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Franz Mehring 19171003 Die Zersprengten und die Phalanx

Franz Mehring: Die Zersprengten und die Phalanx

3. Oktober 1917

[Leipziger Volkszeitung Nr. 231, 3. Oktober 1917. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 751-754]

In der letzten Sonnabendnummer der „Leipziger Volkszeitung" ist bereits der Nachweis geführt worden, dass der Mehrheitsblock des Reichstages, der die so genannte Friedensresolution vom 19. Juni angenommen hat und angeblich den Weltfrieden verbürgen soll, ein innerlich zerfahrenes Gebilde darstellt, das von Tag zu Tag mehr abbröckelt. So schlüssig dieser Nachweis geführt wurde, so hat es die „Liberale Korrespondenz", ein offizielles oder gar das offizielle Organ der Fortschrittspartei, für nötig gehalten, noch den Punkt aufs i zu setzen und die Friedensresolution so zu ohrfeigen, wie es noch keines alldeutschen Frevlers Hand gewagt hat.

Die „Liberale Korrespondenz" sagt nämlich, jeder der drei Friedensverträge, die Bismarck nach siegreichen Kriegen abgeschlossen habe, beruhe auf einem Frieden der Verständigung. Sowenig Bismarck in seinen Verträgen mit Dänemark, mit Österreich und mit Frankreich je einen Verzichtfrieden abgeschlossen habe, sowenig dächten die Parteien, die hinter der Reichstagsresolution vom 19. Juni ständen, an einen Verzichtfrieden. Das sagt die „Liberale Korrespondenz" im Namen einer der Parteien, die den Mehrheitsblock bilden. Und wenn sie Recht hat, so ist wirklich nicht abzusehen, weshalb der Mehrheitsblock mit den Alldeutschen streitet. Denn im Wesen der Sache verlangen die Alldeutschen nicht mehr, als was Bismarck in jenen drei Friedensverträgen geleistet hat; höchstens dass ein Gradunterschied insofern stattfindet, als die alldeutsche Annexionswut ganz ins Sinn- und Uferlose geht, während Bismarck bei den von ihm „erzwungenen Gebietsabtretungen" noch eine gewisse Besonnenheit und Mäßigung verraten hat, wenigstens in den Jahren 1864 und namentlich 1866, weniger schon im Jahre 1871, obgleich er auch bei dieser Gelegenheit der annexionswütigen Militärpartei einigen Widerstand entgegensetzte.

Jedes Kind weiß, dass im Jahre 1864 das kleine Dänemark erst dann in die Abtretung Schleswig-Holsteins willigte, nachdem es sich im Kampf mit zwei Großmächten vergebens abgerungen hatte. Jedes Kind weiß, dass dann der Streit um die Beute den Krieg von 1866 hervorrief, der Österreich und die deutschen Mittelstaaten so niederwarf, dass sie in die Annexion Hannovers usw. durch Preußen willigten. Jedes Kind weiß, dass der Frieden von 1866 den Krieg von 1870/71 im Schoße barg und dass Frankreich erst dann sich Elsass-Lothringen abzwingen ließ, als seine Widerstandskraft bis auf den letzten Hauch erloschen war. Es ist ein Wunder, dass sich die „Liberale Korrespondenz" nicht auch noch auf den Frieden von Tilsit als einen „Verständigungsfrieden" berufen hat, in dem der preußische König Friedrich Wilhelm III. gerührt in die Arme Napoleons sank, weil ihm dieser mehr als die Hälfte der preußischen Monarchie abknöpfte.

Jedenfalls ist mit dieser Leistung des fortschrittlichen Organs ein Gipfel erreicht, der nun nicht mehr wohl überboten werden kann, ist die Friedenszielresolution vom 19. Juni für einen Fetzen Papier erklärt worden, von dem man nur bedauern kann, dass er in der Papiernot verschwendet worden ist. Von Tag zu Tag mehr verwandelt sich der Mehrheitsblock in einen bunten Haufen von Zersprengten, so dass man an das Dichterwort erinnert wird:

So schnell, als hätte Gottes Schrecken ihn

Ergriffen, wendet er sich um

Zur Flucht, und Wehr und Waffen von sich werfend,

Entschart das ganze Heer sich im Gefilde.

Jedoch hat diesmal nicht, wie in Schillers Tragödie eine gottgeweihte Jungfrau die schmähliche Flucht veranlasst, sondern eine sehr unheilige Erscheinung: die deutsche Vaterlandspartei, die Schwerindustrie, verbündet mit dem Junkertum und dem Militarismus und mit allem, was es sonst noch an reaktionären Elementen in Deutschland geben mag. Aber wie unheilig immer: Es ist eine wirkliche Phalanx, vor derem wuchtigen Schritt und Tritt die lose Spreu auseinanderstiebt, die in dem Mehrheitsblock des Reichstags zusammengeweht war. Die Nationalliberalen, die ja auch ein wenig mit dem Mehrheitsblock geliebäugelt hatten, sind sofort mit Sack und Pack zu der alldeutschen Phalanx übergelaufen, und die Fortschrittler wie die Ultramontanen strömen ihr in hellen Haufen zu, denn ihr Instinkt sagt ihnen: Sicher ist sicher, und Profit ist Profit!

Aber unsre braven Regierungssozialisten, der Kern und Stern des Mehrheitsblocks! Wie wusste der „Vorwärts" zu schmälen, als die „Leipziger Volkszeitung" die Friedensresolution des Reichstags „unklar und zweideutig" nannte. Und heute muss er sich von der alldeutschen Presse sagen lassen, weshalb er die „wutschnaubenden Worte", die er ihr widme, nicht auch gegen die „Liberale Korrespondenz" richtet. Jedoch der „Vorwärts" steckt den Kopf in den Sand, über den die Zersprengten dahinhasten, unbekümmert um die Fußtritte, die er dabei in den Kauf nehmen muss. Nun freilich, freilich – eine „große Tat in Worten" haben die Abhängigen doch vor: Sie wollen die Regierung über deren Stellung zu der deutschen Vaterlandspartei interpellieren, und um die „große Interpellation" würdig vorzubereiten, haben sie sogar dafür gestimmt, dass der ganze Reichstag für acht Tage in der Dunkelkammer seines Hauptausschusses verschwindet.

Denjenigen Lesern, die sich über das Wesen des Regierungssozialismus klar werden wollen, können wir nur empfehlen, nachzulesen, was Lassalle in seinen Schriften, die ihnen ja leicht zugänglich sind, über die kopflose und verräterische Politik der damaligen Fortschrittspartei sagt. Man konnte zu Lassalles Zeiten kein Fortschrittsblatt aufschlagen, ohne die Versicherung zu hören, wenn die Regierung ihre Hand von der Junkerpartei abzöge, so würde diese nicht so viel Abgeordnete für den Landtag durchsetzen, wie notwendig wären, um eine Droschke zu füllen. Bei dem damaligen Stande der historischen Erkenntnis war diese Einbildung, so abgeschmackt sie immer sein mochte, wenigstens noch begreiflich. Allein wenn heute die Scheidemänner sich einbilden, Herr Michaelis könne und werde, um ihrer schönen Augen willen, den gesellschaftlichen Mächten, die hinter der deutschen Vaterlandspartei stehen, den Abschiedsbrief schreiben, so kann man ihrer Intelligenz wirklich nicht mehr das leiseste Kompliment machen. Herr Michaelis wird sich hüten, denn wenn er heute mit unzarter Hand in dieses Wespennest griffe, so wäre er morgen ein toter Mann. Im günstigsten, das heißt für die Abhängigen günstigsten Fall wird er die „große Interpellation" mit den ihm geläufigen, vieldeutigen Worten beantworten, in denen die Regierungssozialisten herumstöbern können wie die römischen Priester in den Eingeweiden eines Opfertieres.

Indessen ist die ganze Haupt- und Staatsaktion schon dadurch erledigt, dass Herr Michaelis im Hauptausschuss des Reichstags eine Erklärung über die Kriegsziele im allgemeinen abgelehnt und im besonderen die belgische Frage als ein Handelsobjekt sich vorbehalten hat für jene wundertätige Diplomatie, deren Muster die Welt in Herrn Zimmermann mexikanischen und Herrn Luxburg argentinischen Angedenkens bewundert. In solchen Händen sind die Lebensinteressen des deutschen Vaterlandes allerdings so trefflich gewahrt, dass der deutschen Vaterlandspartei kaum noch etwas zu wünschen übrig bleibt, wie die alldeutsche Presse denn ja auch ihre vollkommene Zufriedenheit mit dieser Kriegs- und Friedenspolitik des Reichskanzlers bekundet.

Bei aller trüben Aussicht darf man jedoch nicht verkennen, dass die Zersprengung des Mehrheitsblocks und die galoppierende Schwindsucht des Regierungssozialismus ein Schritt vorwärts ist. Dieser Schritt ist zu begrüßen, weil er allerlei unnützes Sperrwerk aus dem Wege räumt und die deutsche Arbeiterklasse vor das alte Wort stellt: Hier ist Rhodus, hier springe! Denn sie allein vermag, wenn sie sich ihrer alten Grundsätze und ihrer alten Kraft wieder bewusst wird, einen Wall zu bilden, an dem die junkerlich-schwerindustrielle Phalanx zerschellen muss und wird.

gez.: Franz Mehring

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