, indem wir auch in allem Sturm und Wetter des Weltkriegs unsern Grundsätzen treu bleiben und unserer glorreichen Vergangenheit.

1 Die Ermordung Kotzebues durch den Burschenschaftler Sand wurde von Metternich als Anlass benutzt, auf der Ministerkonferenz der deutschen Bundesstaaten im August 1819 die so genannten Karlsbader Beschlüsse durchzusetzen. Sie bestimmten die strenge Überwachung aller Universitäten, das Verbot von Studentenverbindungen, verschärfte Zensur für Zeitschriften und Bücher und die Einsetzung einer Zentralkommission zur Untersuchung aller „revolutionären Umtriebe".

Bei den nach dem 4. August in der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" veröffentlichten Artikeln Mehrings ist zu beachten, dass sie bereits unter Kriegszensur erschienen sind. Mehring und die Mitherausgeber der Korrespondenz – Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski (Karski) – hofften, dass wenigstens einige der kleineren sozialdemokratischen Parteiblätter, die vor dem Kriege der radikalen Richtung zugehörten, ihre Artikel nachdrucken würden. Das scheint aber nur in seltenen Ausnahmen der Fall gewesen zu sein.

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