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Franz Mehring 19170816 Versöhnungsschalmeien

Franz Mehring: Versöhnungsschalmeien

16. August 1917

[Leipziger Volkszeitung Nr. 190, 16. August 1917 Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 747-750]

Wie der „Vorwärts" dieser Tage mitteilte, sind an dem Würzburger Parteitag, den die Regierungssozialisten für den Herbst planen, von „zahlreichen Organisationen" Anträge eingegangen, für die Wiederherstellung der Parteieinheit zu wirken. Der „Vorwärts" teilt weiter mit, diese Anträge seien „wohl" auf die Anregung Adolf Brauns in Nürnberg zurückzuführen, aber sie seien von Organen der Unabhängigen Sozialdemokratie „mit der üblichen Schnoddrigkeit" zurückgewiesen worden, und diese „Schnoddrigkeit" führt der „Vorwärts" darauf zurück, dass die Unabhängigen durch die heimtückische Spekulation auf die Zersetzung der deutschen Arbeiterbewegung die Demokratisierung Deutschlands hindern und den ärgsten Scharfmachern Vorschub leisten, indem sie gegen die Friedenskundgebung des Reichstags Hand in Hand mit dem Grafen Westarp aufmarschiert seien.

Die „Schnoddrigkeit" ließe sich vielleicht eher durch die Person des „Anregers" erklären, dem der „Vorwärts" das Lob eines „feinen" Kopfes erteilt, weil Adolf Braun seine „alte Freundin" Clara Zetkin auf dem Altar des Regierungssozialismus schlachtete, mit demselben blutenden Herzen natürlich, womit er die „Zersetzung" der Partei beklagt. Einigungs- und Friedensprediger dieses Kalibers können schließlich doch kein überschwängliches Vertrauen erwecken. Indessen sehen wir davon ab! Wir geben bereitwillig zu, dass die Wiederherstellung der Parteieinheit ein Ziel aufs innigste zu wünschen ist, da die Arbeiterklasse nach dem beliebten Ausdruck eine geschlossene Phalanx sein muss, um zu siegen. Aber die Geschlossenheit einer Phalanx besteht darin, dass sie mit gleichen Waffen kämpft und im gleichen Schritt und Tritt marschiert. Wäre die athenische Phalanx bei Marathon zur einen Hälfte mit Helm und Lanze, zur andern Hälfte mit Nachtmützen und Flederwischen bewaffnet gewesen, wäre die eine Hälfte im Sturmlauf vorgerückt und die andre im Schneckentempo nachgehinkt, so hätten die Perser leichtes Spiel gehabt.

Ebenso wie Bismarck leichtes Spiel hatte, als in der preußischen Konfliktszeit die „geschlossene Phalanx" der Fortschrittspartei, auf deren rechtem Flügel der stramme Monarchist Schwerin und auf deren linkem Flügel der alte Kommunist Becker marschierten, gegen ihn ins Feld rückte. Prinzip auf Prinzip hatte man geopfert, um die Phalanx „geschlossen" zu halten, aber als es vom Schwatzen zum Handeln kam, lief der große Haufe auseinander wie eine Herde Schafe. Die Vorkämpfer der deutschen Sozialdemokratie sind niemals auf diesen faulen Zauber hineingefallen. Die unzähligen Polemiken, die vor und nach der Revolution von 1848 von demokratischer Seite gegen Marx und Engels gerichtet wurden, liefen alle auf die gegenwärtige Litanei des „Vorwärts" hinaus, Marx und Engels verrieten die gemeinsame Sache der Demokratie aus kleinlichem Fraktionsegoismus. Später widersprach Marx der Einigung der Eisenacher und der Lassalleaner, solange beide Teile nicht auf dem Boden gleicher Prinzipien stünden, und selbst in den Tagen des Sozialistengesetzes erklärte Engels das Ausscheiden einer kleinbürgerlich-sozialistischen Fraktion unter Umständen für ganz wünschenswert im Interesse der Gesamtbewegung1. Und als Bebel den Verband der Arbeitervereine sprengte, dessen Vorsitzender er obendrein war, schrieb er an F. A. Lange: Lieber zehn sichere Vereine als dreißig schwankende.

Doch wozu diese Beispiele häufen? Es ist ja ganz selbstverständlich, dass ein kämpfendes Heer eine gemeinsame Strategie und Taktik haben muss. Soll also jetzt die Parteieinheit hergestellt werden, so fragt sich, welcher von beiden Teilen seine bisherige Kampfesweise aufgeben soll. Und es ist wirklich nicht „Schnoddrigkeit", sondern eine höchst berechtigte Scheu vor moralischem und politischem Selbstmord, wenn die Unabhängigen sich weigern, auf die ihrige zu verzichten. Man mag ihnen Vorwürfe machen, welche und wie viel man will, aber den Vorwurf eines Mangels an Langmut und Geduld haben sie wirklich nicht verdient. Man mag selbst darüber streiten, ob sie an diesen menschlichen Tugenden nicht mehr aufzuwenden gehabt haben, als gerade notwendig war. Aber es ist ein unerlaubter Mangel an Verschämtheit, ihnen jetzt zuzumuten, dass sie, um eines reinen Phantoms willen, sich als selbständige Arbeiterpartei auflösen und mit einer Partei vereinigen sollen, deren Zukunft allein von der Gnade der Regierung abhängt.

Darüber kann sich heute auch der Kurzsichtigste nicht mehr täuschen. Selbst liberale Blätter, wie die „Welt am Montag" in ihrer neuesten Nummer, beginnen sich schon lustig zu machen über die vollkommene Hohlheit des Geredes, womit die Scheidemänner von der „Demokratisierung" und „Parlamentarisierung" des Deutschen Reiches faseln. Wie wollen sie denn diese Herrlichkeit mit der Politik des 4. August ins Werk setzen?

Mit Drohungen und Prophezeiungen, mit leeren Tiraden, wie sie schon in der Konfliktszeit von den Fortschrittlern bis zum Ekel abgeleiert worden sind, ohne andre Wirkung, als dass Bismarck die Achseln zuckte: Dor lach ick öwer! Die erste Probe der „Parlamentarisierung" ist so ausgefallen, dass selbst dem „Berliner Tageblatt" die Augen übergingen. Aber der „Vorwärts" findet diesen Übergangszustand ganz erträglich, und der letzte Rest seiner grollenden Stimmung verriet sich nur noch in der Versicherung, für die Sozialdemokratie stehe es fest, dass die neue Regierung die letzte deutsche Beamtenregierung sei. Na, na, meint die „Welt am Montag", wenn es die vorletzte oder drittletzte ist, so wird Herr Scheidemann den Wechsel auch wohl prolongieren; die Regierung hat ja in den ersten drei Kriegsjahren gelernt, dass manche Leute im parlamentarisch-politischen Kampfe Platzpatronen für eine geeignete Munition halten. Diesen ätzenden Hohn müssen sich die Regierungssozialisten durch liberale Blätter ins Gesicht schleudern lassen, und zwar von Rechts wegen.

Eine solche – sagen wir höflich – Selbstaufopferung wie die [der] Regierungssozialisten hat die deutsche Geschichte noch nicht gesehen, auch 1866 nicht. Als die damaligen Nationalliberalen zur Regierung überliefen, taten sie es wenigstens Zug um Zug und heimsten sehr erkleckliche Profite für ihre Klasse, für die Bourgeoisie, ein. Die Scheidemänner würden erst dann mit ihnen auf gleicher Stufe stehen, wenn sie sich fürs „Umlernen" etwa den Achtstundentag und eine völlig unantastbare Koalitionsfreiheit des Proletariats gesichert hätten. Was sie den Nationalliberalen nach 1866 abgeguckt haben, ist nur ihre ewige Litanei, Haase marschiere mit Westarp Hand in Hand, und die Unabhängigen stellten ihre kleinliche Fraktionspolitik über die nationalen Interessen. So lärmten die Nationalliberalen nach 1866, Johann Jacoby und Liebknecht marschierten mit Kleist-Retzow oder Windthorst Hand in Hand, und die Demokratie verleugne die nationalen Interessen, um einen kleinlichen Fraktionsegoismus zu befriedigen. Nur dass die heutigen Regierungssozialisten gegenüber den damaligen Nationalliberalen insofern im Nachteil sind, als die Bamberger und Genossen das alberne Geschwätz nicht so albern herbeteten wie heute die Stampfer und Genossen. Sie hatten immerhin der Bourgeoisie etwas zu bieten, während die Regierungssozialisten dem Proletariat gar nichts zu bieten haben.

Lassalle sagte einmal, jeder Prozess sei ein Streit um den Kopf des Richters. So ist der Prozess zwischen den Abhängigen und den Unabhängigen ein Streit um den Kopf der deutschen Arbeiterklasse. Solange eine Unzahl ihrer einsichtigsten und tatkräftigsten Mitglieder in den Schützengräben liegt und solange der Belagerungszustand währt, der den Abhängigen volle Press- und Redefreiheit gewährt, während er den Unabhängigen diese legitimen Waffen des politischen Kampfes vorenthält, solange mögen sich die Scheidemänner in dem trügerischen Glanz einer „Mehrheitspartei" sonnen; sobald der Kampf wieder unter gleicher Sonne und gleichem Wind geführt werden kann, wird sich das Blättchen wenden. Dann wird die deutsche Sozialdemokratie wieder die geschlossene Phalanx werden, die sie ehedem gewesen ist.

Bis dahin gehört auf alle Versöhnungsschalmeien nur die eine Antwort: Mit einer Partei, die in der Gegenwart nur von Gnaden des Belagerungszustands lebt und für die Zukunft nur auf die Gnade der Regierung angewiesen ist, das heißt mit einem Leichnam, verbündet man sich nicht.

gez.: Franz Mehring

1 Siehe Engels an Johann Becker, 15. Juni 1885. In: Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, S. 95.

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