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Franz Mehring 19150518 Der letzte Schlag

Franz Mehring: Der letzte Schlag

18. Mai 1916

[Leipziger Volkszeitung Nr. 108, 18. Mai 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 674-676]

Die Verhandlungen des Reichstags, die sich mit dem Genossen Karl Liebknecht beschäftigt haben und in der „Leipziger Volkszeitung" vom 16. d. M. mitgeteilt worden sind, beanspruchen eine Bedeutung für unsere politische Zukunft, die ein wenig genauer beleuchtet zu werden verdient.

Wer einigermaßen über den nächsten Augenblick hinaus zu denken vermag, kann sich nicht mehr verhehlen, dass sich die inneren Rechtszustände der deutschen Nation in einer Krisis befinden wie niemals seit vormärzlicher Zeit. Es gibt weder eine Press- noch eine Versammlungsfreiheit mehr; beide sind mehr noch verschwunden als selbst in jenen Tagen, wo das Dogma vom „beschränkten Untertanenverstand" noch in voller Blüte stand. Man sagt: um der höchsten vaterländischen Interessen willen! Das heißt nach dem Worte des römischen Dichters: Um des Lebens willen verschüttet man die Quellen des Lebens.

Der Belagerungszustand ist verhängt worden, zunächst nur für die Dauer der Mobilmachung, und dann, um die Kriegführung vor allen Hindernissen zu sichern, die ihr durch unzeitiges Reden und Schreiben bereitet werden könnten. Dass es dabei nicht bleiben würde, konnte sich von vornherein jeder, der die Gesetze der Geschichte einigermaßen kennt, an den fünf Fingern abzählen, und die Schuld daran trifft keineswegs in erster Reihe die Regierung. Sie ist ebenso das Opfer einer unbeschränkten Gewalt, wie es die sind, die diese Gewalt ertragen müssen. Den Versuchungen einer solchen Gewalt würde selbst ein Washington erliegen, und nachgerade ist es ein abgedroschener Gemeinplatz, dass jedes Volk gerade die Regierung hat, die es verdient.

So sind Zustände eingerissen, über die selbst so erzreaktionäre Blätter jammern, wie die „Deutsche Tageszeitung" eines ist. Freilich hilflos jammern, denn wenn sie die Fortdauer des Belagerungszustandes verlangen und ihn bloß so angewandt wissen wollen, dass er ihnen nicht wehe tut, so wollen sie ein hölzernes Eisen schmieden. Aber das gilt nicht nur von den reaktionären, sondern von allen bürgerlichen Parteien; keine wagt sich an den Belagerungszustand selbst heran, sondern will nur Schranken einer Gewalt errichten, deren eigentliches Wesen gerade in dieser Schrankenlosigkeit besteht, und was dabei herauskommt, ist klar: nämlich nichts.

Jedoch wir sind sehr bescheiden und wollen diesen schwachen Leibern nicht mehr zumuten, als ihnen frommt. Wir verlangen von ihnen nicht, dass sie ein Recht zurückzuerobern versuchen, das wir verloren haben; ja wir würden uns nicht verwundern, wenn sie mit ergebenem Gottvertrauen auch das letzte Recht verschwinden sähen, das unser Volk noch besitzen mag. Aber was wir ihnen bisher doch nicht zugetraut hätten, das ist der letzte Schlag, den sie selbst dem letzten Rechte zugefügt haben, einem Rechte, das die Regierung gar nicht angetastet hatte und das zu schützen die oberste Pflicht der bürgerlichen Parteien war. Sie selbst haben aus freiem Antriebe die letzte Zuflucht zerstört, die dem freien Wort im Deutschen Reiche noch gegönnt war.

Das ist der historische Sinn, der sich aus den beiden Verhandlungen des Reichstages über den Genossen Liebknecht ergibt. Einem Abgeordneten, der an der Politik der Regierung pflichtmäßige Kritik übt, und zwar so, dass selbst ein ängstlicher und unbeholfener Präsident kein Fehl an seinen Worten zu entdecken weiß, reißt ein Mitglied des Hohen Hauses das Manuskript aus der Hand, während ein anderes Mitglied auf ihn einhaut; dann reden erlauchte Mitglieder dieses Hohen Hauses auf die Militärgewalt ein, um sie zu dem verfassungswidrigen Verbot einer wahrheitsgetreuen Schilderung der unwürdigen Szene zu veranlassen, wovor die also angesprochene Gewalt sich ehrlicherweise bekreuzigte; endlich wirft dasselbe Hohe Haus die parlamentarische Immunität in die Scherben und liefert ein Mitglied, das eine öffentliche Kundgebung für den Frieden veranlasst hat, dem Militärgericht aus, was schon zu gewöhnlichen Zeiten, geschweige denn in Tagen des Belagerungszustandes in der parlamentarischen Geschichte aller Völker und Zeiten ohne Beispiel ist.

Und die Führer dieser Politik sind die Payer, die Liesching, die Hubrich, die Müller-Meiningen, dieselben erlauchten Gestalten, um deren Bundesgenossenschaft willen der Eifer so vieler sozialdemokratischer Wählerschaften bei den Stichwahlen von 1912 „gedämpft" wurde! Würdig reiht sich ihnen jedoch Herr Junck an, der Vertreter der Stadt Leipzig im Reichstage. Bei der Vorberatung des Falles Liebknecht in dem Geschäftsordnungsausschuss schrieb er nach den Zeitungsberichten dem Kriegsgerichte vor, wie es über den Genossen Liebknecht zu urteilen habe: vollendeter Kriegs- und Landesverrat. Das wird den Vater Stieber noch im Jenseits erfreuen.

Doch um nicht pharisäischem Übermut zu verfallen, so müssen wir hinzufügen, dass auch die „Umlerner" der Sozialdemokratischen Partei sich der Höhe der Aufgabe nicht ganz gewachsen gezeigt haben. Das „Hamburger Echo" schwärmt sehr für parlamentarische Redefreiheit, aber sie müsse ergänzt werden durch „feste Selbstdisziplin"; wer sich dieses holden Guts nicht erfreue, der habe kein Recht, sich zu beklagen, wenn den andern schließlich einmal der Geduldsfaden risse und sie zu hauen anfingen. Dies ist das Programm des alten Thadden-Trieglaff, der auch sehr für die Redefreiheit schwärmte, aber neben ihr den Galgen aufrichten wollte, der als Symbol eines hochnotpeinlichen Verfahrens am Ende auch imponierender wirkt als die Parole: Haut ihn!

Oder wenn der Abgeordnete David in der Geschäftsordnungskommission des Reichstags um Schutz für den Genossen Liebknecht bat, unter der anmutigen Begründung, dass bellende Hunde nicht beißen, so sollte sich schon das einfachste Taktgefühl dagegen sträuben, einen verhafteten Genossen in einen hündischen Vergleich zu ziehen. Indessen lässt sich über den Geschmack nicht streiten, und vielleicht mögen bellende Hunde dem Genossen David noch ehrwürdiger erscheinen, verglichen mit den ihm bekannteren ihrer Artgenossen, von denen der Dichter singt:

In Aachen langweilten sich auf der Strass'

Die Hunde, sie flehen untertänig:

Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird

Vielleicht uns zerstreuen ein wenig."

Ja, unsere Vorfahren in vormärzlicher Zeit waren glücklicher daran als wir. Sie hatten Bitteres zu leiden und Schweres zu tragen, aber was sie aufrechterhielt, war die Hoffnung auf ein deutsches Parlament, das alles, alles wenden würde. Wir aber haben das Bitterste zu leiden und das Schwerste zu tragen vom deutschen Reichstag.

gez.: Franz Mehring

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