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Franz Mehring 19140604 Politische Zwangskurse

Franz Mehring: Politische Zwangskurse

4. Juni 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 63, 4. Juni 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 632-635]

Wenn ein Staat am Abgrunde des Bankrotts steht, so sucht er sich durch den Zwangskurs seiner entwerteten Papiere zu retten. Es ist ein verzweifeltes Mittel und rettet nicht vor dem Bankrott, sondern gesteht ihn nur ein und beschwört ihn umso sicherer herauf.

Auch auf politischem Gebiete gibt es solche Zwangskurse, und sie sind sogar eine besondere Eigentümlichkeit des neudeutschen Reichs, das sich als ein „Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte" ankündigte, tatsächlich aber ein Reich der Menschenfurcht und entarteten Sitte geworden ist. Es sind jetzt gerade vierzig Jahre her, seit diese periodischen Zwangskurse mit dem Kurse Tessendorf begannen. Dann folgte der Hödel- und Nobilingkurs, darauf der zwölfjährige Kurs des Sozialistengesetzes, dann der Septemberkurs, der Hunnenkurs und wie sie sonst heißen mochten, bis zu dem neuesten Kurse, der sich erst als Kronprinzenkurs aufzutun schien, aber sich mehr und mehr als Kurs Falkenhayn-Puttkamer entpuppt.

Das Eigentümliche dieser politischen Zwangskurse besteht darin, dass die Autorität des Klassenstaats die ganz richtige Empfindung hat, wie sehr sie in ihren Grundfesten wankt, und ihrem entnervten Ansehen dadurch einen Zwangskurs zu geben sucht, dass sie möglichst viele Staatsbürger – am liebsten alle, die an ihr zweifeln – ins Gefängnis steckt, damit sie sich hinter schwedischen Gardinen von der Verkehrtheit ihrer Zweifel überzeugen. Das ist zwar altpreußische Praxis, die das Maulhalten immer in ebenso hohen Ehren gehalten hat wie das Soldatwerden und das Steuerzahlen, aber im neudeutschen Reiche erhebt sich diese Praxis jeweilig zu einem [der] historischen Kurse, von denen wir einige aufgezählt haben.

An Vorbedingungen solcher Kurse gibt es im Allgemeinen zwei. Entweder müssen die herrschenden Klassen gegenüber der modernen Arbeiterbewegung einmal wieder am Ende ihres Lateins sein, so dass sie daran verzagen, sie mit geistigen Waffen zu besiegen, und deshalb zu dem Knüppel greifen, den ihnen der liberale Schwätzer Lasker schon vor vierzig Jahren empfohlen hat. Oder aber sie planen einen selbst für ihre Begriffe ungewöhnlich verheerenden Raubzug auf die Taschen der darbenden Massen, so dass es ihnen notwendig erscheint, deren wirksamste Vorkämpfer mundtot zu machen, solange es noch Zeit ist.

Gewöhnlich treffen beide Momente zusammen, und so auch diesmal. Der Militarismus hat zwar in dem Falle Zabern einen großen Sieg erfochten, aber doch nur über die schwachköpfige und schwachmütige Mehrheit des Reichstags. Dieser Sieg war etwas gar zu großartig, denn die Massen der Nation, die nun doch einmal das „Volk in Waffen" sind, sagen sich ganz einfach, dass sie, wenn der Reichstag gegenüber den Anmaßungen Molochs so völlig versage, selbst sich schon ein wenig mit dem Ungetüm befassen müssen. Handelt es sich doch um ihre Haut, die in den unzähligen Soldatenmisshandlungen gegerbt wird. Woraus sich für die Logik des Militarismus ergibt, dass, wer den Massen von Soldatenmisshandlungen spricht, hinter die schwedischen Gardinen wandern muss.

Dazu kommt dann aber die bevorstehende Erneuerung der Handelsverträge und der „lückenlose Zolltarif", den die Land- und Schlotjunker ersehnen, um den Schmachtriemen der Massen noch viel enger zu ziehen, als er bisher schon gezogen worden ist. Wenn man neulich im Herrenhause die feudalen Junker nach Gewaltmaßregeln gegen die Arbeiterklasse heulen hörte, so musste man unwillkürlich an den Vergleich denken, den Karl Marx einmal zwischen dem Feudalismus und dem Tierreich gezogen hat. Er schrieb: „Im Magen des Raubtieres hat die Natur die Wahlstätte der Einigung, die Feueresse der innigsten Verschmelzung, das Organ des Zusammenhangs der verschiedenen Tierarten bereitet. Ebenso zehrt im Feudalismus die eine Rasse an der andern bis zu der Rasse herab, welche, ein Polyp, an die Erdscholle gewachsen, nur die vielen Arme besitzt, um den oberen Rassen die Früchte der Erde zu pflücken, während sie selbst Staub zehrt, denn wenn im natürlichen Tierreich die Drohnen von den Arbeitsbienen, so werden im geistigen die Arbeitsbienen von den Drohnen getötet, und eben durch die Arbeit."1 Damit sind die heutigen Feudalen aber noch nicht zufrieden; sie predigen obendrein Gewalt gegen die Arbeitsbienen, um diese vergessen zu machen, dass sie einen Stachel besitzen.

Natürlich wird bei den politischen Zwangskursen die Gewalt mit den Formen des Rechts umkleidet. Anders tut es nun einmal die bürgerliche Gesellschaft nicht. Sie ist nicht mehr, wie die feudale Gesellschaft, das unverhüllte, sondern nur noch das verhüllte Tierreich. Aber was ist es anderes als ein beißender Hohn auf alle Gerechtigkeit, wenn aus Sätzen und Worten, die selbst unter der kümmerlichen Press- und Versammlungsfreiheit des neudeutschen Reichs jahrelang unbeanstandet erschienen sind, Hochverrat und Majestätsverbrechen herausdestilliert werden? Und wie will man das Vorhandensein einer Klassenjustiz bestreiten, wenn sich in dem vierzigjährigen Dasein dieser Zwangskurse noch nie ein Gerichtshof gefunden hat, der ihnen frank und frei entgegengetreten ist, der sich geweigert hat, heute für ein Verbrechen zu erklären, was gestern noch kein Verbrechen war und morgen abermals kein Verbrechen sein wird?

Überhaupt – wenn einmal ein politischer Zwangskurs als letzte Rettung der Staatsautorität proklamiert wird, so beugt sich ihm alles, was zum Klassenstaat gehört, und nicht zuletzt die liberale Heldenschar. Gerät einmal einer der ihrigen aus Versehen unter die Opfer – wenn es geschieht, so geschieht es wirklich nur aus Versehen –, so macht sie freilich einigen Lärm, gewöhnlich unter der Versicherung ihrer echt königs- und staatstreuen Gesinnung, aber solange der politische Zwangskurs seine Opfer nur aus der Arbeiterklasse holt, sieht sie in staatsmännischer Fassung zu und bekräftigt Lassalles Wort: Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein Wörtchen gegen ihr heiliges Palladium, den „preußischen Richterstand", bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken schnalzen und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde schlagen.

Trotz alledem aber bringt es der politische Zwangskurs nicht weiter als der ökonomische. Er raubt vielen Menschen, die ehrlich um das Wohl der Menschheit kämpfen, ihre Freiheit, ihre Gesundheit und oft genug ihr Lebensglück, und damit mag er sich wohl des Teufels Dank verdienen. Aber der Teufel teilt mit einem erlauchten Herrschergeschlechte der Gegenwart den Fehler der Undankbarkeit und hilft denen, die ihm opfern, deshalb noch lange nicht aus der Patsche. Und dem politischen Zwangskurse ist auch wirklich nicht zu helfen; er ist intellektuell und moralisch gleich abstoßend, so abstoßend, dass er bald nach kürzerer, bald nach längerer Frist am allgemeinen Ekel und Widerstreben stirbt, wofür das Sozialistengesetz ein klassisches Beispiel war.

Jedoch wenn der politische Zwangskurs des Teufels Liebling ist, so ist er doch kapitelfest genug in der christlichen Religion, um von den Toten aufzuerstehen. Wie er seit vierzig Jahren immer wieder gekommen ist, sobald die herrschenden Klassen nicht mehr aus und ein wussten, so wird er wiederkehren, bis es keine herrschenden Klassen mehr gibt.

Solange wird sich der politische Zwangskurs an das Dichterwort klammern:

Opfer fallen hier,

Weder Lamm noch Stier,

Aber Menschenopfer unerhört.

Allein ebenso lange wird sein grinsendes Antlitz immer wieder erbleichen unter dem trotzigen Rufe seiner Opfer:

Wer eine Zung' hat und spricht nicht,

Wer eine Kling' hat und ficht nicht,

Was ist der wohl, wenn ein Wicht nicht?

gez.: F. M.

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