Franz Mehring 19070425 Die Maifeier

Franz Mehring: Die Maifeier

April 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 106-109. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 435-439]

Bei der Vorbereitung der achtzehnten Maifeier ist es nicht ohne eine kleine Verstimmung abgegangen. Der Aufruf des Parteivorstandes hat in manchen Parteikreisen unangenehm berührt, hauptsächlich wegen des Satzes, worin peremptorisch angeraten wird, am 1. Mai überall da von der Arbeitsruhe abzusehen, wo die Gewissheit bestehe, dass sie zu einer Aussperrung führen werde.

Einzelne Parteiblätter sind sogar so weit gegangen, in dieser „ungeheuerlichen Empfehlung" die „Herabwürdigung der Maifeier einfach zu einer Farce" zu erblicken. Damit sei so ziemlich der größte Dienst aller Zeiten dem Scharfmachertum geleistet worden. Die Maifeier sei endgültig begraben, denn das Unternehmertum werde selbstverständlich zur Arbeiterschaft sagen: Wenn ihr den ersten Mai feiert, so sperren wir euch aus, und nach dem Willen eures Parteivorstandes habt ihr auf die Maifeier zu verzichten, wenn wir euch aussperren.

In diesen Ausführungen liegt eine gewisse derbe Logik, und es wird schwer zu bestreiten sein, dass sie eine Empfindung kundgibt, die unter dem ersten Eindruck, den der Aufruf des Parteivorstandes hervorbrachte, ziemlich weit verbreitet war. Wir meinen in Parteikreisen, denn die geschmacklosen Witzeleien der kapitalistischen Presse über die gleichzeitige Fanfare und Schamade des Parteivorstandes zählen natürlich nicht mit. Diesen Leuten wird es die Partei niemals recht machen, schon deshalb nicht, weil sie dafür bezahlt werden, alles zu begrinsen, was von der Partei ausgeht.

Indessen auch die Parteikritik war diesmal im Wesentlichen auf falscher Fährte. Im wesentlichen, das heißt: Der Parteivorstand hatte es nicht in der Sache versehen, sondern nur in der Form.1 Jedes Heer, das vor einer Schlacht steht, sucht sich die günstigsten Bedingungen aus, unter denen es die Schlacht liefern kann, und nur unfähige Generale kommandieren ihre Bataillone gegen Positionen, die einstweilen uneinnehmbar sind, gegen Positionen, an denen sich die Angreifer blutige Köpfe holen müssen, ohne die geringste Aussicht, sie zu erstürmen. Das ist eine Taktik, gegen die sich nicht das Geringste einwenden lässt, ja eine Taktik, an die die Heeresleitung durch Ehre und Pflicht gebunden ist. Aber deshalb braucht sie in ihrem Schlachtbefehl nicht zu sagen und darf auch wegen der psychologischen Wirkungen auf die Truppen nicht sagen: Wo ernsthaft geschossen wird, da lasst euch lieber auf nichts ein.

Was sich dem Aufruf des Parteivorstandes wirklich zum Vorwurf machen lässt, ist nicht der Rat selbst, den er den Parteigenossen für die diesmalige Maifeier erteilt, sondern die unglückliche Form dieses Rates. Nimmt man ihn wörtlich, so kann man in der Tat die Schlussfolgerung ziehen, die einzelne Parteiblätter daraus gezogen haben, als ob der Parteivorstand die Feier des ersten Mai ins Belieben der Gegner gestellt habe, indem sie nur mit der Aussperrung zu drohen brauchten, um jeden Versuch, den Maitag durch Arbeitsruhe zu feiern, im Keime zu ersticken. Allein, da es sich von selbst versteht, dass der Parteivorstand diese Absicht nicht gehabt haben kann, so gehörte keine allzu lange Überlegung dazu, um seine wirkliche Meinung zu erkennen. In dem sehr berechtigten und durchaus pflichtmäßigen Wunsche, das Schlachtfeld, das die Partei an diesem ersten Mai betritt, nach allen Seiten zu klären, hat er über das Ziel hinausgeschossen und hat seinen Hinweis sowohl auf die bösen Absichten der Gegner und ihre perfiden Vorbereitungen wie auf die allgemeine Ungunst der Lage so scharf betont, dass hier einmal wieder die Quantität in die Qualität umgeschlagen ist und eine sehr begründete Warnung beinahe das Aussehen einer unbegründeten Verzichtleistung angenommen hat. Dieser Warnung hätte sich sehr wohl eine andere verständliche Form geben lassen, ohne dadurch ihre Wucht abzuschwächen, und dann wäre gegen den Aufruf des Parteivorstandes durchaus nichts einzuwenden gewesen.

In mancher Beziehung erinnert das achtzehnte Maifest an das erste. Damals wie heute sannen die Gegner darauf, den Maitag zu einem vernichtenden Schlage gegen die Arbeiterklasse zu gestalten; damals musste auch – zwar noch nicht der Parteivorstand, den es im Sommer 1890 noch nicht gab, aber doch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion einiges Wasser in den brausenden Wein der Arbeiterklasse tun; damals schrieb Engels, was auch heute zutrifft: „In Deutschland war es Pflicht der Reichstagsfraktion, den übertriebnen Gelüsten entgegenzutreten … Im übrigen ist die Proklamation der Fraktion schlecht…" Aber auch der Unterschied zwischen damals und heute tut sich auf, wenn man den Satz zitiert, den Engels damals hinzufügte: einerlei wie, die Leute sind durch den 20. Febr. so gehoben, dass sie einer gewissen Zügelung bedürfen, um keine Dummheiten zu machen."2 Heute ist es nicht die berauschende Erinnerung an einen gewaltigen Wahlsieg, an den 20. Februar 1890; heute ist es umgekehrt die Erinnerung an den 25. Januar 1907, die niederdrückende Erinnerung an den Verlust einer Reihe von sozialdemokratischen Mandaten, der „die Leute" antreibt, die Scharte so bald als möglich auszuwetzen. Und es ist klar, dass vor siebzehn Jahren das „Zügeln" erträglicher und leichter war, als es heute ist.

Jedoch es ist deshalb nur umso notwendiger. Der 25. Januar war keine wirkliche Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung; es war höchstens eine leichte Schramme, ein trügerischer Scheinerfolg der Gegner, die durch eine selbst für sie ungewöhnliche Masse von Lug und Trug den Landsturm der Philister aufboten und eine Handvoll Vorposten aufhoben, während unsere geschlossenen Kolonnen nicht nur gänzlich unerschüttert das Schlachtfeld behaupteten, sondern sich auch nicht unwesentlich verstärkten. Über diesen „Erfolg" mögen die Philister jubeln, aber die ernsthaften Scharfmacher, die mitten im industriellen Leben stehen, täuschen sich selbst über die wirkliche Lage der Dinge; sie planen eine tatsächliche Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, die sie durch eine Reihe gewaltiger ökonomischer Kämpfe weiß zu bluten hoffen, wobei sie sich nicht auf den brüllenden Beifall der Philister stützen, der ihnen so gleichgültig ist, wie er ihnen sicher sein mag, sondern auf einen ganz anderen Bundesgenossen, auf die soziale Pest, die durch die Arbeitermassen zu rasen beginnt, auf die hereinbrechende Krisis. Wäre sie nicht, dann allerdings lägen die Dinge anders, allein da sie mit der tödlichen Sicherheit heranschleicht, die ihr durch den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise verbürgt ist, so ist mit ihr zu rechnen, eine Schande wohl für die Bourgeoisie, aber keineswegs für das Proletariat.

In der Tat – kann man sich eine kompromittierendere Mischung von Bosheit und Torheit denken, als wenn die bürgerlichen Blätter gegenüber dem Aufruf des Parteivorstandes noch groß tun mit der Unerschütterlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft, vor der die Sozialdemokratie scheu zurückweiche? Diese Leute bilden sich noch etwas ein auf das, was ehrlichen Anhängern der kapitalistischen Gesellschaft die Röte der Scham in die Wangen treiben müsste, auf den ekelhaften Aussatz dieser Gesellschaft, auf die Handelskrisen, auf diese Seuche, wie sie scheußlicher noch nie in früheren Jahrhunderten das Volk und die Völker verheert hat. Da es heute Mode geworden ist, Heinrich v. Kleist als sozialpolitische Autorität zu zitieren, so schildert er die Pest, von der wir sprechen, vorahnend in den treffenden Worten3:

Auf eines Hügels Rücken hingeworfen,

Aus ferner Öde jammern hört man sie,

Wo schauerliches Raubgeflügel flattert,

Und den Gewölken gleich, den Tag verfinsternd,

Auf die Hülflosen kämpfend nieder rauscht!

Zu Asche gleich, wohin ihr Fuß sich wendet,

Zerfallen Ross und Reuter hinter ihr,

Vom Freund den Freund hinweg, die Braut vom Braut'gam,

Vom eignen Kind hinweg die Mutter schreckend!

Und von dieser Pest kann die kapitalistische Gesellschaft nicht mit dem Herzog der Normannen sagen:

Mein Leib ward jeder Krankheit mächtig noch. Und wär's die Pest auch, so versichr' ich euch: An diesen Knochen nagt sie selbst sich krank!

Aber etwas anderes kann die gedanken- und gewissenlose Sippe tun, die in der kapitalistischen Gesellschaft noch das Heft in Händen hat: Der bittere Trank, der ihr in der herannahenden Krise kredenzt wird, kitzelt nur ihre Profitwut, und um noch einen Dichter zu zitieren: „Lächelnd greift sie nach dem Glase, lächelnd macht sie's auf der Base, auf der Pest Gesundheit leer"; was ihr das Innerste im Leibe umkehren sollte, das ist ihr eine hochwillkommene und froh begrüßte Gelegenheit, das durch die Krise gelähmte Proletariat nunmehr mit gewaltsamen Schlägen niederzustrecken.

Es ist keine Schande für die Arbeiterklasse, wenn sie es ablehnt, in eine sichere Niederlage zu rennen, die ihr weder durch den Mut noch die Weisheit der Feinde bereitet ist, sondern nur durch die Übermacht einer verheerenden Seuche, die von der kapitalistischen Gesellschaft so untrennbar ist wie das Gift von der Klapperschlange. Um die Schlange ihrer Qualen zu erwürgen, müssen die Arbeiter ihre gesamte Kraft zusammenhalten und sorgsam schonen, und sie werden ihren achtzehnten Maitag so wirkungsvoll und so würdig begehen wie irgendeinen seiner Vorgänger, wenn sie gerade aus den besonderen Umständen, unter denen sie ihn begehen müssen, neuen Hass und neuen Zorn schöpfen gegen die kapitalistische Gesellschaft, in der Vernunft längst zum Unsinn und Wohltat längst zur Plage geworden ist. Sie haben auch trotz der hereinbrechenden Krisis Kräfte und Mittel genug, ihren Todfeinden zu zeigen, dass sie an diesem Maifest nur die Saat neuer Siege säen, Kräfte und Mittel genug, den protzigen Hochmut zu strafen, den ihre Verfolger aus einer Quelle schöpfen, die von Blut und Schmutz trieft.

Der modernen Arbeiterklasse fällt nichts mühelos in den Schoß, und auch diesen Weltfeiertag muss sie sich langsam und mühsam erobern. Sie hat ihn niemals als eine Kraftprobe ins Blaue hinein betrachtet, sondern immer als einen Weg, der Schritt für Schritt erobert werden muss, je nach der Lage der Dinge, und, gefeiert in alt gewohntem Geiste bedachtsamer Kühnheit, wird auch dieses Maifest ein Schritt vorwärts sein.

1 Mehring verkannte das immer stärkere Vordringen des Revisionismus in der Partei. Hier ging es tatsächlich um die Sache, um den Versuch der Revisionisten, dem 1. Mai den revolutionären Charakter zu nehmen.

2 Engels an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken, 19. April 90. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 395.

3 Mehring zitiert hier aus dem Fragment des Trauerspiels „Robert Guiskard" von Heinrich von Kleist. In: Heinrich von Kleist: Gesammelte Werke, Erster Band, Berlin 1955, S. 264, 263 u. 282.

Kommentare