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Franz Mehring 19160815 Der historische Sinn der Opposition

Franz Mehring: Der historische Sinn der Opposition

15. August 1916

[Leipziger Volkszeitung Nr. 182, 15. August 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 693-696]

Die Ausführungen, die ich in der Nummer der „Leipziger Volkszeitung" vom 1. August „Zum dritten Kriegsjahr" machen durfte, sind von Zeitungen der Parteimehrheit in ihrem Sinn ausgeschlachtet worden. Mit meiner Auffassung, wonach die deutsche Sozialdemokratie keine deutsche Niederlage wünsche, sondern einen für alle kämpfenden Mächte erträglichen Frieden, könne auch die Parteimehrheit einverstanden sein; es läge also gar kein Grund für die Abspaltung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft1 vor und so weiter.

Als klassische Probe dieser Weisheit kann ein Leitartikel gelten, den das „Bochumer Volksblatt" in seiner Nummer vom 7. August unter dem angenehmen Titel veröffentlicht: „Mehring erschlägt die Schlagworte der Opposition". Dies treffliche Organ zweifelt, dass die Opposition oder doch ihre nachdenklichen Männer und Frauen von meinem Artikel so recht erbaut sein würden; es befürchtet, dass mindestens Rosa Luxemburg recht sehr erschrocken sein werde über den Totschlag, den ich an den schönsten Schlagworten aus dem Arsenale der Opposition gegen die Parteimehrheit verübt hätte. Und nachdem es einen kunterbunten Unsinn aus meinem Artikel herausdestilliert hat, schließt es mit der bänglichen Frage: „Haben wir den Verstand verloren oder die andern?" Ich bedaure sehr, diese Alternative durchaus zuungunsten des „Bochumer Volksblattes" entscheiden zu müssen; „die anderen" sind glücklicherweise noch im Besitze ihres Verstandes.

Es ist nicht meine Absicht, mich in eine weitläufige Polemik mit derartigem Gerede einzulassen; es wäre ganz zwecklos, zumal in den gegenwärtigen Zeiten der Papierknappheit. Eher könnte mich schon der neueste Aufruf des Parteivorstandes veranlassen, auf die Frage zurückzukommen. Er wird vermutlich in verstärktem Maße das angebliche Argument aufleben lassen, der Parteivorstand tue ja alles, was die Opposition verlange; wozu also der innere Zwist, der die Kraft der Partei lähme? Gegenüber diesen Schlagworten mag es nicht unangebracht sein, wieder einmal in kurzen Strichen den historischen Sinn der Opposition zu zeichnen, obgleich damit Leuten, die ihren Verstand noch nicht verloren haben, kaum etwas Neues gesagt werden kann.

Was ist die eigentliche Sünde der Politik vom 4. August? Nichts anderes als der Verzicht der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion oder doch ihrer Mehrheit auf jede selbständige Politik. Sie ließ sich ihre Kundgebungen von der Regierung und den bürgerlichen Parteien, wenn nicht diktieren, so doch kontrollieren; sie nahm den „Burgfrieden" an, das heißt, sie verzichtete auf den Klassenkampf, das innerste und unveräußerlichste Wesen jeder Arbeiterpartei; sie lehnte zwar mit Worten die Verantwortung für den Krieg ab, übernahm sie aber durch die Tat, indem sie die Kriegskredite bewilligte, die auch ohne ihre Zustimmung bewilligt worden wären. Verglichen mit diesem Verzicht auf jede selbständige Politik war es selbst nur ein mehr formales Verschulden, dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion die klaren und unzweideutigen, von ihr selbst mitgefassten Beschlüsse der Internationalen Kongresse von Stuttgart, Kopenhagen und Basel verleugnete.

Irgendeine Entschuldigung für diese Politik gab und gibt es nicht. Möglich, dass die Verweigerung der Kriegskredite und die Ablehnung des Burgfriedens harte Verfolgungen auf die Partei herabgezogen haben würden; möglich selbst, dass „die Massen es gar nicht verstanden haben würden", wenn die Reichstagsfraktion anders gehandelt hätte, als sie gehandelt hat. Auch die schwersten Prüfungen sind lange nicht so verhängnisvoll wie der Selbstmord. „Was hat das alles zu sagen?" – meinte Ignaz Auer in seiner Rede über die Sedanfeier 1895 – „Eine Partei, welche die Welt erobern will, muss ihre Grundsätze hochhalten, ohne Rücksicht darauf, mit welchen Gefahren das verknüpft ist; sie wäre verloren, wenn sie anders handelte." Und in der Tat – die deutsche Sozialdemokratie wäre verloren, wenn es bei der Politik des 4. August bliebe.

Was ihr diese Politik eingetragen hat, ist ihre gänzliche Ausschaltung von jedem Einfluss auf die tatsächliche Entwicklung der Dinge. Man wende nicht ein: Hat der Parteivorstand sich nicht wiederholt für den Frieden erklärt? Das hat er freilich getan, aber erst nachdem er die Verantwortung für den Krieg übernommen hatte, wie er noch heute für die „Durchhaltepolitik" eintritt. Aber hat der Parteivorstand nicht wiederholt den Arbeiterparteien des Auslands die Bruderhand entgegengestreckt? Das hat er freilich getan, aber erst nachdem er nach seinen Kräften die Internationale zertrümmert hatte. Man bilde sich doch nicht ein, dass man heute die Prinzipien aus dem Fenster werfen darf und gleichwohl morgen noch über die Kraft gebieten kann, die allein diesen Prinzipien entfließt.

Man kann mit Prinzipien nicht schachern", rief einst der alte Ziegler den Neunmalweisen der Bourgeoisie zu, die nach 1866 „umlernten". Liest man das Programm der damaligen „Umlerner", den nationalliberalen Aufruf vom 12. Juni 1867, so läuft einem das Wasser im Munde zusammen über all die Herrlichkeiten, die die Bennigsen und Genossen durch ihre kluge Taktik dem Volke erwerben wollten. Sie meinten es auch ganz ehrlich, aber all ihre feierlichen Schwüre haben nicht gehindert, dass sie mehr und mehr zu einer Schutztruppe derselben reaktionären Mächte geworden sind, die sie mit ihrem „Umlernen" über den Haufen zu rennen gedachten. Man kann wirklich nicht mit den Prinzipien schachern, und von dem Proletariat gilt dies geflügelte Wort noch zehnmal mehr als von der Bourgeoisie.

Glücklicherweise auch in dem Sinne, dass jeder Schritt auf diesem falschen Wege sich zehnmal eher rächt. Vergebens sucht das „Bochumer Volksblatt" seinen stumpfen Witz an meiner Behauptung zu schärfen, dass die Internationale, wenn sie sich nicht selbstmörderisch zerstört hätte, heute ein entscheidendes Gewicht in die Waagschale werfen könnte. Auf die albernen persönlichen Unterstellungen dieses ausgezeichneten Organs (nach seiner Behauptung will ich „noch mal etwas" über die Internationale schreiben und suche deshalb blauen Dunst über sie zu verbreiten) gehe ich nicht weiter ein; sein eigenes Malheur besteht darin, dass es nicht zu kapieren vermag, wie die Kraft und Stärke der Internationale in der prinzipientreuen Haltung ihrer einzelnen Zweige wurzelte und sich ihm deshalb als ein bloßer Schein offenbarte, sobald diese Voraussetzung bei den meisten ihrer Zweige und zumal bei ihrem führenden deutschen Zweige fortfiel. Wäre die deutsche Sozialdemokratie sich selbst treu geblieben, so hätte sie heute schon sogar die schwersten Schläge verschmerzt, die ihr wegen Verweigerung der Kriegskredite und wegen Ablehnung des Burgfriedens hätten zugefügt werden können; sie stände so mächtig da, wie sie heute ohnmächtig ist, zum Kummer selbst weiter Kreise der bürgerlichen Welt und vielleicht selbst nicht einmal zur ungetrübten Freude des Reichskanzlers.

Dieser Ohnmacht abzuhelfen ist die Aufgabe, der Wille und der Zweck der Opposition. Sie ist kein künstliches Produkt; ihre Entstehung ist weder die Schuld noch das Verdienst einzelner Personen; sie ist allein verdankt dem proletarischen Klassenkampf, der immer wieder naturwüchsig aus dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft hervorbricht, auch wenn er für den Augenblick unterdrückt oder, wie die Politik des 4. August zeigt, zum ersten Mal, seitdem es eine moderne Arbeiterbewegung gibt, auch von denen verleugnet werden kann, die seine Hüter sein sollten. Aber was tut’s? Solange die moderne Gesellschaft besteht, ist der proletarische Klassenkampf nicht umzubringen, weder durch Gewalt noch durch Verrat. Er kam wieder nach den Junitagen von 1848, er kam wieder nach den Kommunetagen von 1871, er kam wieder nach dem Sozialistengesetz von 1878, und so kommt er wieder nach dem 4. August 1914. In gewissem Sinne mag ihm dieser Verrat gefährlicher sein als die Gewalt, aber dafür sind die Triumphe des Verrats noch kurzlebiger als die Triumphe der Gewalt; die Scham über die eigene Sünde wirkt noch viel stärker als die Empörung gegen fremde Unterdrückung.

Das wiedererwachte Klassenbewusstsein des deutschen Proletariats lässt sich nicht mehr beirren, am wenigsten durch die schnurrigen Mittelchen, die die „Umlerner" der Bourgeoisie von vor fünfzig Jahren glücklich abgeguckt haben; weder durch die Jeremiaden über die „demagogischen Umtriebe" noch durch die neuen Theoriechen, von denen das faustische Wort gilt: Mir ist, als hört' ich einen Chor von hunderttausend Narren sprechen. Es spricht auch noch nicht gegen, sondern gerade für die Naturwüchsigkeit der Bewegung, dass sie noch in getrennten Rinnsalen daherströmt. Welche dieser Strömungen sich als die stärkere erweisen wird, hängt wiederum nicht von einzelnen Personen, sondern von dem Gang der Dinge ab; genug, dass die eine wie die andre die Politik des 4. August untergräbt und damit die erste Vorbedingung schafft, der deutschen Arbeiterklasse die alte Macht zurückzuerobern.

Das ist der historische Sinn der Opposition. Hat sie erst – und dieser Zeitpunkt lässt sich heute schon in sehr absehbarer Ferne erblicken – das Schlepptau abgeworfen, womit das Schifflein der Sozialdemokratie an fremde Flotten gefesselt ist, so werden wir freiere und weitere Fahrt haben als jemals selbst in den erfolgreichsten Tagen unsrer Vergangenheit.

gez.: Fr. Mehring

1 Diesen Namen gaben sich die 18 Abgeordneten, die im März 1916 gegen den Kriegsetat stimmten, daraufhin aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen wurden und eine unabhängige Fraktion bildeten. Aus den Anhängern der Soz. Ag. entstand 1917 die USPD.

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