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Franz Mehring 19171219 Tragik oder Unvernunft?

Franz Mehring: Tragik oder Unvernunft?

19. Dezember 1917

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 295, 19. Dezember 1917. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 755-757]

In ihrer Nummer 293 vom 17. des Monats druckt die „Leipziger Volkszeitung" – nicht ohne Vorbehalt – einen Artikel A. Steins ab, der lebhafte Anklagen gegen die Politik der Bolschewiki enthält. Es kann weder noch soll bestritten werden, dass dieser Artikel ein Echo der lebhaften Sorgen ist, die Lenins und Trotzkis Vorgehen allerdings in den Kreisen der Unabhängigen Sozialdemokratie erregt hat und noch immer erregt. Es kann auch weder noch soll versucht werden, alle Bedenken zu zerstreuen, die in dieser Beziehung entstanden sind; denn dazu fehlt uns das tatsächliche Material. Die „Leipziger Volkszeitung" hat ja schon in der Vorbemerkung der Redaktion zu A. Steins Artikel die „sehr mangelhaften Informationen" hervorgehoben, die wir über die russischen Zustände besitzen.

Zu einer gewissen Vorsicht des Urteils drängt schon die Tatsache, dass der einzige Missgriff der Bolschewiki, den wir vom deutschen Standpunkt aus mit einiger Sicherheit beurteilen können, eher von einer zu großen Vertrauensseligkeit als von einem rücksichtslosen Terrorismus zeugt. Wir meinen ihren Konnex mit den Scheidemännern, die diesen wackeren Patrioten einen ausgiebigen Schwindel ermöglichte und die prinzipientreuen Sozialdemokraten zuerst kopfscheu gegen die Bolschewiki machte. Jedoch hat auch hier die genauere Aufklärung zu ihrer wesentlichen Entlastung geführt, wie ja die „Leipziger Volkszeitung" an anderer Stelle derselben Nummer darlegt, an deren Spitze sich der Artikel A. Steins befindet.

Was nun diesen Artikel anbetrifft, so macht schon seine Überschrift unsres Erachtens der bürgerlichen Auffassung ein zu großes Zugeständnis. Von jeher ist der revolutionäre Terrorismus mit dem reaktionären Argument bekämpft worden, dass eine demokratische Partei, die in den Besitz der Macht gelange, damit anfange, „den Grundsätzen der Demokratie ins Gesicht zu schlagen". Diese nachgerade etwas wohlfeile Beweisführung sollte man doch billig den bürgerlichen Gegnern überlassen. Will man das augenblickliche Problem der Bolschewiki in eine kurze Formel fassen, so lautet es nicht: Demokratie oder Diktatur?, sondern: Tragik oder Unvernunft? Das heißt mit andern Worten: Haben die Lenin und Trotzki, die sich seit langen Jahren oder selbst Jahrzehnten als tapfere und einsichtsvolle Vorkämpfer des Proletariats bewährt haben, plötzlich ihre Vernunft verloren, oder sind sie gerade durch ihre und ihrer Anhänger revolutionäre Energie in eine tragische Lage geraten, die sie zwingt, manches zu tun und manches zu unterlassen, was sie nicht tun oder was sie nicht unterlassen würden, wenn sie freie Herren ihrer Entschlüsse wären?

Nun zitiert A. Stein eine Erklärung Losowskis, worin wörtlich gesagt wird, dass Lenin und Trotzki „entgegen aller Vernunft" handelten und als Marxisten nicht mit den objektiven Verhältnissen rechnen wollten, die ihnen angesichts der drohenden Gefahr des Zusammenbruchs die sofortige Einstellung des Kampfes innerhalb der revolutionären Demokratie zum gemeinsamen Kampf gegen die Gegenrevolution zur Pflicht machten. Marxisten werden sich aber erinnern, dass ähnliche Vorwurf ein einer ähnlichen Situation schon gegen – Marx selbst gerichtet worden sind. 1848 standen Marx und Engels in einem noch wesentlich Ackerbau treibenden Lande an der Spitze der revolutionärsten Partei, deren Sieg an die Voraussetzung einer entwickelten Großindustrie und eines modernen Massenproletariats geknüpft war. Sie haben aber taube Ohren gehabt für die Aufforderung, verschmolzen mit andern demokratischen oder sozialistischen Parteien den gemeinsamen Feind zu bekämpfen, und wenn sie auch nicht zur Macht gelangt sind, so haben sie doch – jede Nummer der „Neuen Rheinischen Zeitung" beweist es – für den Fall ihres Sieges „nur ein Mittel" ins Auge gefasst, „die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus "1.

Haben sie deshalb mit den „objektiven Verhältnissen nicht zu rechnen verstanden", um eine Redewendung zu gebrauchen, die wieder bedenklich nach echt bürgerlicher Phraseologie schmeckt? O doch; sie wussten nur, dass sich mit einer Revolution nicht so bequem und einfach wie mit dem Einmaleins „rechnen" lässt. Als sie im Anfange der fünfziger Jahre ein Wiedererwachen der Revolution erwarteten, schrieb Engels an Weydemeyer:

In der Praxis werden wir wie immer darauf reduziert sein, vor allem auf resolute Maßregeln und absolute Rücksichtslosigkeit zu drängen. Und da liegt das Pech. Mir ahnt so was, als ob unsre Partei, dank der Ratlosigkeit und Schlaffheit aller andern, eines schönen Morgens an die Regierung forciert werde, um schließlich doch die Sachen durchzuführen, die nicht direkt in unsrem, sondern im allgemein revolutionären und spezifisch kleinbürgerlichen Interesse sind; bei welcher Gelegenheit man dann, durch den proletarischen Populus getrieben, durch seine eignen, mehr oder weniger falsch gedeuteten, mehr oder weniger leidenschaftlich im Parteikampf voran gedrängten, gedruckten Aussprüche und Pläne gebunden, genötigt wird, kommunistische Experimente und Sprünge zu machen, von denen man selbst am besten weiß, wie unzeitig sie sind. Dabei verliert man dann den Kopf – hoffentlich nur physiquement parlant (im physischen Sinne) – eine Reaktion tritt ein, und bis die Welt imstande ist, ein historisches Urteil über so was zu fällen, gilt man nicht nur für eine Bestie, was Wurst wäre, sondern auch für bête (dumm), und das ist viel schlimmer."2

Diese Gesichtspunkte sollten wir nicht aus den Augen verlieren, wenn wir – bei unzureichender Kenntnis der Sachlage – über Handlungen der Bolschewiki urteilen, die uns unrichtig, unzeitig und selbst verhängnisvoll erscheinen, vielleicht auch alles das sind. Möglich, dass ihr Sieg nur den Gipfel einer Tragödie bedeutet. Sicher, dass ihre revolutionären Kämpfe nicht damit enden werden, ein Spott der Philister zu werden.

gez. : Franz Mehring

2 Engels an Joseph Weydemeyer in New York, 12. April 1853. In: Ebenda, Bd. 28, S. 580.

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