Franz Mehring 19040420 Maifest und Militarismus

Franz Mehring: Maifest und Militarismus

April 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 431-434]

Das fünfzehnte Maifest des internationalen Proletariats fällt auf einen Sonntag, und so spannt sich von selbst die Kraft ab, womit die Arbeiterklasse für ihren Feiertag die Arbeitsruhe fordert. Umso schärfer tritt in diesem Jahr die Bedeutung des ersten Mai als einer Kundgebung gegen den Krieg und für den Völkerfrieden hervor. Denn zum ersten Male, seitdem der proletarische Weltfeiertag besteht, fällt er zusammen mit einem großen Kriege, der eine weltgeschichtliche Bedeutung beanspruchen darf und zum allgemeinen Weltbrand werden kann.

Man würde irren, wenn man mit gewissen wohlwollenden Arbeiterfreunden der bürgerlichen Welt annehmen wollte, dass die antimilitaristische Bedeutung des Maifestes seiner antikapitalistischen Bedeutung sozusagen äußerlich angeschweißt worden sei. Es ist verkehrt, den Arbeitern zu sagen: Macht euren Frieden mit dem Militarismus, und er wird euch die sozialen Reformen gewähren, deren ihr bedürft. Solche Rede ist kein Haarbreit klüger als die Versicherung der bürgerlichen Friedensschwärmer: Werft das militaristische Joch ab, und das kapitalistische Joch wird euch sanft und süß sein. In diesem Widerspruch taumeln selbst die vorurteilsfreieren Köpfe der bürgerlichen Weltanschauung hoffnungslos umher, und wenn sie seine Qual zu überwinden suchen, indem sie Schulter an Schulter marschieren, wie es die militaristischen Sozialreformer à la Naumann und die kapitalistischen Friedensschwärmer ä la Barth neuerdings versuchen, so wird das Durcheinander erst recht groß.

Dagegen hat das proletarische Klassenbewusstsein jenen Widerspruch aus seinem tiefsten Innern heraus geschlichtet, indem es sich zu der Erkenntnis durchrang, dass die Klassenherrschaft innerhalb der menschlichen Gesellschaft und die blutigen Kriege zwischen den Nationen nur zwei Seiten einer und derselben Sache sind. Hebt die Klassenherrschaft auf, und die Kriege werden mit der Wurzel ausgerottet sein; führt die Kriege fort, und ihr werdet immer wieder die Klassenherrschaft haben. Vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft ist der Krieg allerdings ein „Kulturideal", wie uns bürgerliche Professoren gelehrt haben, ist er ein „Element in Gottes Ordnung", wie Moltke sich in seiner Weise ausdrückte; die Ansicht, von der Buckle bei dem Entwurf seines großen Geschichtswerkes ausging, dass nämlich die „unbedeutenden Geschichten von Schlachten und Belagerungen" für die bürgerliche Kulturwelt ohne alles Interesse seien, war nichts als eine große Illusion.

Buckle hatte nach rückwärts recht, aber nicht nach vorwärts. Seine Geschichtsauffassung war ein großer Fortschritt gegen die höfischen Geschichtsklitterer, die von den pomphaften Kriegszügen großmächtiger Kriegsfürsten pomphaft erzählten, aber sie blieb vor dem Märchen von dem tausendjährigen Reiche der Völkerfreiheit und des Völkerfriedens stehen, das der Freihandel eröffnet haben sollte. Es war eine Schranke, die erst der Sozialismus überwinden konnte und allmählich überwunden hat. Liebknecht hat sie in seiner sonst vollkommen berechtigten Bewunderung für Buckle noch ein wenig übersehen, und ebenso spricht Lassalle einmal verächtlich von Kriegen, die um irgendeiner Mätressenlaune willen geführt worden seien. Dagegen hat schon Engels der Kriegsgeschichte ein kaum minder eingehendes Studium gewidmet als der Wirtschaftsgeschichte, und in der Tat gehen beide parallel, beleuchten und erklären sich gegenseitig, zeigen dieselben charakteristischen Typen.

Unter den vielen törichten Schlagworten der bürgerlichen Presse gibt es wenige, die noch törichter wären als die qualmige Redensart von den „Schlachtendenkern", von denen natürlich in erster Reihe das deutsche Heer wimmeln soll. Man könnte ebenso gut von „Börsendenkern" sprechen. Denn dieselben Eigenschaften machen den glücklichen Feldherrn und den glücklichen Börsenspekulanten: eine gewisse Portion von Mutterwitz, nicht allzu wenig, aber eher noch zu wenig als zu viel, und namentlich ein großes Maß von „Spielerkühnheit", wie Clausewitz, der genialste Theoretiker des Krieges, sich ausdrückt. Clausewitz ist selbst das klassische Beispiel dafür, dass die Fähigkeit, logisch zu denken, und überhaupt eine hervorragende Intelligenz ein großes Unglück für den Feldherrn sind. Er hat sich im Kriege nur sehr mittelmäßig bewährt, und zwar, wie übereinstimmend von seinen Mitkämpfern berichtet wird, weil er immer „schwarz gesehen" habe. Das heißt mit anderen Worten, weil er einen zu hellen Verstand besaß, um blindlings drauflos zu tappen, gemäß der Vorschrift seines Lehrers Scharnhorst, dass es im Kriege weniger darauf ankomme, was geschehe, als dass überhaupt etwas geschehe. Es ist dieselbe Erscheinung, die Lassalle einmal mit den Worten erläutert: „Daher kommt jene Bemerkung, die so oft von erfahrenen Kaufleuten gemacht worden ist, dass in der merkantilischen Karriere so vorzugsweise häufig gerade die gescheiteren Spekulanten Schiffbruch leiden und gerade die dümmeren die günstigeren Chancen zu haben scheinen. Die Summe der nicht wissbaren Umstände überwiegt jederzeit unendlich die Summe der wissbaren Umstände." Das ist im Kriege genauso wie in der kapitalistischen Spekulation. Je richtiger die Schätzung der wissbaren Umstände, je größer also der Verstand des Feldherrn oder des Spekulanten ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die unendlich überwiegende Summe der nicht wissbaren Umstände das Resultat ändern wird, was dann natürlich lähmend auf die Tatkraft derer wirkt, die logisch genug denken können, um sich diese Überlegung anzustellen. Wie sich hieraus erklärt, dass ein Clausewitz, der die Theorie des Krieges meisterhaft beherrschte, keine praktischen Erfolge im Kriege hatte, so erklärt sich ebendaher, weshalb der Fürstenstand, wenn auch sonst keine Vorkämpfer der Menschheit, so doch in unverhältnismäßig großer Anzahl „glorreiche" Feldherren hervorgebracht hat. Denn wenn seine Angehörigen durch die Art ihrer Erziehung und Geistesbildung vor einer exzessiven Entwicklung ihres Verstandes geschützt sind, so ist ihre „Spielerkühnheit" um so trefflicher entwickelt, da sie für den Fall des Misslingens nichts zu fürchten haben, als dass die Völker die Zeche bezahlen müssen, denen sie dann noch, wie der Alte Fritz seinen weichenden Grenadieren bei Kolin, den sittlich niederschmetternden Vorwurf machen können: Ihr Racker, wollt ihr denn ewig leben?

Wie sich aber in dem wilden Würfelspiel der kapitalistischen Spekulation nur die immanenten Gesetze der historischen Entwicklung durchsetzen, so auch in dem wilden Würfelspiel des Krieges. Unter der Voraussetzung der Klassenherrschaft ist der Krieg alles in allem ein Hebel des historischen Fortschritts gewesen, genau wie die kapitalistische Produktionsweise, in deren Gefolge der Militarismus seine beispiellose Ausdehnung gewonnen hat. Ohne die Kriege des napoleonischen Zeitalters wäre Deutschland im Sumpfe des Feudalismus verkommen, wie vor ihm Polen, und die Kanonen des Krieges von 1870 haben ihm die Tür des Weltmarktes gesprengt. Die Blindheit für diese historische Bedeutung der Kriege, immer unter der Voraussetzung der Klassenherrschaft, war der Fehler Buckles und ist heute der Fehler der bürgerlichen Friedensschwärmer, denen gegenüber Molochs Anbeter denn auch sehr leichtes Spiel haben. Auf der anderen Seite sind wir weit entfernt, dadurch, dass wir die historische Bedeutung der Kriege erkennen, sie als einen Hebel des menschlichen Fortschritts anzuerkennen. Der Sozialismus steht auch hierin zum Militarismus genauso wie zu seinem Zwillingsbruder, dem Kapitalismus: Er dreht ihm nicht den Rücken, indem er einige ärgerliche und banale Redensarten murmelt, wie die kapitalistischen Friedenspfeifenraucher, sondern er studiert seine Stärken und Schwächen, um ihn desto sicherer zu überwinden. Denn wie in allen anderen, so unterscheidet sich der Kampf, den das Proletariat gegen die herrschenden Klassen führt, auch darin von den Kämpfen, die sich die herrschenden Klassen, sei es nun auf dem Markte oder in der Schlacht, unter sich liefern, dass in ihm nicht die Summe der unwissbaren, sondern der wissbaren Umstände entscheidet und dass der Sieg der Arbeiterklasse um so gewisser ist, je genauer und richtiger sie diese Umstände zu erkennen vermag.

Aus alledem ergibt sich nun aber auch, dass, wenn alle Lebensinteressen des Proletariats dahin weisen, den Militarismus genauso bis in den Tod zu bekämpfen wie den Kapitalismus, ihm deshalb keineswegs gleichgültig sein darf, wie sich die Kriege der kapitalistischen Gesellschaft abspielen. Der Reichskanzler hat neulich im Reichstag die deutsche Sozialdemokratie eines inneren Widerspruchs bezichtigt, weil sie strenge Neutralität in dem russisch-japanischen Kriege verlange, aber gleichwohl einen heftigen Krieg gegen Russland – richtiger den zarischen Despotismus – führe. Indessen die Vorstellung dieses angeblichen Widerspruchs kann wirklich nur in dem Kopfe eines Mannes auftauchen, der von historischen Zusammenhängen nur eine sehr dämmernde und vom proletarischen Klassenkampf überhaupt keine Ahnung hat. Wenn die Arbeiterklasse sich nicht dafür begeistern kann, sondern nur ein verächtliches Achselzucken dafür übrig hat, dass die kapitalistische Gesellschaft, bei allem Pochen und Prachern mit ihrer Kultur, ihre Interessengegensätze nicht anders auszugleichen weiß als durch das barbarische und rohe Mittel, womit sich Tiere um ihre Futterplätze streiten, so braucht sie deshalb keineswegs gleichgültig dagegen zu sein, wie in dem einzelnen Falle die Entscheidung fällt. Denn solange die Klassenherrschaft besteht, gehören die Kriege zu den Hebeln der historischen Entwicklung, und die Arbeiterklasse hat ein lebhaftes Interesse daran, dass sich diese Entwicklung im raschesten Tempo bis zum völligen Bankrott der Klassenherrschaft vollzieht. Deshalb interessieren wir uns zwar nicht für den Sieg der Japaner, aber wohl für die Niederlage des zarischen Systems, mit dem zu trauern wir den Trägern der Klassenherrschaft überlassen.

Es ziemt der Arbeiterklasse nicht, in den blutigen Händeln ihrer Unterdrücker Partei zu ergreifen, aber es ist ihre Pflicht, wachsam zu spähen, wie sie ihren Befreiungskampf fördern kann, mitten in den Katastrophen, die über die Welt des Kapitalismus hereinzubrechen beginnen. So feiern wir das Maifest dieses Jahres.

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