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Franz Mehring 19160403 Die Spaltungen der Opposition

Franz Mehring: Die Spaltungen der Opposition

3. April 1916

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 77, 3. April 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 668-670]

In ihrer Nummer 74 vom 30. März spricht die „Leipziger Volkszeitung" über die Spaltungen der Opposition, von denen sie mehrfach hervorhebt, dass sie ihr nicht genügend bekannt seien. Dies ist auch ganz natürlich, da die Opposition aus bekannten Gründen verhindert ist, ihre Ansichten in der Presse und in öffentlichen Versammlungen zu bekunden. Inzwischen haben mehrere Parteiblätter, die den Standpunkt des Parteivorstandes vertreten, einen so genannten Spartakus-Brief (vom 9. März) veröffentlicht, mit einem Maße von Geschmack und Takt, über das man nicht zu schreiben braucht, aber mit einer Wirkung, die man nur begrüßen kann.

Danach lässt sich klar übersehen, was es mit den so genannten Spaltungen der Opposition auf sich hat. Es ist fast genau ein Jahr her, seit das erste und bisher einzige Heft der „Internationale" erschien, worin die rücksichtslose Rückkehr zu den alten Grundsätzen der Marx, Engels und Lassalle als die einzige Rettung aus den Parteiwirren vertreten wurde. Herausgeber waren Rosa Luxemburg und meine Wenigkeit, Mitarbeiter Johannes Kämpfer, Paul Lange, Käte Duncker, Clara Zetkin, Heinrich Ströbel, August Thalheimer u. a. Von derselben Richtung ging der Anstoß zu der Kundgebung am 9. Juni v. J. aus, um die sich etwa 900 Parteifunktionäre sammelten. Dadurch gewann die Opposition den ersten festen Halt.

Es sei mir hier die einschaltende Bemerkung erlaubt, dass ich, wenn ich von der Opposition oder ihren Gruppen als greifbaren Existenzen spreche, den Weherufern über die „Organisationen innerhalb der Organisation" natürlich nicht das geringste Zugeständnis machen will. Es handelt sich einfach um eine Erscheinung, die in der Geschichte der Partei ein klassisches Vorbild hat. Die heutige Opposition lebt unter denselben Zuständen und passt sich diesen Zuständen in derselben Weise an wie die ganze Partei unter dem Sozialistengesetze. Alle Parteigenossen, denen das Erfurter Programm1 noch mehr ist als ein schlechter Witz von vorgestern, verständigen sich innerhalb der Partei und auf dem Boden der Partei. Der Unterschied zwischen damals und jetzt besteht nur darin, dass der Parteivorstand, der Parteiausschuss, die Mehrheit der Reichstagsfraktion und die ihnen anhängigen Parteiblätter sich in den Gnadenblicken sonnen, die ihnen der Belagerungszustand spendet. Sollten sie sich aber nicht an dieser herrlichen Freiheit genügen lassen, sondern sollten sie, wie es nach ihren neuesten Kundgebungen fast scheint, den Versuch machen wollen, die Opposition mit disziplinarischen Mitteln zu unterdrücken, wie die Bismarck und Puttkamer die Partei zur Zeit des Sozialistengesetzes mit strafrechtlichen Mitteln zu unterdrücken versucht haben, so werden sie enden, wie die Bismarck und Puttkamer geendet haben: mit einem moralisch wie politisch gleich abschreckenden Bankrott.

Wenn nun die Opposition, die sich um die Kundgebung vom 9. Juni v. J. zu sammeln begann, ganz einig war in dem Widerstande gegen die sozialpatriotische Politik der Parteiinstanzen, so war sie doch nicht einig über die Art und Form dieses Widerstandes. Das ergab sich schon aus dem Zweifel, ob am 4. August 1914 eine plötzliche Geistesverirrung über die Reichstagsfraktion gekommen oder an diesem Tage eine Krankheit offenbar geworden sei, die schon lange an dem Körper der Partei gezehrt habe. Je nachdem man diese Frage beantwortete, konnte man zu verschiedenen Schlussfolgerungen kommen. So einig man darin war, dass die Partei von der schweren Krisis, in die sie durch den 4. August gestürzt worden sei, genesen könnte, müsse und werde, so wollten die einen doch den Genesungsprozess durch möglichst gelinde Mittel, mit möglichster Schonung der weichen und zarten Seelen, fördern, während die anderen ihn durch rücksichtslose Rückkehr zu den alten Parteigrundsätzen abzukürzen und zu mildern gedachten.

Gleichwohl ergab sich eine breite Möglichkeit gemeinsamen Wirkens, das lange Monate hindurch nicht gestört wurde. Erst mit der Abstimmung der Zwanzig am 21. Dezember v. J2 entstanden Reibungen. Zwar war man noch darin einig, dass man, wie es in einer gemeinsamen Kundgebung hieß, das Vorgehen der Zwanzig als einen erfreulichen Fortschritt betrachtete, falls daraus die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Aber über die Art und die Form dieser Schlussfolgerungen kam man nicht mehr zusammen. Wie es in dem „Spartakus-Briefe" vom 9. März heißt, wollen die einen durch die Mehrheit zur Klarheit, die andern durch die Klarheit zur Mehrheit kommen. Es war der alte Gegensatz, der sich in dem Maße verschärfte, worin die Opposition immer größere Parteikreise erfasste; die einen wollten die Schwankenden durch immer größeres Entgegenkommen gewinnen, die andern sahen in dieser steigenden Nachgiebigkeit die Gefahr neuer Verwirrung und wollten die Opposition vor allem auf einen festen Boden stellen. Diese, die so genannte Gruppe der Internationalen, entwarfen eine Reihe von Leitsätzen, die das Erfurter Programm so wenig verletzten und verleugneten, dass sie es vielmehr nur auf die gegenwärtige Lage anwandten, worauf ihnen von der andern Richtung der Opposition die gemeinsame Tätigkeit gekündigt wurde.

Ob das richtig war oder nicht, will ich hier nicht untersuchen, da ich, selbst Partei in der Sache, insoweit ein unbefangenes Urteil nicht beanspruchen kann. Es kommt mir hier nur darauf an, die grotesken Übertreibungen zurückzuweisen, die in Hamburg, Chemnitz usw. an den mehrerwähnten „Spartakusbrief" geknüpft worden sind. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Opposition haben von Anbeginn bestanden, und sie waren auch unvermeidlich, denn zwischen den Trümmern des ungeheuren Zusammenbruchs vom 4. August den richtigen Weg in eine bessere Zukunft zu finden war nicht so ganz einfach. Das Wiederaufbauen ist immer eine schwierigere Sache als das Niederreißen, und die sich als Meister im Niederreißen erwiesen haben, triumphieren doch zu früh, wenn sie in den „Spaltungen" der Opposition ein Ende der Opposition selbst erblicken und ihr unheilvolles Werk nunmehr als gesichert vor jeder wirksamen Anfechtung betrachten.

Ihr Schrei des Triumphes soll ihnen deshalb gewiss nicht missgönnt werden. Er kann nur dazu dienen, der Opposition das Bewusstsein aufzufrischen, dass sie ein gemeinsames Interesse und ein gemeinsames Ziel hat. Noch hat sie dies Bewusstsein keinen Augenblick verlassen, und ihre verschiedenen Richtungen denken gar nicht daran, sich selbst zu zerfleischen, um dem Sozialpatriotismus ein Gaudium zu bereiten. Was sie trennt oder richtiger augenblicklich zu trennen scheint, ist ein Gegensatz, der aus der Entwicklung der Dinge selbst entspringt und sich bei einigem guten Willen, an dem es weder hüben noch drüben fehlt, tragen und ertragen lässt, bis er sich wieder auflöst – dank der Entwicklung der Dinge.

Denn in einem Punkt kann man sich auf den Sozialpatriotismus verlassen: Er ist ein Meister im Desorganisieren. Derselbe Parteigenosse, der noch gegen die Kundgebung am 9. Juni v. J. aus autoritativer Stellung als gegen eine „Parteizerrüttung" protestierte, wird heute schon nicht nur als „Parteizerrütter" angeklagt, sondern schon als „Straßenschwadroneur" beschimpft. Fürwahr – diese Toten reiten schnell. Das ist insoweit gewiss zu beklagen, als der Selbstbesinnungsprozess innerhalb der Partei ohne zwingenden Anlass verbittert wird, aber er wird dadurch auch wieder beschleunigt, und so muss man eins ins andere rechnen. Einer guten Sache, die unaufhaltsam auf- und vorwärts geht, müssen schließlich alle Dinge zum Besten dienen,

gez.: Franz Mehring

1 Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. (Beschlossen auf dem Parteitage in Erfurt 1891.) In: Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, S. 153 bis 157.

2 Gemeint ist die Abstimmung von 20 sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag gegen den Etat, damit auch gegen die Kriegskredite, am 21. Dezember 1915. Das geschah mit einer prinzipiell teilweise sehr bedenklichen Begründung, die Karl Liebknecht – einer der 20 – ablehnte.

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