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Franz Mehring 19170801 Zum vierten Kriegsjahr

Franz Mehring: Zum vierten Kriegsjahr

1. August 1917

[Leipziger Volkszeitung Nr. 177, 1. August 1917. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 744-746]

Ältere Zeitgenossen werden sich noch der Tage entsinnen, wo die Treitschke und Genossen ihre Lobgesänge auf die Poesie, auf das Stahlbad und der Himmel weiß welche Herrlichkeit des Kriegs sonst noch anstimmten, wo selbst der alte Moltke meinte, der ewige Friede sei nicht nur ein Traum, sondern nicht einmal ein schöner Traum.

Heute, wo sich das gigantische Völkerringen der Weltgeschichte ins vierte Jahr hinüberwälzt, klingen die Lobgesänge von ehedem wie ruchlose Blasphemien. Aber ob ungezählte Millionen den Krieg verfluchen, er tötet die Menschen weiter, zerstört ihre Lebens- und Nahrungsmittel, vernichtet die Güter der Kultur, wie es nie erlebt, ja in wahnsinnigen Hirngespinsten, die je von einem Weltuntergange geträumt worden sind, nicht einmal geahnt worden ist. Und nachdem diese Geißel drei Jahre lang die gesittete Welt zerfleischt hat, ist noch immer kein Ende abzusehen.

Was wir gerade vor einem Jahre, als das dritte Kriegsjahr antrat, an dieser Stelle äußerten, dass man nämlich keiner Regierung der kriegführenden Nationen die Schmach antun dürfe, zu unterstellen, sie wolle den Frieden nicht, wenn sie ihn haben könne, das hat der Verlauf dieses Kriegsjahres vollauf bestätigt. So kurzsichtig sind auch die kurzsichtigsten Staatsmänner nicht. Aber wie kein Mensch aus seiner Haut heraus kann, so können sie nicht ihres Wesens Wesenheit abstreifen, ohne sich selbst aufzugeben. Sie alle sind Opfer der politischen Kräfte unsrer Zeit, sie alle stecken in einem Nessuskleid, aus dem sie nicht schlüpfen können, ob es ihnen gleich wie Feuer auf den Gliedern brennt.

Die Regierungen der Mittelmächte rühmen sich, am eifrigsten für den Frieden zu sprechen. Die Gegner sehen darin ein Zeichen der Schwäche oder gar ein Zeichen der Überlistung. Keiner traut dem andern über den Weg. Und von seinem Standpunkt aus hat auch jeder seinen guten Grund dazu. Die deutschen Staatsmänner sind gewiss sehr ehrenwerte Leute, und man kann dieses Lob sogar auf alle europäischen Staatsmänner ausdehnen, aber sie sind nicht die Herrscher, sondern die Diener der Verhältnisse. Und der ewige Kehrreim ihrer Friedenskundgebungen lautet deshalb: Ja, wir möchten schon, aber wer bürgt uns für den guten Willen der andern?

Eben jetzt hat der Reichskanzler Michaelis ein klassisches Beispiel dieser Art gegeben. Er hat die Vertreter der Presse um sich gesammelt und ihnen eine Rede gehalten, über der Herr Scheidemann brütet – nicht mit demselben Scharfsinn, aber mit demselben Eifer, womit der alte Mommsen die Trümmer einer altrömischen Inschrift zu enträtseln pflegte –, um nachzuweisen, dass Herr Michaelis der Träger der Friedenspalme sei. Was aber war der wirkliche Kern der Rede? Die Enthüllung, dass die französische Regierung die Eroberung des linken Rheinufers plante, und daraus zog der neue Reichskanzler die Schlussfolgerung: Solange die Gegner nicht auf Eroberungspläne verzichten, können wir es auch nicht. Vom Standpunkt der Politik, die er betreibt, aus eine ganz richtige Schlussfolgerung, aber sonst eine Karussellfahrt, die immer in die Runde, aber niemals an ein Ziel führt.

Denn die Franzosen können Dutzende ebenso ruchlose und sogar noch sinnlosere Eroberungspläne aufzählen, die seit drei Jahren von gewissen Kreisen in Deutschland verbreitet worden sind, ohne durch die Regierung gehindert zu werden, die doch nach dem gewiss glaubhaften Zeugnis des Herrn Scheidemann der platonischen Opposition des „Vorwärts" gegen Eroberungspläne immer neue Schwierigkeiten bereitet. Man sagt nun wohl: Aber die Friedensresolution des Reichstages! Nehmen wir an, sie wäre so klar und unzweideutig abgefasst worden, wie sie es nicht ist, und übersehen wir ferner, dass Wolffs Telegraphenbüro, das dem Telegraphenbüro Reuter an Wahrhaftigkeit so hoch überlegen sein soll, das bisschen Beachtung, das sie im Auslande fand, sorgsam vertuscht hat, so ist sie im allgemeinen freilich im feindlichen Ausland mit Bismarcks Worten begrüßt worden: Was kannst du armer Teufel bieten? Und das ist gewiss nicht die Schuld der Regierung, sondern des Reichstags selbst, der sich seit drei Jahren völlig aus den wirkenden Kräften der Zeitgeschichte ausgeschaltet hat.

Darf man dem Auslande zum Verbrechen anrechnen, dass es diese Volksvertretung nicht für voll nimmt, die in demselben Augenblicke, wo sie dem Weltkriege ein gebieterisches Halt zurufen wollte, um die Vergünstigung bat, ein bisschen im eigenen Hause mitreden zu dürfen, und als sie damit schroffer denn je abgewiesen wurde, sich gemächlich nach Hause trollte? „Keinen Augenblick darf mit der Demokratisierung Deutschlands gezögert werden; alle Zweideutigkeiten kommen zu spät", donnerte Herr Scheidemann, ging nach Hause, zog sich den Bratenrock an und wurde an einem ministeriellen Empfangsabend von hoher Seite einer Ansprache gewürdigt, wenn auch allerdings nicht über politische Fragen. Dann verkündete Herr Scheidemann stolz seinen Leuten: „Ich bin kein Zulukaffer", was man ihm im Inlande auch glauben wird, denn Zulukaffern sind anspruchsvollere Leute.

Bewegen sich die Friedensreden der Regierungen – oder allgemeiner, aber genauer, einflussreicher Kreise – und ihres Gefolges von Regierungssozialisten in einem fehlerhaften Kreise, so hat den rettenden Ausweg daraus die russische Revolution gewiesen, das größte weltgeschichtliche Ereignis des dritten Kriegsjahres, ja des Krieges überhaupt. Sie hat sofort ein befreiendes und erlösendes Wort gesprochen, als sie ihre Formel ausgab: Friede ohne Annexionen und Entschädigungen, und auf sie richten sich hoffend die Blicke aller derer, die sich noch nicht an den furchtbaren Gedanken gewöhnen können, dass eine tausendjährige Kultur vernichtet werden wird im Grauen des Krieges. Noch hat sie erst halb gesiegt, denn mit dem Zarismus ist noch nicht der russische Imperialismus niedergeworfen worden, mit dem die Revolution eben jetzt einen Kampf auf Leben und Tod ausficht. Dieser Kampf konnte ihr nicht erspart werden, und wer sich einigermaßen auf die Geschichte der Revolutionen versteht, wird durch die Flitterwochen auch dieser Revolution nicht getäuscht worden sein. Aber sowenig wie von voreiligem Optimismus wird er sich von voreiligem Pessimismus irreführen lassen: Der dauernde Sieg wird der Revolution bleiben.

Deutschen Arbeitern hat Russland seit Jahrhunderten viel zu danken, aber die russischen Arbeiter zahlen heute ihre Schuld mit Zins und Zinseszinsen heim. Sie sind die Geburtshelfer der dritten Internationale, wie die englischen Arbeiter die Geburtshelfer der ersten und die deutschen Arbeiter die Geburtshelfer der zweiten Internationale gewesen sind.

Sie bedürfen unsrer Unterstützung nicht in ihrem eigenen Hause, aber wir unterstützen sie am kräftigsten, wenn wir in unserm eigenen Hause unsre Pflicht tun. Wenn wir unermüdlich für die Ausbreitung unsrer Grundsätze und Gedanken wirken. Je mehr die Tage des Regierungssozialismus verdämmern, um so mehr steigt der Weltfriede empor.

gez.: Fr. Mehring

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