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Franz Mehring 19180000 Marx und die Bolschewiki

Franz Mehring: Marx und die Bolschewiki

1918

[Die Internationale, 1. Jg. 1927, Heft 21, S. 678-680. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 778-780]

In der Abwehr, die der Parteivorstand der USP dem Briefe entgegensetzte, den ich vor einigen Monaten in der „Prawda" veröffentlichte, war gesagt worden, dass die ganze USP die russische Revolution bewundere, wenn auch einige Sonderlinge, wie Kautsky und A. Stein, denen die Freiheit der Rede nicht verkümmert werden dürfe, gegen die Bolschewiki eiferten. Diese „Abwehr" stimmt zwar nicht mit den Tatsachen, aber ich lasse sie um so lieber gelten, als die „Sozialistische Auslandspolitik", ein anerkanntes Organ der USP, von ihrer Bolschewikifresserei sich bekehrt und ihr Redakteur Breitscheid dermaßen – selbst ohne Einschreiten eines biblischen Wunders – aus einem Saulus zu einem Paulus geworden ist, dass er mit „Gefühl und Erkenntnis" für die Bolschewiki kämpft wie die Löwin für ihr Junges.

Dieser Gelenkigkeit im Umlernen ist nun aber Karl Kautsky unfähig, und er nimmt in der „Sozialistischen Auslandspolitik" den Kampf gegen die Politik der Bolschewiki wieder auf. In diesem Vergnügen wollen wir ihn auch nicht stören, erstens aus Rührung und zweitens, weil wir es nicht lieben, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Wen sollte das Schauspiel nicht bewegen, während der reisige Hektor auf flüchtigen Sohlen ins Lager der Feinde eilt, den Vater Anchises auf den Wällen des verlassenen Troja erscheinen zu sehen, mit Schwert und Schild gerüstet zum Kampf auf Leben und Tod. Und dann wäre auch jede Vermittlung und Verwischung unmöglich zwischen dem Bolschewismus – und jenem „Kautskysmus", den Lenin schon vor drei Jahren mit den Worten gekennzeichnet hat: „Die Arbeiterklasse kann ihre welthistorische revolutionäre Mission nicht erfüllen ohne rücksichtslosen Kampf gegen dieses Renegatentum, diese Charakterlosigkeit, diese Liebedienerei vor dem Opportunismus und diese beispiellose theoretische Verflachung des Marxismus. Das Kautskyanertum ist kein Zufall, sondern ein soziales Produkt der Gegensätze in der II. Internationale, der Verbindung von Treue zum Marxismus in Worten mit Unterwerfung unter den Opportunismus in Taten."1 Wir bedauern lebhaft, dass Lenin so sehr scharfe Worte gebraucht hat, aber da er genügend Grund dazu hat, müssen wir uns mit seiner Wortart abfinden.

Also in den Streit Kautskys mit den Bolschewiki wollen wir uns gar nicht mischen. Aber Kautsky sucht diesen Streit auf deutschen Boden hinüberzuspielen, indem er behauptet, in Deutschland sei unter der Diktatur des Proletariats nie die terroristische Methode der Bolschewiki, sondern die Demokratie verstanden worden, deren wesentlichstes Kennzeichen das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht sei. Diese Behauptung hat etwas Atembeklemmendes. – Sie übertrifft an Tiefsinn noch Onkel Bräsigs Behauptung, dass die Armut von der puren Powerteh herrühre. Aber sie spiegelt den „Kautskysmus" wider, wie er leibt und lebt.

Wir wollen ihm gern zugute halten, dass er nicht ganz ins blaue hineinredet. In der Zeit, wo er selbst blühte, war die Meinung in der Partei mannigfaltig vertreten, dass, wenn sie alle fünf Jahre ein paar hunderttausend Wahlstimmen mehr eroberte, wir eines schönen Tages ganz automatisch im Hafen der sozialistischen Gesellschaft landen würden. Es war die Zeit, wo selbst ein Mann wie Bebel den gänzlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft erst für das Jahr 1893, dann für das Jahr 1899 ankündigte und, als das Rechnen mit genannten Zahlen unbequem wurde, einem Parteitag versicherte, wenige seiner Mitglieder würden den Tag nicht mehr erleben, wo das rote Banner siegreich über dem Erdkreis schwebe. Allerdings zeigte das allgemeine Wahlrecht auch damals seine Mucken, so in den Jahren 1887 und 1907, indessen, diese „Scharten" wurden immer „glänzend" ausgewetzt. Am „glänzendsten" im Jahre 1912, wo die Partei sich schon so sehr als Verwalter des Schlachtfeldes ansah, dass sie einem elenden Erpresserkniff derselben Freisinnigen, die sie seit Jahrzehnten bei allen Wahlen schmählich verraten hatten, ein bis zwei Dutzend Mandate opferte, natürlich unter dem Segen des „Kautskysmus". Mit diesem genialen Streich wurde der gegenwärtige Reichstag aus der Taufe gehoben, an dem von der „Diktatur des Proletariats" etwas zu entdecken selbst für Kautsky manche Schwierigkeiten haben würde.

Zugleich Opfer und Ursache dieser krankhaften Erscheinungen, vermag sich Kautsky von ihnen nicht loszulösen und ist sehr empört über die Genossin Zetkin, die an dem Festhalten solcher Illusionen sehr mit Recht eine Sache von politischen Kindern sieht. Wenn er aber die Genossin Zetkin damit zu verhöhnen sucht, dass sie die Grundsätze der Demokratie ablehne, wo sie ihr unbequem würden, so übersieht er die Kleinigkeit, dass er mit diesem abgeschmackten Schlagwort nur einen uralten Philistertrumpf wiederholt.

Die „Diktatur des Proletariats" ist ein Gedanke und ein Wort, der von Karl Marx herrührt2 und schon durch die Wahl der Ausdrücke bezeichnet, dass es sich dabei nicht um ewige Prinzipien, sondern um einen vorübergehenden Zustand handelt, nämlich um das Übergangsstadium der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft, wo das Proletariat bereits die politische Macht erobert hat, aber zunächst die Trümmer der alten Gesellschaft beseitigen muss, um Bahn für die neue Gesellschaft zu schaffen. Dass in diesem Stadium nicht diejenige Demokratie, deren unveräußerliches Kennzeichen das allgemeine Wahlrecht sein soll, das große Wort führen darf, sondern allein die Interessen des Proletariats entscheiden dürfen, liegt in der Natur der Sache. Marx selber hat darüber nicht die geringsten Zweifel gelassen. Er hat ja nur einmal das Glück gehabt, in einer revolutionären Bewegung mitzutun, aber man schlage die 300 Nummern der „Neuen Rheinischen Zeitung" nach, und man wird vergebens nach einer Spur der abstrusen Idee suchen, die „Diktatur des Proletariats" sei das allgemeine Stimmrecht. Im Gegenteil! Gerade die damaligen Produkte des allgemeinen Stimmrechts, die Versammlungen in Frankfurt und Berlin, überschüttete Marx mit der grausamsten Kritik und erklärte es für ein Recht der revolutionären Volksmasse, diese biederen Volksvertreter zu terrorisieren. Wäre Marx damals zum Siege gelangt und ihm wäre der Vorschlag entgegengetreten, nunmehr die „Diktatur des Proletariats" durch neue Wahlen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts ins Leben zu rufen, so würde Marx diesen tiefen Denker der Obhut einer geschlossenen Anstalt, wenn auch gewiss keines Gefängnisses, überwiesen haben. Er selbst wurde nicht müde, zu wiederholen, dass er für den Fall seines Sieges nur ein Mittel im Auge habe, „die mörderischen Todeswehn der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus". Vertrieben aus Köln, richtete Marx das letzte Wort an seine Gegner, die ihre Brutalität gesetzlich zu verkleiden suchten: „Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen."3

2 Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 19, S. 28: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats."

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