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Franz Mehring 19160627 Intelligenzen und Intelligenzen

Franz Mehring: Intelligenzen und Intelligenzen

27. Juni 1916

[Leipziger Volkszeitung Nr. 140, 27. Juni 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 677-680]

Am 1. Februar 1870 schrieb Engels an Marx: „Wenn das so fortgeht mit den Bekehrungen, so werden wir bald den alten Herrgott aus dem rheinischen Sprichwort verdrängen, nach dem er ‚wunderliche Kostgänger hat'."1 Lebte Engels heute noch, so würde er noch viel erstaunter sein über die „wunderlichen Kostgänger" Max Cohen, Eduard David, Paul Lensch, Heinrich Schulz usw., die alle den „wahren Geist" des Marxismus geerbt haben und ihn mannhaft vertreten gegenüber uns Armen im Geiste, den „verknöcherten Orthodoxen", die nur mit „marxistischen Schlagworten" um sich werfen können, und wie die liebliche Litanei weiter heißen mag.

Jedoch gibt es unter den „Umlernern" wenigstens einen, der durch eine langjährige, wissenschaftliche Arbeit das Recht erworben hat, sich auf Marx zu berufen. Das ist Heinrich Cunow. Seine letzte, namhafte Leistung auf diesem Gebiete war der scharfe Protest, den er am 4. August 1914 für die Redaktion des „Vorwärts" gegen die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion entworfen hat. Er sah darin eine Preisgabe des proletarischen Klassenkampfes, und es ist sehr zu bedauern, dass seine treffliche Begründung dieser durchaus treffenden Auffassung damals nicht das Licht des Tages erblicken konnte aus Gründen, die hier nicht weiter entwickelt zu werden brauchen.

Inzwischen hat auch Cunow „umgelernt", auch wir achten seine neue Überzeugung ebenso wie seine alte, wenn wir sie auch nicht in gleichem Maße bewundern können. Wir gehen noch weiter und erkennen an, dass er seinen Marx bei allem „Umlernen" noch nicht ausgeschwitzt hat. Diese tröstliche Gewissheit gewinnen wir aus zwei langen Artikeln, die Cunow unter dem Titel: Klasse und Partei eben im „Hamburger Echo" veröffentlicht hat. Er will darin nachweisen, dass die Politik des 4. August: Bewilligung der Kriegskredite, Burgfrieden usw. in keinem Widerspruch mit dem proletarischen Klassenkampfe stehe. Nach seiner Meinung sind Klasse und Partei nicht dasselbe; ein großer Teil der Arbeiterklasse halte sich in bürgerlichen Parteien, während in die Sozialdemokratische Partei Advokaten, Gelehrte, Literaten usw. hineingeschneit seien, wobei der großmütige Mann von „besondern eigennützigen Beweggründen ganz absehen" will; sie seien vielmehr angezogen von den philosophischen, politischen, rechtlichen Anschauungen unseres Parteiprogramms. Diese Leute, die „kaum vom Klassenbewusstsein" gedrängt würden, redeten den Arbeitern vor, die Parteimehrheit habe den „Klassenkampfboden" verlassen. Wenn auch eine Anzahl Arbeiter „diese Parole nachbete", so seien doch ihre „eigentlichen Urheber" die „Intelligenzen", die den Arbeitermassen, die auf dem Boden der Parteimehrheit stünden, das Klassenbewusstsein absprächen.

Man begreift danach die sittliche Entrüstung, womit Cunow das „einfältige Geschwätz" und die „Unverfrorenheit" dieser „Intelligenzen" abtut! Und er hat auch ganz recht zu sagen, dass der Klassenkampf „keine sozialdemokratische oder marxistische Erfindung" sei. Seit es politische Staatengebilde mit Klassenunterschieden gebe, gebe es auch Klassenkämpfe und Klassenkämpfer, im alten Griechenland und alten Rom wie im Mittelalter und in der Neuzeit. Diese Behauptung Cunows ist so richtig, dass wir sagen möchten, er renne mit ihr offene Türen ein, wenn wir nicht überzeugt wären, dass sie auf die „geistigen Marxisten" Cohen, David, Lensch, Schulz usw. den überwältigenden Eindruck einer neuen Weisheit machen wird. Uns armen Teufeln war dies „marxistische Schlagwort" längst aus den Anfangssätzen des Kommunistischen Manifestes bekannt2, das im Februar 1848 erschienen ist.

Cunow hat aber auch weiter nicht ganz unrecht, wenn er sagt: „Selbst die Klassentheorie ist keine Spezialerfindung von Marx." Marxistische Ansätze finden sich schon in der englischen und französischen Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts, und manche der damaligen Theoretiker (Ferguson, Linguet, Marat) könnten in gewisser Hinsicht als Vorläufer von Marx betrachtet werden. Soweit ganz gut, doch wie wenig weicht Cunow hier von Marx ab. Dieser gibt nicht Ferguson, Linguet und Marat, sondern Thierry, den er einmal den „Vater des Klassenkampfs" nennt, Guizot, John Wade, Ricardo usw. als die Leute an, die ihm auf die Sprünge geholfen hätten, und fügt hinzu: „Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfs der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet."3 Marx behauptet also doch, dass er die Klassentheorie, wenn auch nicht erfunden, doch mit „Neuem" bereichert habe, aber dies „Neue" stimmt allerdings nicht mit der Politik des 4. August. Denn dass sie mit der Bewilligung der Kriegskredite und der Zustimmung zum Burgfrieden die Diktatur des Proletariats habe vorbereiten wollen, behauptet unseres Wissens die Fraktionsmehrheit nicht. Es wäre auch ein starkes Stück, wenn sie es behaupten wollte.

Unzweifelhaft trifft Cunow aber wieder den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, dass Klasse und Partei sich nicht ganz miteinander deckten. Die Tatsache ist so sinnenfällig, dass Cunows weitläufiger Beweis für sie schon den „geistigen Marxisten" vielleicht als überflüssig erscheint; weiß doch jedes Kind, dass sich manche Arbeiterschichten noch zu bürgerlichen Parteien halten und dass viele Sprösslinge der bürgerlichen Klassen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei wirken. Cunow nennt sie „Intelligenzen" und erläutert ihr Wesen dahin, sie verständen „meist" nichts von den proletarischen Klasseninteressen, sondern würden nur von den politischen, philosophischen, rechtlichen Anschauungen unseres Programms angezogen. Das ist wiederum ganz richtig; sobald die proletarischen Klasseninteressen hart auf hart mit den bürgerlichen Klasseninteressen zusammenstoßen, erheben diese aus bürgerlichen Klassen stammenden Parteimitglieder „meist" den Ruf: Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! Die Abneigung, mit der Cunow diese „Intelligenzen" beehrt, teilte gewiss auch Marx; lebte er heute, so würde er auch nach unsrer Meinung mit einem urkräftigen Donnerwetter zwischen die „Intelligenzen" Cohen und David und Heine und Heinemann und Lensch und Schulz und Südekum fahren, vieler anderer ganz zu geschweigen.

Aber Cunow sagt selbst, dass sein abfälliges Urteil über diese Parteimitglieder bürgerlichen Ursprungs „meist" nur zutreffe. Er deutet damit an, dass die „Intelligenzen", die den arbeitenden Klassen törichte Ratschläge erteilen, unter ihresgleichen zwar die Mehrzahl bilden, aber dass es daneben eine vernünftigere Minderzahl von „Intelligenzen" gebe. Leider geht er darauf nicht näher ein, und so wollen wir diese Lücke seiner lehrreichen Aufsätze aus Marx ergänzen. Marx spricht im Kommunistischen Manifest von einem Teil der Bourgeoisieideologen, die sich zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung hinaufgearbeitet haben4, und diesen Teil erkennt ja auch Marx, der ja selbst dazu gehörte, als einen notwendigen und nützlichen Bestandteil der Arbeiterpartei an. Nicht als ob er hätte behaupten wollen, dass diese „Intelligenzen" die proletarischen Klasseninteressen immer genauso auffassen wie die Arbeiter; er selbst ist ja oft genug in kritischen Tagen von den Arbeitern verleugnet worden. Aber er war der Ansicht, dass solche „Intelligenzen", weil sie „die ganze geschichtliche Bewegung" übersähen, die proletarischen Klasseninteressen in wirrenreichen Tagen besser erkennen könnten als die Masse der Arbeiter, so dass die Spannung zwischen beiden Teilen sich sehr bald löse, wie es Marx oft genug erfahren hat und wie es jetzt die Minderzahl der „Intelligenzen" erfährt, die den Arbeitern von Anbeginn die Politik des 4. August widerraten haben.

Je mehr jeder neue Tag bestätigt, wie berechtigt ihre Mahnungen gewesen sind, um so mehr schwillt das „Grüppchen" dieser „Intelligenzen", das übrigens immer mit einem echten Kern des Proletariats einig gewesen ist, zu einem immer helleren Haufen an. Diese „Intelligenzen" haben niemals gesungen: Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo, sondern stets die Parteimitglieder davor gewarnt, den Gegnern Schritt für Schritt entgegenzukommen und so lange mit ihren Vorposten zu verhandeln, bis sie umstellt sind und mitten im Lager der Gegner stehen, worauf dann zum Schaden sich noch der Spott gesellt. Wenn der großspurigste der „Umlerner" in Breslau den Reichskanzler eben sehnsüchtig angeschmachtet hat: „Ach, er hat mir ja mal auf die Schulter geklopft", so scholl ihm alsbald aus der offiziösen Presse der Donnerruf entgegen: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!

Doch diese komischen Szenen sind noch das wenigste. Was die deutschen Arbeiter mehr und mehr zur Selbstbesinnung bringt, ist der bittere Ernst der Dinge, den sie an jedem neuen Tage schmerzlicher spüren. Aber in demselben Masse steigert sich auch ihr Verständnis dafür, welche „Intelligenzen" ihnen gut und welche ihnen schlecht geraten haben.

Es gibt eben in der Sozialdemokratischen Partei Intelligenzen und Intelligenzen. Wenn Cunows Vorstellungen darüber in hoffnungslose Verwirrung geraten sind, so erklärt sich das immerhin leicht; es ist dieselbe geistige Verwirrung, die ihn von den „verknöcherten Orthodoxen" zu den „geistigen Marxisten" hat hinüberwechseln lassen.

gez.: Franz Mehring

1 Engels an Marx, 1. Februar 1870. In: Marx/Engels: Briefwechsel, IV. Bd., S. 326.

3 Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852. In: Ebenda, Bd. 28, S. 507/508.

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