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Franz Mehring 19140205 Prinzipienpolitik

Franz Mehring: Prinzipienpolitik

5. Februar 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 15, 5. Februar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 611-613]

Je verworrener sich die Zustände der Gegenwart gestalten, umso notwendiger wird es für eine Arbeiterpartei, grundsätzliche Politik zu treiben. Indem sie sich auf den ehernen Grund ihrer Prinzipien zurückzieht, schreitet sie schneller vorwärts als auf jedem andern Wege.

Diese Ansicht ist freilich nicht unangefochten geblieben, nicht einmal in den eigenen Reihen, geschweige bei den Gegnern. Man sagt wohl, das Prinzip hochhalten könne jeder, der nichts gelernt habe, dazu gehöre gar nichts. Erst in der praktischen Politik erprobe sich der Mann oder die Partei.

Für den so genannten gesunden Menschenverstand erscheint dieser Einwand ungemein einleuchtend. Nichts ist leichter, als eine Formel auswendig zu lernen, an ihr die ungemeine Vielgestaltigkeit des Lebens zu messen, überall nein zu sagen, wo sich Ding und Wort nicht decken, und sich dabei im Ruhm eines unerschütterlichen Charakters zu sonnen. Im Vergleich ist es schon eine wahre Herkulesarbeit, das geringste Gesetz auszuarbeiten, das auch nur den kleinsten geschichtlichen Fortschritt verbrieft. Wie kann man also der Arbeiterklasse eine Prinzipienpolitik als ihr ein und alles empfehlen?

Die Missverständnisse, die dabei unterlaufen, werden sofort klar, wenn man sie in das Licht einer Episode aus der preußisch-deutschen Geschichte stellt. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts galt Johann Jacoby als das Muster eines Prinzipienpolitikers. Er blieb fest, als nach dem Jahre 1866 die große Fahnenflucht der liberalen Parteien begann; unerschütterlich wie eine Mauer stand er gegenüber Bismarcks Blut- und Eisenpolitik; gemessen am Prinzip der Freiheit, taugten die neuen Zustände gar nicht, und wenn Jacoby ihnen im preußischen Abgeordnetenhaus sein klares und rundes Nein entgegensetzte, so umwitterte ihn ein Hauch von der Würde eines Propheten, die selbst den preußischen Junkern ein achtungsvolles Schweigen abnötigte.

Nun aber kamen seine ehemaligen Parteigenossen, die ins Lager der Regierung übergelaufen waren, und sagten ihm: Ja, das ist soweit recht gut und schön, und Bismarck hat ohne Zweifel großes Unrecht getan, aber deshalb kann doch die Welt nicht stillstehen und können wir nicht alle zu Säulenheiligen werden; das Prinzip hochhalten kann jeder, aber es ist eine viel schwerere Kunst, sich in die böse Zeit zu schicken und herauszuholen, was sich irgend herausholen lässt. Wenn die nationalliberalen Windfahnen also sprachen, so konnten sie sich allerdings darauf berufen, dass sie in dem Jahrzehnt nach 1866 einiges verfallene Gemäuer vom deutschen Boden gefegt haben, dass ihre Arbeit an der Gewerbeordnung1, die bei aller Unvollkommenheit ein geschichtlicher Fortschritt war, mehr bedeutete als Johann Jacobys ewiges Nein. Und dennoch sind diese liberalen Überläufer mit ihrer praktischen Politik tiefer in den Sumpf geraten als vielleicht jemals eine politische Partei.

Den Widerspruch, der darin lag, wusste aber damals schon die Arbeiterpartei zu lösen. Noch blutjung, war sie sich in ihrem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst. Als Jacoby, gänzlich vereinsamt im bürgerlichen Lager, zu ihr übergegangen war, wählten ihn die sozialdemokratischen Wähler von Leipzig-Land in den Reichstag, worauf er, kaum gewählt, sein Mandat niederlegte, weil der Reichstag auf Gewalt und Unrecht beruhe und in ihm zu sitzen eine Prinzipienwidrigkeit sei. Da aber erklärten ihm seine Wähler lachend: Prinzipienwidrigkeit hin, Prinzipienwidrigkeit her – wir wollen praktisch mittun, und so gingen sie unverdrossen daran, einen andern Mann zu wählen.

Man sieht daraus: Prinzipienpolitik und Prinzipienpolitik können ganz verschiedene Dinge sein. Die eine, wie sie Johann Jacoby, trieb, beruht darauf, dass ihre Bekenner die Welt nicht oder nicht mehr verstehen, dass sie sich an dem Strohhalm einer Formel auf dem brausenden Strome der Zeit oben zu halten suchen. Diese Prinzipienpolitik ist die Sache von Politikern oder Parteien, die von der geschichtlichen Entwicklung überholt worden sind. Jene andere Prinzipienpolitik, wie sie schon die junge Sozialdemokratie gegenüber Johann Jacoby geltend machte, beruht gerade umgekehrt auf dem eindringenden, auf dem wirklichen Verständnis der historischen Welt. Ihr Prinzip ist keine starre Formel, sondern der Ariadnefaden, der durch die unendliche Mannigfaltigkeit des täglich wechselnden Lebens gleitet; es ist das klar erkannte Ziel, das über den tausend verwirrenden Erscheinungen des Tages niemals aus den Augen verloren werden darf. Und es ist ohne weiteres klar, dass, wenn jene erste Art der Prinzipienpolitik allerdings keine besonderen geistigen Fähigkeiten, ja geradezu eine gewisse Beschränktheit des Geistes voraussetzt, diese zweite Art das denkbar höchste Maß von Intelligenz erheischt, wie es ihre klassischen Vertreter, wie es Marx, Engels und Lassalle, auch besessen haben.

Es ist aber auch weiter klar, dass die Prinzipienpolitik, wie wir sie verstehen, unendlich hoch über der praktischen Politik steht, wie sie von den bürgerlichen Geschäftspolitikern vertreten wird. Gewiss dürfen diese Biedermänner nicht allzu beschränkt sein, denn sonst könnten sie von der Konkurrenz allzu leicht übers Ohr gehauen werden. Aber über eine gewisse Geriebenheit und Pfiffigkeit dürfen sie auch nicht hinausgehen, denn sonst werden sie zu weitsichtig für den handgreiflichen Schacher, der das Wesen dieser praktischen Politik ausmacht. Alles in allem: Zum Hochhalten des Prinzips gehört schon etwas; man muss dazu manches gelernt haben, was man gut und gern entbehren kann, wenn man sich auf dem Pferdemarkt versucht, sei es mit Glück oder Unglück.

Das Prinzip der Arbeiterklasse ist keine Formel, die irgendein großer oder kleiner Denker aus seinem Hirn gesponnen hat. Es ist vielmehr aus dem geschichtlichen Leben geschöpft, ein Ziel, auf das die ganze geschichtliche Entwicklung mit unwiderstehlicher Gewalt hindrängt: die Befreiung ihrer Klasse aus der Lohnsklaverei und damit aus allen geistigen, politischen, sozialen Fesseln. Es gibt keine verhängnisvollere Selbsttäuschung des Proletariats, als diesen Leitstern jemals aus den Augen zu verlieren, weil abseits vom Wege, den er weist, diese oder jene kleine Vorteile zu winken scheinen; wo immer solche Selbsttäuschung die Oberhand gewonnen hat, ist schweres Lehrgeld gezahlt worden.

Gewaltiger denn je erscheint heute die Macht der herrschenden und ausbeutenden Klassen, aber je drohender sie uns entgegentritt, umso kühner müssen wir ihr begegnen. Diese Klassen spotten derer, die sich mit ihnen zu einigen suchen, denn darin sehen sie nur ein Geständnis der Schwäche, das sie umso trotziger macht. Sie geben nicht nach, bis sie – schon der alte friedliche F. A. Lange hat es gesagt – den Kampf auf Leben und Tod geschmeckt haben, und diesen Kampf kann die Arbeiterklasse nur führen kraft ihres Prinzips.

gez.: F. M.

1 Gewerbeordnung – bezeichnete ursprünglich das Gesetz des Norddeutschen Bundestages vom 21. Juni 1869, seit 1873 Reichsgesetz, am 26. Juli 1899 neu veröffentlicht. Mit vielen Änderungen und Ergänzungen bildete die G. die Grundlage des Gewerberechts im kapitalistischen Deutschland. Sie beruhte auf der so genannten Gewerbefreiheit. Nach der G. waren alle „gewerblichen Arbeitnehmer" eines Betriebes zu scheiden in Arbeiter (Gesellen und Gehilfen), Lehrlinge und Angestellte. Angestellte erhielten feste Bezüge und wurden mit Leitung, Beaufsichtigung oder höheren technischen Diensten betraut. Die G. regelte weiter die Fragen der Sonntagsruhe, der Führung von Arbeitsbüchern, der Kündigungsfristen, des Rechtes auf Zeugnisse u. a.

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