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Franz Mehring 19160711 Wieder einer

Franz Mehring: Wieder einer

Juli 1916

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 152 u. 153, 11. u. 12. Juli 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 681-688]

I

Unter den „Umlernern" in der Partei gibt es zwei verschiedene Arten. Die einen haben am 4. August 1914 unter dem betäubenden Eindruck des Weltkrieges den Sozialismus abgestreift, der ihnen nicht einmal hauttief saß, und machen wahr, was sie zwar keineswegs immer gesagt haben, aber nunmehr immer gesagt haben wollen. Ihren Beweis für diese Behauptung führen sie durch allerlei aus dem Zusammenhange gerissene Äußerungen mehr oder minder namhafter Sozialisten, die den Parteigenossen als Sand in die Augen stieben.

Schwieriger hat es die andere Art der „Umlerner". Sie hat die Politik des 4. August noch wochen- und monatelang nachher in schärfster Weise und mit den triftigsten Gründen als einen völligen Bruch mit den Grundsätzen und Überlieferungen der Partei bekämpft, und sie muss schon eine Art Philosophie oder Theorie erfinden, um zu erklären, weshalb sie heute Hosianna ruft, nachdem sie gestern erst Kreuzige! gerufen hatte. Das ist eine verteufelt kitzlige Aufgabe, bei deren Lösung Geisteskinder erzeugt werden, denen gegenüber die körperlichen Missgeburten in Castans Panoptikum noch als apollinische Lichtgestalten erscheinen.

Das neueste Produkt dieser Kritiker ist die Schrift, die Paul Lensch unter dem marktschreierischen Titel: Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück in dem bürgerlichen Verlage von S. Hirzel in Leipzig veröffentlicht hat. Es mag fraglich erscheinen, ob es überhaupt lohnt, sie zum Gegenstande einer ausführlichen Besprechung zu machen, und sicherlich wäre der Jubel, womit sie von dem großen Haufen der „Umlerner" begrüßt worden ist, kein genügender Anlass. Die „Intelligenzen" nach der Art der Max Cohen, Heinrich Schulz, Max Grunwald usw. sind ja sosehr bescheiden in ihren Ansprüchen; man braucht nur irgendeinen noch so haarsträubenden Satz, der ihnen in ihren Kram passt, mit der Papageienmäßigen Einleitung zu versehen: Marx sagt, Marx sagt, Marx sagt, und sie sinken vor bewundernder Ehrfurcht in die Knie. Anders steht es jedoch, wenn Kritiker, denen ein sachverständiges Urteil zusteht, wie Heinrich Cunow und Ernst Heilmann, jener im „Hamburger Echo" und dieser in der „Chemnitzer Volksstimme", das Füllhorn ihres Lobes über Lensch ausschütten. Gegen diesen Aberwitz zu protestieren hat immerhin seinen Zweck.

Lensch beginnt mit einem Kapitel über den Entwicklungsgang der deutschen Sozialdemokratie, worin er in erster Reihe meinen historischen Schriften vorwirft – er nennt besonders „Die Lessing-Legende" und die Parteigeschichte1 –, dass sie bei ihrem „nicht geringen Einfluss auf das geschichtliche Denken der heranwachsenden Arbeitergeneration" der Partei das Verständnis der Gegenwart „schlechterdings unmöglich" gemacht haben. Ich glaube nun wirklich, dass Lensch den Einfluss meiner historischen Schriften auf das geistige Leben der Partei gewaltig überschätzt. „Die Lessing-Legende" zählt schon einige zwanzig Jahre, und in der langen Zeit habe ich doch nur einen „heranwachsenden" Parteigenossen kennen gelernt, der mir ehrlich gestand, das Buch habe ihm eine durchaus neue Welt eröffnet, so dass er es achtmal gelesen habe. Dieser „Heranwachsende" stammte zudem aus Potsdam, der eigentlichen Heimstätte, um mit einem konservativen Historiker zu sprechen, des aus Junkertum, Frömmelei und Kommis zusammengeflossenen Preußengeistes, und in einer so düsteren Atmosphäre mochte mein Buch über Lessing heller zu strahlen scheinen, als es wirklich strahlte. Der „Heranwachsende" hatte denn auch bald meine Schule überwunden und prügelte zum Abschied den Schulmeister. Darauf schmarotzte er einen Kursus bei Karl Radek durch, dem er zum Dank und Lohn auf dem Chemnitzer Parteitag einen Fußtritt versetzte. Endlich suchte er von Rosa Luxemburg zu lernen, in deren Sinn er noch am 5. August 1914 das erschütternde Geständnis ablegte: „Ich habe den Idioten in der Fraktion gestern gesagt, dass sie die Eingeweide der Internationale auf den Tisch legen." Dann aber kam der Tag von Damaskus, wo aus Saulus Lensch ein Paulus Lensch wurde, und mit einem kühnen Sprunge setzte er über Rosa Luxemburg, Karl Radek und meine Wenigkeit zurück in die holde Potsdämlichkeit seiner jungen Jahre. On revient toujours à ses premiers amours. Man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück.

Die „Chemnitzer Volksstimme" rühmt, dass Lensch in seiner neuesten Schrift nicht nach den Diktaten Radeks gearbeitet und somit den alten Verdacht entkräftet habe, er könne nicht selbständig denken. Das stimmt jedoch nur, soweit es auf Radek ankommt; sonst ist Lensch auch in seiner neuesten Schrift der alten lieben Gewohnheit treu geblieben, mit fremden Kälbern zu pflügen. Ihr Kern ist ein alter Ladenhüter des spezifisch preußischen Kathedersozialismus, den zum Beispiel Schmoller in seinem „Grundriss der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre" mit den Worten umschreibt: „Das Land der besten Volksschule, der besten Bürokratie, der besten Kasernen und der allgemeinen Wehrpflicht war kein ungünstiger Boden für die Disziplinierung der Industriearbeiter zu einer politischen Partei." Das einzig Neue, was Lensch diesem Gedanken, der in Schmollers vorsichtiger Fassung und mit sehr starken Vorbehalten vielleicht diskutabel sein mag, hinzuzufügen weiß, ist seine sinnlose Übertreibung, ganz nach der Art der Schüler, die ihrer Unfähigkeit selbständigen Denkens durch pomphaftes Wortgerassel abzuhelfen suchen.

Lensch sieht in dem Weltkriege das „Prinzip der Organisation", vertreten durch Deutschland, auf Tod und Leben ringen mit dem „Prinzip des Individualismus", vertreten namentlich durch England. Das individualistische Gesellschaftssystem steht an den Marken seiner Tage. Eine neue Zeit und mit ihr ein neues Gesellschaftsideal zieht herauf: die sozialisierte Gesellschaft. Ihr Degen aber ist Deutschland, und an der Spitze der neuen Revolution steht Bethmann Hollweg. So vollzieht sich der Aufstieg der Arbeiterklasse im Donner eines revolutionären Weltkriegs, wenn auch ohne die Blitze eines revolutionären Bürgerkriegs. Und so rumort im Schädel einiger der Donner der imperialistischen Phrase, wenn auch ohne den Blitz eines sozialistischen Gedankens.

Ist es zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass dergleichen Gerede nicht mehr ernsthaft genommen werden kann? Aber gehen wir wenigstens mit einigen Bemerkungen darauf ein! Lensch begründet seine Umkehr dadurch, dass sich das „Prinzip der Organisation", worauf das preußischdeutsche Reich beruht, in dem Weltkriege glänzend offenbart habe. Er denkt dabei an die deutsche Heeresverfassung, aber sosehr sie sich bewährt haben mag, so konnte darin doch keine Überraschung für einen so klar und tief denkenden Politiker sein, wie Lensch unzweifelhaft ist. Überraschen hätte doch höchstens können, wenn die Heeresverfassung, für die das deutsche Volk so ungeheuere Opfer an Gut und Blut gebracht hat, versagt hätte. Zudem hat sich das „Prinzip der Organisation" nicht nur am deutschen Heere, wenn auch an ihm wohl am vollkommensten, so doch an allen kämpfenden Heeren bewährt, wofür schon die lange Dauer des Krieges zeugt; am überraschendsten sogar an dem russischen Heere, dessen Leistungen nach dem russisch-japanischen Kriege und nach der russischen Revolution von niemandem erwartet worden sind. Im übrigen sollte Lensch doch so viel aus der „Lessing-Legende" gelernt haben, dass ein preußisches Heer um seiner Organisation willen von ganz Europa bewundert wurde, während der preußische Staat sich in seinem desorganisatorischen Verfall befand, der sich bei Jena so grauenvoll offenbarte.

Fällt also dieser Maßstab als solcher fort, so ist wirklich nicht abzusehen, wo Lensch das „Prinzip der Organisation" entdeckt haben will, das siegreich fortschreitend eine neue Revolution mit Bethmann Hollweg an der Spitze heraufbeschwört. Der Belagerungszustand ist auch in den Augen derer, die ihn für notwendig und nützlich halten, nicht die vollendete Organisation, sondern die vollendete Desorganisation; er lähmt ja alle Lebensorgane des modernen Staats und müsste mit dessen Tode endigen, wenn er, woran nicht einmal die reaktionärsten. Politiker denken, eine dauernde Einrichtung bleiben würde.

Oder wirkt das „Prinzip der Organisation" auf dem Gebiete der Lebensmittelversorgung so begeisternd auf Lensch? Dann würde sich in seinem Kopfe die Welt anders malen als sonst in Menschenköpfen. In der Tat – ein angenehmer Vorgeschmack der sozialisierten Gesellschaft, wenn die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise Triumphe feiert wie nie zuvor, wenn der Mangel vom Palast zur Hütte täglich an alle Türen klopft, während täglich vor den Schranken der Gerichtshöfe die Lebensmittelwucherer in dichten Scharen erscheinen.

Doch es widersteht einem wirklich, allzu viele Worte an den Widersinn zu verschwenden. Werfen wir nur noch einen Blick auf die Kehrseite der Medaille!

II

Wenn das Deutsche Reich nach Lensch das „Prinzip der Organisation" vertritt, so das englische Reich das „Prinzip des Individualismus". In England und in Frankreich – doch beschäftigt sich unser Denker hauptsächlich mit England – herrscht die Bourgeoisie, Herrschaft der Bourgeoisie aber heißt Herrschaft des Individualismus, Herrschaft der Einzelpersönlichkeit, Auflösung jeder sozialen Gebundenheit und Organisation, Feindschaft gegen das gesellschaftliche Element.

Gerade England und Frankreich beweisen, wie wenig der Parlamentarismus gleichbedeutend ist mit Demokratie. Darin hat Lensch gewiss Recht, doch wird dieser Satz in ganz Europa am schlagendsten bewiesen, nicht in England und Frankreich, sondern in Deutschland. Lensch sagt dann, wo der Individualismus voll zur Herrschaft gelangt sei, wie in Frankreich und England, und seine reichen Erfolge in allen Farben spielen lassen könne, da stünden der Herausarbeitung des neuen sozialen Prinzips ganz andere Schwierigkeiten entgegen als in Deutschland, wo er niemals unbestritten geherrscht hatte, wo die Regierung auch heute noch, wenigstens formell, über den Parteien schwebe und wo das Prinzip der Organisation die Grundlage der gesamten Staatsentwicklung seit Jahrhunderten gewesen sei. „Das erklärt im tiefsten Grunde die sonst unerklärliche Tatsache, dass die englische und französische Sozialdemokratie so lächerlich schwach und die deutsche so stark ist: In dem Lande, dessen sozialer Typus den vorgeschrittenen Charakter aufweist, sind auch die bewussten Vorkämpfer einer höheren Entwicklungsform der Gesellschaft am stärksten." Man sieht: der reine Schmoller, sei es auch nur in karikierender Übertreibung.

Wenn Lensch über preußisch-deutsche Zustände schreibt, so merkt man immerhin, dass er „Die Lessing-Legende" einmal mit heißem Bemühen studiert hat, aber wenn er über englische Zustände schreibt, so bläst er die Kindertrompete. Das Land, das als erstes eine durchgreifende Arbeiterschutzgesetzgebung gegen die verheerenden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise geschaffen und dadurch eine geistige und körperliche Wiedergeburt des Proletariats ermöglicht hat, während sich noch ein Menschenalter später der „wenigstens formell über den Parteien schwebende" Bismarck mit Händen und Füßen gegen die ersten schwachen Anfänge einer solchen Gesetzgebung gesträubt hat, beruht nach Lensch auf dem „Prinzip des Individualismus"! In der Tat gehört nur der Verstand eines zehnjährigen Kindes dazu, um zu begreifen, dass, um das englische Weltreich zu schaffen, das „Prinzip der Organisation" sich in ganz anderer Weise auswirken musste, als wenn es galt, einen Staat zu begründen, „der nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus"2 ist.

Mit diesen Worten kennzeichnet Karl Marx das „Prinzip der Organisation", auf dem das Deutsche Reich beruht. Dafür bekommt Marx und neben ihm Liebknecht und überhaupt die Sozialdemokratische Partei von Lensch ihren gehörigen Klaps, dass sie in die Fremde geschweift seien, wo doch das Gute so nahe gelegen habe, dass sie englische Zustände bewundert und deutsche Zustände schwarz in schwarz gemalt hätten. Diese erlesene Blüte aus dem Phantasieleben des scheintoten Reichsverbandes darf Lensch natürlich nicht umkommen lassen. Es wäre auch wirklich schade darum.

Unsern Lesern brauchen wir nicht erst zu sagen, wie es um diesen Scherz steht. Die Verherrlichung der englischen Politik ist einmal – und das ist auch schon ein halbes Jahrhundert her – die Torheit der deutschen Bourgeoisie, aber niemals die Torheit des deutschen Proletariats gewesen, das sich nie über den hart selbstsüchtigen Charakter der englischen Politik getäuscht hat. Ja, niemand hat die auswärtige Politik Englands härter – und selbst über das gerechte Maß hinaus – gebrandmarkt als Karl Marx, indem er ihr vorwarf, jahrhundertelang das dienstwillige Werkzeug des Zarentums gewesen zu sein3.

Aber Marx durfte eine Kritik den Palmerston und Gladstone ins Gesicht üben, in dem Lande, worin er als ein Fremder lebte, ohne dass ihm auch nur ein Haar gekrümmt worden wäre. Derselbe Marx, der wegen „missliebiger Gesinnung" über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus „organisiert" und aus dem gleichen Grunde von dem „Prinzip der Organisation" noch im Auslande belästigt wurde, der sein unsterbliches Lebenswerk niemals hätte vollbringen können; wenn er nicht in England, wo das „Prinzip des Individualismus" herrschte, einen rettenden Hafen gefunden hätte. Und wenn der alte Liebknecht wegen seiner freien Rede hinter schwedische Gardinen „organisiert" wurde, so mag er wohl einmal einen sehnsüchtigen Blick nach England hinübergeworfen haben, wo er zwölf Jahre lang hatte reden und schreiben dürfen, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Mit dieser kleinen Schwäche des Alten geht Lensch ein wenig zu streng ins Gericht.

Überhaupt kennzeichnet es die ganze „Umlernerei" in höchst bedeutsamer Weise, dass ihr die bürgerliche Freiheit, der England die Bahn gebrochen hat, nicht mehr als Hekuba ist*

Die guten Leute lassen es zwar an platonischen Protesten gegen den Belagerungszustand nicht fehlen, aber ihrer geistigen Munterkeit tut das keinen Eintrag. Sie kämpfen bereitwillig unter seinem Schutze gegen die Minderheit oder – wer weiß? – Mehrheit, die den Grundsätzen der Partei treu geblieben ist, und fühlen sich unbeschwert von der Sorge, ob nicht das dicke Ende nachkommt. So singt auch Lensch seinen Lerchentriller:

Mit dem Weltkriege hat die Sozialdemokratie als „weltfremde Utopik" ihr „Ende" gefunden, aber nun beginnt ihr „Glück", als fünftes Rad an dem revolutionären Staatswagen zu rollen, den Bethmann Hollweg kutschiert.

Es ist anzuerkennen, dass die liberalen Blätter durch den Belagerungszustand doch etwas nachdenklicher gestimmt worden sind. Wenn Lensch begeistert ausruft: „Das Prinzip der Organisation, das in der Hand der Obrigkeitsregierung gleichbedeutend ist mit Bevormundung, Untertanengesinnung und Polizeiwirtschaft, springt in sein dialektisches Gegenteil um und wird zum Hebel der Selbstverwaltung, Staatsbürgergesinnung und freien Disziplin in dem gleichen Augenblick, wo sein Träger die Volksmasse selbst wird", so fügt das „Berliner Tageblatt" dieser Jubelhymne die trockene, aber, wie mir scheinen will, nicht ganz unebene Bemerkung hinzu, mit solchem Hokuspokus lasse sich natürlich alles beweisen.

In seiner Gutmütigkeit versüßt das „Berliner Tageblatt" die bittere Pille wenigstens durch die Anerkennung, dass Lensch zu den klügsten Köpfen der Sozialdemokratie gehöre und sich besonders an Hegel geschult habe. Dabei läuft allerdings eine kleine Verwechslung unter; Lensch weiß nichts von Hegel, aber Hegel wusste schon von Lensch, als er in seiner Enzyklopädie schrieb: „In unserer reflexionsreichen und räsonierenden Zeit muss es einer noch nicht weit gebracht haben, wenn er nicht für alles, auch das Schlechteste und Verkehrteste, einen guten Grund anzugeben weiß." Und Lensch hat es wirklich recht weit gebracht, das muss ihm der Neid lassen.

Im Übrigen – da Götterspeise sterblichen Wesen nicht immer bekommt, so möchten wir den Lesern, die sich von Lenschens Ambrosia und Nektar eine Magenverstimmung geholt, als heilsame Arznei einige Kapitel aus Lassalles „Julian" empfehlen, besonders die Vorrede und das Schlusswort.

Es sei mir gestattet, bei dieser Gelegenheit gleich ein ellenlanges Gerede zu widerlegen, das Heinrich Cunow neuerdings im „Hamburger Echo" gegen mich loslässt. Bemerkenswert ist daran nur, dass Cunow zur Abwechslung Karl Marx für ein Mittelding von Engel und Esel erklärt. In meinem Artikel „Intelligenzen und Intelligenzen" – siehe „Leipziger Volkszeitung" vom 27. Juni dieses Jahres – habe ich aus einem Briefe, den Marx am 5. April 1852 an Weydemeyer richtete, wörtlich eine Stelle zitiert, worin Marx sagt, bürgerliche Geschichtsschreiber, unter denen er an erster Stelle Thierry nennt, hätten längst vor ihm die historische Entwicklung des Klassenkampfes entdeckt.4 Hierzu bemerkt Cunow, 1. „Marxens Äußerung beziehe sich" auf eine Schrift, die Thierry 1853, also ein Jahr später, veröffentlicht habe, wonach Marx ein übermenschliches Ahnungsvermögen bekundet hat, 2. aber kennzeichnet Cunow dies Ahnungsvermögen als recht eselhaft, denn er sagt, was Thierry in der Mitte des 19. Jahrhunderts über den Klassenkampf geschrieben habe, sei weit hinter dem zurückgeblieben, was Autoren des 18. Jahrhunderts, wie Marat, ja selbst Turgot und Necker über die Klassenscheidung zu sagen gehabt hätten.

Das ganze Gewäsch erledigt sich dadurch, dass Cunow „Marxens Äußerung" aus freier Faust auf Thierrys letzte Schrift bezieht, die im Jahre 1853 erschienen ist, aber nicht weiß oder nicht wissen will, dass Thierry schon seit damals dreißig Jahren eine Reihe historischer Werke verfasst hatte, die auf Marx nach dessen wiederholter Versicherung einen bedeutenden Einfluss gehabt haben. Umgekehrt wie mit Thierry macht es Cunow mit mir, indem er so tut, als ob er von meiner dreißigjährigen Parteitätigkeit nichts wisse, und mir vorwirft, dass ich „die seltsamsten Wandlungen" durchgemacht habe und, wie er andeutet, „manchmal" nicht aus ehrlichen Gründen. Aus alter Freundschaft tut es mir recht leid, dass Cunow damit den letzten Reiz vernichtet, der bisher der klobigen Elefantenmanier seiner Polemik insofern anhaftete, als sie sich von schmutzigen Verdächtigungen frei zu halten schien.

gez.: Fr. Mehring

1 Franz Mehring: Die Lessing-Legende, Bd. 9 der „Gesammelten Schriften". – Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 1 u. 2 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1960.

3 Siehe Marx an Engels in Manchester, 12. Februar 1856. In: Ebenda, Bd. 29, S. 11-15.

* Die obigen Ausführungen waren bereits geschrieben, als sie eine kräftige Bestätigung erhielten durch das Geweimer des „Hamburger Echos" und der „Chemnitzer Volksstimme" über ein anonym erschienenes Flugblatt, das angeblich zum „Landesverrat" auffordern soll. Ich kenne ein Flugblatt dieses Inhalts nicht, und ich meine, sozialdemokratische Blätter sollten mit solchen Denunziationen ins blaue hinein, die niemand nachprüfen kann, doch einigermaßen vorsichtig umgehen, nachdem alle Versuche, irgendein anonymes Flugblatt gerichtlich wegen „Landesverrats" zu belangen, am Reichsgericht abgeblitzt sind und die sonstigen gerichtlichen Verfahren gegen Verbreiter von Flugblättern entweder mit einer Freisprechung oder mit einer Verurteilung auf Grund jener Paragraphen des Strafgesetzbuches geendet haben, deren beständige Verletzung auch die Parteiblätter in Chemnitz und Hamburg nicht haben vermeiden können, solange sie die alten Grundsätze der Partei vertraten. Die anonyme Flugblattliteratur ist ein Notbehelf, für den niemand schwärmen wird, aber die sittliche Entrüstung über sie ist geradeso viel wert wie die etwaige sittliche Entrüstung darüber, dass die Sonne wärmt und der Regen nässt. Diese Literatur, die sich bekanntlich keineswegs auf die sozialdemokratische Opposition beschränkt, ist, auch wenn sie noch so anfechtbar wäre, doch nur die unausbleibliche Folge des Belagerungszustandes, was tausend Blätter der Geschichte lehren und was ein so streng konservativer Mann, wie der alte Moltke, schon vor 84 Jahren durch den klassischen Satz begründet hat: „Weil sie das Unschuldige nicht öffentlich äußern durften, so taten sie das Schuldige im geheimen." Stehen die Parteiblätter in Chemnitz und Hamburg demnach an historischer Erkenntnis tief unter Moltke, so ist ihnen jedoch zuzubilligen, dass sie dem weiland Puttkamer des Sozialistengesetzes glücklich abgeguckt haben, wie er sich räusperte und wie er spuckte, wenn er die Bebel, Liebknecht, Grillenberger usw. der Feigheit zieh, weil sie unter der Herrschaft eines Ausnahmegesetzes anonyme Flugblätter herausgaben. Darüber lachten unsre alten Vorkämpfer, und zwar von Rechts wegen, und Puttkamers selige Nachfolger in Chemnitz und Hamburg werden mit ihren tragischen Gebärden keinen ernsteren Erfolg erzielen.

4 Siehe Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852. In: Ebenda, Bd. 28, S. 507/508.

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