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Franz Mehring 19160801 Zum dritten Kriegsjahr

Franz Mehring: Zum dritten Kriegsjahr

1. August 1916

[Leipziger Volkszeitung Nr. 170, 1. August 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 689-692]

Zwei Jahre des entsetzlichsten Völkerringens, das die Weltgeschichte jemals gesehen hat, liegen hinter uns, und noch wirft das dritte Kriegsjahr, wie es heute aus dem Schoße der Zeiten emporsteigt, keinen Strahl der Hoffnung in die düstere Wirrnis, die auf allen Kulturvölkern lastet.

Ihnen allen ist dieser grauenvolle Krieg zur unerträglichen Last geworden, auch denen, die nicht unmittelbar in seine Strudel gerissen sind. Der Ruf nach Frieden hallt lauter und lauter um den Erdball, aber noch ist es ein ohnmächtiger Schall. Nicht als ob die Regierungen nicht auch des Völkermordes müde und satt wären; man darf vielleicht keiner von ihnen die Schmach antun zu sagen, dass sie den Frieden verschmähen würde, wenn sie ihn haben könnte. Aber verstrickt in die ehernen Bande der kapitalistischen Wirtschaft, ist jede von ihnen unfähig, das erlösende Wort zu sprechen.

Sollen wir sie deshalb anklagen? Es wäre ein wohlfeiles und mehr als das, es wäre ein heuchlerisches Beginnen. Denn wahrlich! wir selbst haben die Macht zerstört, die heute ein entscheidendes Wort sprechen könnte: die Macht des internationalen Proletariats. Stände heute die Internationale da in der Kraft und Stärke, die sie zu besitzen glaubte, sie könnte ein Gewicht in die Waagschale werfen, das alle Schwerter des Brennus in die Höhe schnellen würde. Aber die Internationale ist untergegangen an selbstmörderischem Tun: Was sie hinterlassen hat, ist ein wüster Trümmerhaufen, den in mühsamer Flickarbeit wieder aufzubauen ein eitles Bemühen ist, während aus seinen Ruinen neues Leben doch nur erst in spärlichen Halmen sprießt.

Nur mit Ingrimm kann man heute der unseligen Schwätzer gedenken, die vor zwei Jahren den deutschen Arbeitern einzureden versuchten und zum Teil auch wirklich einzureden verstanden, sie hätten fünfzig Jahre in lauter „Illusionen" gelebt und die gewaltige Lebenskraft der kapitalistischen Gesellschaft unterschätzt, die sich nun in dem beginnenden Weltkriege herrlich offenbare. Wo sei denn der „große Krach", den die Marx und Engels, die Liebknecht und Bebel für den Fall eines Weltkriegs so oft prophezeit hätten? Die kapitalistische Maschine arbeite im Kriege lebhafter und munterer noch als je im Frieden, und was dieses törichten Geredes war bis zu der blanken Narrenweisheit, in diesem Weltkriege stiege die deutsche Arbeiterklasse an der Hand des altpreußischen Staats zum Tausendjährigen Reich empor.

Hören wir dagegen nur, was einer der angeblich abgedankten „Illusionäre", was Friedrich Engels i. J. 1888, also vor fast einem Menschenalter, über den heutigen Krieg vorhergesagt hat, wobei wir aus bekannten Gründen einige besonders schlagende Sätze unterdrücken müssen: Es „ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot…; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebes in Handel, Industrie und Kredit…; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung …"1 So Engels; und danach urteile man über die Neunmalweisen, die ihm jahrzehntelang jedes Wort nachgebetet haben und ihn nun für einen unheilbaren „Illusionär" erklären, weil er in seinem Zukunftsbilde des Weltkrieges ein so treffendes Bild der Gegenwart entworfen hat.

Freilich hat auch Engels von den Folgen des Weltkrieges noch manche übersehen: so den durch den Belagerungszustand verbürgten „Burgfrieden". Er ist eine Errungenschaft des modernen Weltkrieges, wie sie frühere Kriege nie gekannt haben. Auch in früheren Kriegen ging man von der mehr oder minder berechtigten Annahme aus, das Volk begeistere sich für den Krieg schon um des Krieges willen, aber man zog daraus die logische Folgerung, dass dem Volke gestattet werden müsse, seinen Willen kundzutun. Zur Zeit, wo die Zensur noch als ein unerschütterliches Bollwerk des Staats im Frieden galt, im Jahre 1813, verlangte Scharnhorst, der größte Kriegsmann, den der preußische Staat bis auf diesen Tag gesehen hat, für den Krieg eine zensurfreie Presse. Er stand mit seinem ganzen Einfluss hinter den Niebuhr und Schleiermacher, als diese sich anschickten, ein unabhängiges Blatt herauszugeben, aber dabei auf den hartnäckigen Widerstand des „freisinnigen" Staatskanzlers Hardenberg stießen; am 18. März des genannten Jahres schrieb Scharnhorst an Schleiermacher: „Es kann nicht fehlen, dass die fortdauernde Zögerung in dieser Angelegenheit, die im eigentlichsten Sinne Bedürfnis des Augenblicks ist, einen höchst nachteiligen Einfluss auf das ausländische und inländische Publikum äußern muss Es ist sehr natürlich, dass dies jeden Patrioten in eine unglückliche Stimmung versetzen muss." So Scharnhorst im Jahre 1813, und hundert Jahre später wurde die Zensur, die in Friedenszeiten seit siebzig Jahren abgewürgt worden war, bei dem Ausbruch des Kriegs von den Toten wieder auferweckt.

Es ist überflüssig, „die unglückliche Stimmung" erst zu schildern, die dadurch nach Scharnhorsts richtiger Voraussicht geschaffen werden musste und seit zwei Jahren auch wirklich geschaffen worden ist. Längst hat sich die alte Erfahrung bestätigt – vom Reichskanzler bis zum sozialdemokratischen Parteivorstand –, dass die Nutznießer der Zensur ärger unter ihr leiden als ihre Opfer. Darüber brauchte man nicht zu klagen, aber solange die Zensur besteht, bleibt sie das gefährlichste Hindernis des Friedens. Sie säet Argwohn und Misstrauen im eigenen Volke, und sie nimmt dem Kampfe der Geister jene versöhnende Kraft, die allein dem freien Worte zukommt.

Dennoch – die deutsche Arbeiterklasse ist in unvergesslichen Tagen mit der Zensur fertig geworden, dank der Festigkeit und der Klarheit ihrer Prinzipien, und sie braucht auch in allen Gräueln des Weltkrieges nicht zu verzagen, sobald sie wieder festen Fuß auf dem ehernen Grunde dieser Prinzipien fasst. Sonst freilich zerflattern ihre Friedenswünsche in die leere Luft, wie denn die Friedenssehnsucht, die der Parteivorstand von Zeit zu Zeit bekundet, längst ein inhaltloses Gemurmel geworden ist, auf das kein Mensch mehr achtet. Und zwar von Rechts wegen, solange es bei der tatsächlichen „Durchhaltepolitik" bleibt.

Die deutsche Arbeiterklasse will den Frieden nicht schlechthin, nicht um jeden Preis, gewiss nicht um den Preis einer Niederlage. Wie käme sie dazu, die dem Kriege die schwersten Opfer gebracht hat, den Sieg des Feindes zu wünschen, mit dem teuren Blute von Hunderttausenden ihrer Klassengenossen die Äcker des englischen Imperialismus oder des russischen Despotismus zu düngen? Sie will den Frieden, der sowohl ein Lebensinteresse des deutschen Volkes wie der ganzen gesitteten Menschheit ist, den Frieden, der jeder der kämpfenden Nationen gestattet, sich mit ihm zu bescheiden.

Man sagt wohl, ein solcher Friede sei eine Utopie. Und vom imperialistischen Standpunkt mag man mit Recht so sagen. Aber seit wann ist es die Sache der Arbeiterklasse, ihre Zukunft vom imperialistischen Standpunkt aus zu betrachten? Man antwortet vielleicht: Seit dem 4. August 1914.

Und das mag richtig sein für die Mehrheit der Reichstagsfraktion, des Parteivorstandes usw. Aber was ist dabei herausgekommen? Doch nichts andres, als dass die Partei nach zwei Kriegsjahren von jedem Einfluss auf die Entscheidung der Dinge ausgeschlossen ist. Herr v. Bethmann hat es bequemer als seinerzeit Herr v. Caprivi, der jeden politischen Schritt, den er tat, zunächst unter dem Gesichtspunkt erwog, wie er auf die Sozialdemokratische Partei wirken würde.

Die Stärke der sozialdemokratischen Politik hat von jeher darin bestanden, dass sie ihre grundsätzlichen Ziele verfolgte, gleichviel ob sie vom kapitalistischen Standpunkt als Utopien erschienen oder nicht. Ist der Friede, den die Sozialdemokratie erstrebt, wirklich eine Utopie für die heutige Gesellschafts- und Staatsordnung, desto schlimmer für diese Ordnung! Soviel sollten zwei Kriegsjahre doch auch stumpfsinnige Gehirne gelehrt haben, dass, wenn dieser Krieg noch ein oder zwei Jahre dauert, die allgemeine Erschöpfung da ist. Oder wenn wirklich noch eine der kämpfenden Mächtegruppen so durchschlagend siegen sollte, dass sie der andern den Frieden mit der Spitze des Schwertes diktieren könnte, so würde dieser Friede nur ein Waffenstillstand sein, der neue Kriege entfesseln würde, die dann doch in der allgemeinen Erschöpfung enden müssten.

Aber die moderne Gesellschaft würde an ihr nicht sterben, wie die antike Welt an der allgemeinen Erschöpfung gestorben ist. Ihr Ende wird nicht der Tod sein, sondern die Wiedergeburt: Was dem antiken Sklaven versagt war, ist dem modernen Arbeiter vergönnt, eine neue Welt zu schaffen, und durch die finstersten Wolken leuchten ihm dennoch seine Sterne.

gez.: Fr. M.

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