Franz Mehring‎ > ‎1915-16‎ > ‎

Franz Mehring 19160501 Zum ersten Mai

Franz Mehring: Zum ersten Mai

1. Mai 1916

[Leipziger Volkszeitung Nr. 99, 1. Mai 1916. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 671-673]

Als vor einem Jahre der erste Mai unter dem Zeichen des Weltkrieges zum ersten Mal aus dem Schoß der Zeiten auftauchte, hat schwerlich irgendwer geglaubt, dass er noch einmal unter gleich unheilvollen Wetterwolken wiederkehren werde. Ja, der Blick auf die Gegenwart ist heute trüber und die Hoffnung auf die Zukunft ist heute ungewisser, als beides vor Jahr und Tag war.

Nur ein hellerer Streifen säumt an diesem ersten Mai den dunklen Horizont des Weltkrieges: Der Geist, aus dem einst der Weltfeiertag des Proletariats geboren wurde, ist wieder lebendig geworden innerhalb der europäischen und namentlich der deutschen Arbeiterklasse. Sie beginnt, sich auf sich selbst zu besinnen und sich ihrer historischen Pflichten wieder bewusst zu werden. Es geht noch langsam genug vorwärts, aber immerhin – vorwärts geht's, und diese Bewegung kann nur noch wachsen, niemals wieder sinken. Am wenigsten wird sie erstickt werden durch die Kolophoniumblitze der Staatsmännerchen, die den Bismarck und Puttkamer glücklich abgeguckt haben, wie diese sich räusperten und spuckten. Das Staatsmännerchen-Spielen bekundet dadurch nur, dass es schon auf dem letzten Loche pfeift.

Es ist ein seltsamer Widerspruch, dass denen, die den alten Parteigrundsätzen treu geblieben sind, das eine Mal vorgehalten wird, sie wären blind für die ungeheure Revolution des Weltkrieges, das andre Mal aber zum Verbrechen angerechnet wird, dass sie den grünen Tisch der Lindenstrasse in Berlin nicht als den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht betrachten, auf dem nicht einmal ein Tintenfass erschüttert wird, wenn eine Welt über ihm zusammenstürzt, oder, um ein Bild Lassalles zu gebrauchen, als einen Pflock, der unerschüttert auf demselben Fleck stehen bleibt, während sich das Erdreich fortbewegt, worin er steckt. Nein, wenn wir allerdings glauben, dass die zahllosen Aufrufe, die von diesem grünen Tisch in die Welt flattern, sich nur durch die Fülle der Beredsamkeit, aber keineswegs die der praktischen Wirkung von dem Aufrufe unterscheiden, den der Gouverneur von Berlin nach der Schlacht bei Jena an die Straßenecken schlagen ließ: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, so zweifeln wir deshalb nicht, dass auch das Jena der zweiten Internationalen seine Wirkungen haben wird.

Eben jetzt spotten Blätter der Konservativen und des Zentrums der berühmten „Neuorientierung", indem sie sagen, dass die Sozialdemokratie auch nach dem Kriege den Klassenkampf führen werde. Wie alles bei diesen Parteien auf dem Kopf steht, so auch diese Behauptung, aber wenn man sie auf die Füße stellt, so ist sie ganz richtig: Nach dem Kriege wird ein Klassenkampf entbrennen, mit dem verglichen alle Klassenkämpfe, die vor dem Kriege stattgefunden haben, fast nur als Vorpostengefechte erscheinen, und demgemäß wird auch die Sozialdemokratie entschlossener und mächtiger werden denn je. Denn sie ist nicht die Mutter des Klassenkampfs, sondern der Klassenkampf ist ihr Vater.

Lassen wir also die berühmte „Neuorientierung", die ein in der Form so geschmackloses wie im Inhalt leeres Schlagwort ist. Die Konservative und die Ultramontane Partei sowie die Regierung haben der Sozialdemokratie keine Versprechungen gemacht und brauchen ihr also auch keine Versprechungen zu halten, und die sozialdemokratischen Durchhaltepolitiker haben in schönem Edelmut auf jede Belohnung für ihren Patriotismus verzichtet, so dass sie nichts zu fordern haben. Mit dem Geweimer also, womit der deutsche Liberalismus ein halbes Jahrhundert lang keinen Hund vom Ofen gelockt hat, mit dem Geweimer über den Undank, womit die Könige braven Völkern die Rettung ihrer Kronen zu danken pflegen, werden wir nach dem Kriege verschont bleiben, und das ist immerhin eine dankenswerte Ersparnis an Druckerschwärze, sittlicher Entrüstung und weihevollem Traum.

Um so eher ist eine klare und nüchterne Besserung der ganzen Weltlage möglich und nötig. Für die Arbeiterklasse hat der Weltkrieg unbarmherzig mit allen Illusionen aufgeräumt, die sie sich über sein Wesen machen konnte und mochte, und so sollte auch sie aufräumen mit allen nun nicht mehr unbewussten Selbsttäuschungen, so sollte sie verzichten auf alles Flick- und Stückwerk, das die Krankheit nicht mehr heilen, sondern ihren Verlauf nur noch qualvoller gestalten kann. Lasset die Toten ihre Toten begraben! Was in der Tat wäre damit geholfen, wenn – nach langem Hängen und Würgen – der englische, französische, russische Sozialdemokrat mit deutschen und österreichischen Sozialdemokraten an einem Tische in Amsterdam oder Bern zusammenkämen und – wiederum nach langem Hängen und Würgen – eine jener Resolutionen zusammenklaubten, wie deren Dutzende beim ersten Aufspringen eines historischen Sturms ins leere Nichts zerflattert sind?

Sehen wir den Dingen, wie sie sind, ruhig ins Auge, und gestehen wir offen: Die zweite Internationale ist tot, aber fügen wir in demselben Atemzuge hinzu: Es lebt die Internationale! So wie Karl Marx nach dem Tode der ersten Internationalen, der er soviel Arbeit und Geist und Kraft gewidmet hatte, mit ruhiger Zuversicht schrieb: „So ist die Internationale, anstatt abzusterben, bloß aus ihrer ersten Inkubationsperiode in eine höhere Phase getreten, in der bereits ihre ursprünglichen Bestrebungen zum Teil Wirklichkeit geworden sind. Im Laufe dieser fortschreitenden Entwicklung wird sie noch manche Veränderungen durchzumachen haben, bevor das letzte Kapitel ihrer Geschichte geschrieben werden kann."1 Ob schon das letzte Kapitel – wir wissen es nicht, aber ein neues Kapitel in der Geschichte der Internationalen hat begonnen. Sie kann nicht dauern in dem galvanisierten Scheinleben einer abgestorbenen Form, aber sie wird leben in dem Sinne des alten Burschenschaftsliedes: Die Form ist zerfallen; was hat es für Not? Der Geist ist in uns allen …

Diesem Geist die neue Form zu finden, ist recht eigentlich für die Arbeiterklasse der Gedanke der Zeit, sosehr sich die Staatsmännerchen dagegen sträuben mögen, denen schon der Dichter ins Stammbuch geschrieben hat:

Seine Feinde mühen sich ab:

Mit Schlingen und Banden;

Sie machten ihn gern zuschanden;

Und wenn er schon längst erstanden,

Hüten Sie noch sein Grab!

Ja, dieser Gedanke ist erstanden, und er beginnt, sich seine neue Form zu schaffen, wie noch jede große Bewegung in der Geschichte der modernen Arbeiterklasse begonnen hat: mit rücksichtsloser Kritik, die sich weder vor ihren Ergebnissen fürchtet noch vor dem Zusammenstoss mit gleichviel wem. Sie fegt zuerst vor der eigenen Tür, denn die neue Internationale kann sich nur von unten aufbauen. Sie wird ein Werk der Massen sein, in denen es sich von Tage zu Tage lebendiger regt, und in diesem Zeichen begrüßen wir heute freudig den Weltfeiertag der Arbeit – trotz alledem und alledem.

gez.: Fr. M.

Kommentare