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Franz Mehring 19140521 Politisch oder sentimental?

Franz Mehring: Politisch oder sentimental?

21. Mai 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 57, 21. Mai 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 629-631]

In den parlamentarischen Verhandlungen der letzten Wochen, sowohl des deutschen Reichstags wie des preußischen Abgeordnetenhauses, ist vielfach der polizeiliche Kleinkrieg berührt worden, der in dem Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte gegen die Bemühungen der Arbeiterklasse geführt wird, sich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft und mit Mitteln, die von ihr selbst durchaus erlaubt sind, einen bescheidenen Anteil an den Schätzen der modernen Kultur zu erwerben.

Es handelt sich dabei um die polizeiliche Drangsalierung der Gewerkschaften, der von den Genossenschaften gegründeten „Volksfürsorge", der Bildungsbestrebungen, der Jugendbewegung, der Freien Volksbühne1 usw. Selbst die abgebrühtesten Reaktionäre können nicht leugnen und geben sich auch gar nicht einmal die Mühe zu leugnen, dass in diesen Bestrebungen viel Notwendiges und Nützliches stecke und dass sie, unabhängig von allem Streite der Parteien, die nationale Wohlfahrt zu fördern geeignet seien. Aber, so fügen sie hinzu, ihr verdammten Sozialdemokraten könnt es nun einmal nicht lassen, in diese an und für sich ja sehr schönen Dinge eure ruchlose Politik zu mischen. So dürft ihr euch auch nicht wundern, wenn wir den politischen Angriff politisch abwehren und euch die Polizei und den Staatsanwalt ins Haus schicken, nicht nur wegen eurer sonstigen hochverräterischen Reden und Taten, sondern auch wegen solcher Bestrebungen, mit denen ihr es sonst ganz gut meinen mögt und mit denen wir uns unter andern Umständen ganz wohl befreunden könnten.

Darauf kann man nun auf zweierlei Art antworten: sentimental oder politisch. Man kann sagen: Aber was wollt ihr denn? Wir sind ja die reinen Unschuldslämmer. Beweist uns doch einmal, dass wir in der Freien Volksbühne oder in der Jugendbewegung oder in den Gewerkschaften politische Agitation treiben. Wir denken ja gar nicht daran. Und nun kommt ihr und kujoniert uns auf eure falschen Vorstellungen hin mit euren Nücken und Tücken. Ist das recht, ist das vernünftig, ist das den Gesetzen und der Verfassung gemäß? Das könnt ihr nun und nimmer behaupten, und so schämt euch des schmählichen Unrechts, das ihr an uns begeht.

Mit solchen sentimentalen Reden hat der bürgerliche Liberalismus nun schon so manches Jahrzehnt die Prügel begleitet, die ihm die bürokratische und feudale Reaktion unablässig verabreichte. Statt ehrlich zu sagen, dass er dieser Reaktion herzhaft an den Leib wolle, und demgemäß die Hiebe, mit denen sie ihm zuvorkam, ihr dreifach zurückzugeben, gefiel er sich in keiner Stellung so sehr wie in der Pose der schmählich verfolgten Unschuld. Er besaß immer die wahre Gottesfurcht und die wahre Königstreue, obgleich ihm weder an Gott noch am Könige, sondern nur am Profit etwas gelegen war. Allein so rührend diese sentimentale Politik oft sein mochte, sowenig kann man behaupten, dass sie je erfolgreich gewesen wäre. Im Gegenteil ist der Liberalismus dabei heruntergekommen, er wusste selbst nicht wie, was ihn jedoch nicht hindert, immer wieder sein tränenfeuchtes Auge zu den unerforschlichen Mächten der Vorsehung aufzuschlagen, wenn ihm der Stock des Junkertums auf dem Rücken tanzt.

Anders als die sentimentale, lautet die politische Antwort auf die Behauptung der Reaktion, dass die Sozialdemokratie in alle ihre Bestrebungen die politische Agitation mischen müsse. Diese Antwort lautet etwa: Euer Gedanke ist herzlich dumm, aber verwünscht gescheit. Mit den längsten Schnüffelnasen eurer Polizei werdet ihr nichts Politisches in den Gewerkschaften und Genossenschaften und in der Freien Volksbühne entdecken, aber euer böses Gewissen wittert doch nicht so um nichts und wieder nichts Unrat hinter diesen Bestrebungen, die eure eigenen Weisen loben und eure eigenen Gesetze erlauben. Ihr denkt wohl gar, dass die Arbeiter sich nicht deshalb an den Dramen Goethes und Schillers begeistern, um daraus neue Geduld zu schöpfen für ihren Sklavendienst in eurer lieblichen Gesellschaft? Oder dass die Arbeiterjugend sich nicht deshalb fortzubilden sucht, um desto tapferer zu hungern und desto lauter „Heil Dir im Siegerkranz" zu singen? Wenn ihr so dächtet, so wäret ihr ganz auf dem richtigen Wege; die Tugend des harmlosen Gottvertrauens ist der modernen Arbeiterklasse nur in winzigem Masse beschieden.

Wenn sie sich durch Mittel, die auch nach klaren bürgerlichen Begriffen erlaubt und sogar lobenswert sind, einen Anteil an den Schätzen der modernen Kultur zusichern will, so geschieht es wahrlich nicht, um sich für euren Frondienst geschickter zu machen oder euer Joch leichter zu tragen. Davon weiß ihre Seele nichts. Sie will sich vielmehr geschickter und kräftiger und stärker machen für den großen Emanzipationskampf, der sie aus den Fesseln der Lohnsklaverei befreien soll; sie schmachtet nach Vernunft und Wissenschaft, „des Menschen allerstärkster Kraft", um diese Kraft im Interesse ihrer Klasse zu verwenden. Das dämmert euch allmählich auf und daher euer Abscheu vor den Bestrebungen, von denen ihr selbst zugebt, dass sie der modernen Kultur dienen, aber von denen ihr fürchtet, dass sie eure Ausbeuterinteressen schädigen könnten. Sosehr ihr aber sonst daran gewöhnt seid, eure eigenen Prinzipien um eures Profites willen zu verschlucken, so ist euch die ganze moderne Kultur doch ein zu harter Bissen, um sie auf einmal zu verschlingen, und so habt ihr das Geschmuse erfunden, man müsse der Arbeiterklasse den Weg zur modernen Kultur verlegen, weil sie sonst ihre „politische Agitation" hineinmischen könne. Das mag noch verwünscht gescheit sein, denn so herzlich dumm seid ihr bei alledem doch nicht, dass ihr selbst daran glaubt.

Herzlich dumm aber ist es, wie ihr eurem Geschmuse zum Leben verhelfen wollt. Mit polizeilichen Nadelstichen wollt ihr den stürmischen Andrang einer wetterfesten und wetterharten Klasse zur modernen Kultur hemmen? Ah bah, ihr Edelsten und Besten, lasst euch doch nicht auslachen! Glaubt ihr, die Welt wiese nicht mit Fingern auf euch, wenn ihr Goethe und Schiller für die Arbeiterjugend mit dem großen Banne belegt, aus Angst um eure Geldsäcke? Aber bei alledem – so kindisch diese eure Politik ist, so hat sie doch eine recht vernünftige Wirkung, für die wir nicht undankbar sein wollen.

Alle jene Bestrebungen, die zwar zum großen Emanzipationskampfe des Proletariats, aber nicht zu dessen politischem Klassenkampfe gehören, führen die Gefahr einer gewissen Verweichlichung und Verzärtelung mit sich, einer gewissen Verdunkelung der eigentlichen Ziele, die uns gesteckt sind. Wenn ihr nun aber mit dem Polizeiknüppel nachweist, dass es auch in diesen Dingen hart auf hart geht, dass auch hier der Kampf geführt werden muss, der den Kämpfer stählt und stärkt wie kein anderer, nämlich der Kampf gegen gesetzlose Willkür, nun, so seid bedankt, dass ihr uns so wirksam vor allem Bildungsdusel, vor aller Theaterspielerei usw. behütet.

Dies wäre so etwa die politische Antwort auf das reaktionäre Geschwätz, das in den letzten Wochen so häufig gehört wurde, und es scheint uns, dass sie der sentimentalen Antwort vorzuziehen sei.

gez.: F. M.

1 1890 wurde in Berlin die Freie Volksbühne gegründet. Sie sollte zum Ausdruck der Arbeiterkultur auf dem Gebiet des Theaters werden. Franz Mehring vertrat als ihr Leiter von 1892-1896 ausdrücklich dieses Ziel. Als die Behörden 1896 forderten, der Verein müsse die Stücke von der Zensur genehmigen lassen, löste er sich auf. Zwei Jahre später wurde der Verein unter Leitung des Revisionisten Conrad Schmidt, mit veränderten Satzungen, wieder ins Leben gerufen. Mehring arbeitete im Vorstand mit, widersetzte sich aber dem kulturpolitischen Opportunismus. Aus freiwilligen Beiträgen wurde in Berlin das (im zweiten Weltkrieg zerstörte und jetzt wieder aufgebaute) Gebäude der Volksbühne errichtet, das am 30. Dezember 1914 eröffnet wurde.

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