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Franz Mehring 19171231 Neujahr 1918

Franz Mehring: Neujahr 1918

31. Dezember 1917

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 303, 31. Dezember 1917. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 758-760]

Ein Glück, dass dem menschlichen Auge die Zukunft verschleiert ist!

Hätte es im Beginn des eben verflossenen Jahres voraussehen können, dass an dessen Schluss ernsthafte Friedensverhandlungen stattfinden würden, mit welchen Hoffnungen hätte die sorgende Menschheit sich seit zwölf Monaten getröstet, um heute der grausamsten Enttäuschung zu verfallen! Denn wir wissen alle, dass die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk den allgemeinen Frieden der Völker nicht bringen, sondern nur – auch wenn sie gelingen und dann erst recht – einen neuen und vielleicht noch entsetzlicheren Abschnitt des Weltkrieges einleiten werden.

Ähnliche Aussichten in eine trübe Zukunft quälten den Altmeister der deutschen Philosophie, als im Jahre 1795 der altpreußische Staat den Baseler Frieden1 mit der Französischen Revolution geschlossen hatte. Kant schrieb damals seinen „Philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden", und an die Spitze der Bürgschaften, die er für einen dauernden Frieden verlangte, stellte er – noch vor dem Verbote der stehenden Heere und der Kriegsanleihen – die Forderung, dass kein Friedensschluss für einen solchen gelten solle, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden sei. Kant wollte den Baseler Frieden überhaupt nicht als Frieden anerkennen, und wie richtig er darin sah, hat er zwar nicht mehr selbst erlebt, aber nachdem sich der altpreußische Staat zehn Jahre in dem tiefen Wahne gewiegt hatte, dass er der Französischen Revolution in Basel ein für allemal ein Ende gemacht habe, musste er schließlich ein bitteres Erwachen erleben.

Da sich die Geschichte niemals wiederholt, so wäre es ein verfehltes Beginnen, in allem und jedem eine Parallele zu ziehen zwischen dem Frieden, den der preußische Staat in Basel mit der französischen Republik geschlossen hat, und dem Frieden, den das neupreußische Reich in Brest-Litowsk mit der russischen Revolution zu schließen bereit ist. Die Erinnerung an Basel ist nur dazu geeignet, den Übermut der einen zu dämpfen, die sich einbilden, durch einen Sonderfrieden würde Mitteleuropa dem Einfluss der russischen Umwälzung für immer entzogen, als auch den Kleinmut der andern zu zerstreuen, die dem Wahne huldigen, durch einen Sonderfrieden entleibe die russische Revolution sich selbst.

Der Übermut der einen trifft sowenig zu wie der Kleinmut der andern. Revolutionen haben einen langen Atem, wenn es wirkliche Revolutionen sind; die englische Revolution des siebzehnten, die Französische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts haben jede etwa vierzig Jahre gebraucht, um sich auszuwirken, und wie – man möchte fast sagen ins winzige – schrumpfen die Aufgaben, die die englische und selbst noch die Französische Revolution zu lösen hatten, vor den ungeheuren Problemen zusammen, mit denen die russische Revolution ringen muss. Für sie gibt es kein Zurück mehr, sondern nur ein Vorwärts, und wenn erst ein oder ein paar Jahre, ein oder ein paar Jahrzehnte die Massen des gewaltigsten Reichs ins Glühen gebracht haben, dann wird ihr heißer Hauch manchen ehernen Felsen schmelzen, der sich heute noch unerschütterlich dünkt. Dann wird den Diplomaten, deren Scherzworte über die Unbehilflichkeit der russischen Unterhändler in Brest-Litowsk in patriotischen Kreisen kursieren, das Lachen vergehen, und die Revolutionsphilister, die auch in revolutionären Tagen die Mittagssuppe punkt zwölf Uhr auf ihrem Tisch sehen wollen, werden lange Gesichter machen.

Auf der andern Seite sind die Revolutionsromantiker zwar nicht so langweilig und ledern wie die Revolutionsphilister, aber im „Luftreich des Traums" weilen sie mitunter doch gar zu gern. Weil sie sich einbilden, in revolutionären Zeiten gehe es immer hoch und herrlich zu und in ihnen verzichtet die Menschheit auf ihr unveräußerliches Menschenrecht, Dummheiten zu machen, so sind sie nur allzu geneigt, die Flinte ins Korn zu werfen, wenn Revolutionäre sich nicht immer so gescheit benehmen, wie die sieben Weisen Griechenlands. Gewiss ist es zu beklagen, wenn sich die russische Revolution zu einem Sonderfrieden mit den Mittelmächten bereit erklärt, statt an ihrem ursprünglichen Programm des allgemeinen und demokratischen Friedens festzuhalten, der durch den Sonderfrieden in unbestimmte Ferne verschoben wird, aber trifft sie daran die Schuld oder gar die alleinige Schuld? Hat sie nicht in feierlichen Aufrufen an die Massen der kriegführenden Völker erklärt, allein könne sie den allgemeinen und demokratischen Frieden nicht schaffen, und wenn nun ihr Hilferuf spurlos verhallt, soll sie sich nunmehr entschließen, hilflos in einem Blutmeer zu ertrinken?

Der Revolutionsromantiker antwortet vielleicht: Ja. Aber dann mutet er der russischen Revolution Übermenschliches zu, wie es noch keine Revolution vollbracht hat. Die Heere der Französischen Revolution überschwemmten zwar das europäische Festland mit dem Rufe: Krieg den Palästen und Friede den Hütten; sie behaupteten, den Nachbarvölkern Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Morgengabe zu bringen, aber schließlich kämpften sie nur um Haupt und Leben ihrer eigenen Revolution, und am wenigsten war der Baseler Friede eine Probe revolutionärer Opfertätigkeit und Uneigennützigkeit. Was die russische Revolution durch einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten fehlen mag, das wird sie zu büßen haben, aber umkommen wird sie daran nicht. So grausam die Enttäuschung sein mag, die sie der friedensdurstigen Welt dadurch bereitet, sowenig dürfen wir uns entmutigen lassen und an ihrer Zukunft verzweifeln, die auch unsre Zukunft ist.

Deshalb wäre es verfehlt, die Schwelle des neuen Jahres mit trübseligen Gedanken zu überschreiten, mag schon die Fortdauer des grauenvollen Weltkrieges jedes fühlende Menschenherz zusammenschnüren. Die russische Revolution hat das Signal einer besseren Zukunft gegeben, und je mehr Hindernisse sich uns auf dem Wege zu dieser Zukunft entgegentürmen, um so mehr gilt es, nicht vor ihnen zurückzuschrecken, um so mehr ' heißt es, sich anstrengen, um sie zu überwinden.

Für den prinzipientreuen Sozialisten ist der Weg, den er zu gehen hat, klar vorgezeichnet, und jeder Enttäuschung wird er nur das alte erprobte Trutzwort entgegensetzen: Trotz alledem und alledem!

gez.: Franz Mehring

1 Im Frieden von Basel am 5. April 1795 zwischen der Französischen Republik und Preußen schied Preußen aus dem Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich aus. Es wollte seine Kräfte frei haben für die beabsichtigten Annexionen bei der 3. Teilung Polens. Preußen trat seine linksrheinischen Gebiete an Frankreich unter der Bedingung ab, sich später an den rechtsrheinischen geistlichen Territorien schadlos halten zu können. Ein Zusatzabkommen erklärte Deutschland nördlich der Mainlinie und den Fränkischen Reichskreis für neutral.

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