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Franz Mehring 19161010 Die „Umlerner"

Franz Mehring: Die „Umlerner"

10. Oktober 1916

[Der Kampf (Duisburg) Nr. 20, 20. Oktober 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 700-702]

Nach den Umlernern hat die Partei bis zum 4. August 1914 in den kolossalsten Illusionen gelebt. Wie es einer von ihnen jüngst in die Sätze gekleidet hat, die kapitalistische Gesellschaft, wie sie Marx erlebt und beschrieben habe, bestehe heute nicht mehr so. Man habe durchaus von vorn zu beginnen, das heißt nicht mit Lehrsätzen, sondern mit der Erkundung und Ordnung der wirtschaftlichen Tatsachen, mit der alten marxistischen Methode, aber nicht mit den alten Buchzitaten; man habe nichts Altes zu revidieren, sondern Neues zu ergründen.

Kann man sich ärgere Gemeinplätze denken? Und sie rühren noch von einem der gescheitesten Umlerner her. Gewiss besteht die kapitalistische Gesellschaft „nicht mehr so" wie zur Zeit, wo Marx lebte; es ist unzweifelhaft richtig, dass sie an seinem Todestag nicht der Versteinerung verfallen ist. Gewiss ist es notwendiger und nützlicher, in der Weise des Meisters zu denken als seine Worte nachzuplappern, aber diese Weisheit ist so alt, dass sie schon im Altertum sprichwörtlichen Klang hatte. Gewiss soll man nicht mit Lehrsätzen beginnen, sondern mit der Erkundung der Dinge, aber das haben auch die griechischen Naturphilosophen gewusst.

Dazu kommt dann noch die ganze Litanei von „versteinerten Dogmen", „engstirnigen Orthodoxen" und dergleichen mehr, die schon vor dem Kriege gang und gäbe war, aber jetzt im Kriege auch von manchen Leuten hergebetet wird, die ehedem nur ein verächtliches Achselzucken dafür hatten. Statt diese Trivialitäten, mit denen sich schließlich doch kein Hund mehr vom Ofen locken lässt, ewig breitzutreten, sollten die, die es angeht, endlich einmal eine einzige kleine Tatsache anführen, durch die der Weltkrieg auch nur ein Atom von dem widerlegt hat, was vor ihm unser politisches und soziales Programm war.

Gewiss hat er eine Reihe von Erscheinungen gezeitigt, die bisher mehr oder weniger unbekannt oder doch nicht genügend erkannt waren und die mit aller Gründlichkeit und Sorgfalt studiert werden müssen. Wo gäbe es aber auch einen Narren, der das bestritte und den Weltkrieg für eine Episode hielte, nach der man die Fäden nur gerade da, wo er sie zerrissen hat, wieder anzuknüpfen brauche, um sie in aller Seelenruhe weiterzuspinnen? Ebenso wenig bestreitet irgend jemand, der noch im Besitz seiner fünf Sinne ist, dass der Weltkrieg die Partei vor gewaltige Aufgaben stellt, deren Lösung ihre ganze Kraft beansprucht. Aber was – um's Himmels willen! – hat alles das mit der Behauptung zu tun, dass die Erfahrungen des Weltkriegs uns zum „Umlernen" zwingen sollen, das heißt zur Opferung der Grundsätze, die seit fünfzig Jahren die Leitsterne der deutschen Arbeiterpolitik gewesen sind?

Kraft dieser Grundsätze haben soundso viele sozialdemokratische Kongresse den Weltkrieg vorausgesagt und vorausgesehen und die Taktik festgelegt, die bei seinem Eintritt von dem internationalen Proletariat zu beobachten sei. Solange man nicht behaupten will oder gar beweisen kann, dass alle diese Kongresse sinnbetört gewesen seien, solange lässt sich die Notwendigkeit irgendeines Umlernens nur daraus ableiten, dass der Weltkrieg in ganz anderen Formen ins Leben getreten ist, als die internationale Sozialdemokratie vorausgesehen und vorausgesagt hat. Etwa so, dass die kriegführenden Mächte zunächst das Gemeineigentum hergestellt, damit die Lohnfesseln der arbeitenden Klassen gesprengt und nun erst miteinander gekämpft hätten, was danach freilich keinen rechten Sinn und Zweck mehr gehabt haben würde. Die Unterstellung einer solchen Möglichkeit ist gewiss Unsinn, aber dieser Unsinn ist nur die auf die Spitze getriebene Logik, wonach das politische und soziale Wesen des Weltkriegs uns zu einer Umwälzung unserer politischen und sozialen Grundsätze zwingen oder auch nur veranlassen soll.

Ohne hier in die verschiedenen Auffassungen des Umlernens näher einzugehen, so ist darüber kein Streit möglich, dass der Imperialismus eine historisch vorgeschrittene Form des Kapitalismus ist. Wie der Ursprung, so sind auch die Mittel und die Ziele des Krieges kapitalistischer Art und ändern nicht das Geringste an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit. Dies Verhältnis ist aber der Angelpunkt des sozialdemokratischen Programms, und alle Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, sind heute so unangefochten wie je.

Oder hat die kapitalistische Gesellschaft in diesem Weltkrieg ein anderes Gesicht gezeigt als vor ihm? Das wäre zwar ein Wunder, aber der Wunderglaube hat mitunter eine ansteckende Kraft. Jedoch auch für die, die nach dem bekannten Wort nicht alle werden, genügt ein Hinweis auf den Lebensmittelwucher, um ihnen klarzumachen, dass dieser Krieg den Kapitalismus zu Leistungen angespornt hat, die selbst in seiner grausamen Geschichte bisher unerhört gewesen sind. Und alle sittliche Entrüstung über einzelne Wucherer, die es besonders arg getrieben haben und von Haus aus bösartig angelegte Individuen sein mögen, ändert nicht das geringste an der Tatsache, dass der Lebensmittelwucher als solcher in der kapitalistischen Produktionsweise wurzelt, wie ja gerade diejenigen ihrer Vorkämpfer anerkennen, die sich mit dem Nachweis abmühen, dass er zwar eine sehr beklagenswerte, aber leider vom menschlichen Willen unabhängige Tatsache sei, die nun einmal als unvermeidliche Schickung ertragen werden müsse. Und dies düstere Gorgonenhaupt verliert nichts, sondern gewinnt nur an versteinerndem Schrecken, wenn ihm gegenüber ein von seinem Genius besonders gesegneter Umlerner die groteske Fratze des „Kriegssozialismus" an die Wand malt.

Unter all seinen furchtbaren Zerstörungen hat der Weltkrieg auch nicht ein Tüttelchen unseres Programms zu erschüttern gesucht. Um diese Tatsache zu verwischen, tun die Umlerner das, was sie uns vorwerfen: sie arbeiten mit „Buchzitaten" aus Marx und Engels, um zu beweisen, dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion am 4. August im Sinne dieser Männer gehandelt habe. Es lohnt nicht, darüber zu streiten, selbst wenn ganze Traktätchen voll solcher „Buchzitate" auf Regimentsunkosten massenhaft verbreitet werden. Wer vom Geiste, der in Marx und Engels und nicht minder in Lassalle lebte, je auch nur einen Hauch gespürt hat, der weiß, wo unsere Altmeister heute stehen würden, und das muss gegenüber dem noch so lärmenden Unverstand genügen. Sie waren keine Halbgötter, geschweige denn Götter, aber gleichwohl soll man ihre Namen nicht unnütziglich führen. Ob die Bibliothek voll blühenden Unsinns, der über sie schon zusammengeschrieben ist, noch um einige Schränke voll Makulatur vermehrt wird, kann uns so gleichgültig sein, wie es ihnen sein würde, wenn sie noch lebten.

gez.: Fr. Mehring

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