Franz Mehring 18940516 Scheuerfeste

Franz Mehring: Scheuerfeste

16. Mai 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 227-230. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 416-423]

Eine wöchentliche Chronik der Zeit, die in Berlin geschrieben und in Stuttgart gedruckt wird, kämpft immer unter ungünstigen Verhältnissen mit Raum und Zeit; selten aber hat sich für unsere anspruchslose Kritik ein lärmendes Ereignis des Tages in so ungünstigen Augenblicken vollendet wie der Prozess, der gegen eine Anzahl hiesiger Zeitungen wegen ihrer Berichte über die Versammlung der Arbeitslosen vom 18. Januar d. J. geführt worden ist. Mehr als vierzehn Tage werden ins Land gegangen sein, ehe unser Sprüchel über den so genannten Fall Brausewetter vor die Augen der Leser kommt, und wir wüssten ihnen darüber nicht mehr zu sagen, als sie bis dahin in allen Tonarten sittlicher Entrüstung vielleicht bis zum Überdruss gehört haben werden. So versuchen wir denn aus der Not eine Tugend zu machen und mit einigen nüchternen Glossen die durch jenen Prozess aufgeworfenen Fragen zu beleuchten, die durch das flackernde Strohfeuer sittlicher Entrüstung ohnehin nur in ein sehr schwankendes Dämmerlicht gesetzt werden.

Es machte sich ja sehr hübsch, als die ganze bürgerliche Presse in ihrer Verurteilung des Landgerichtsdirektors Brausewetter einstimmig war. Aber wir gestehen, dass unsere Bewunderung dieser Tatsache genau nur zwei Tage währte. Am 9. d. M. wurde das Urteil gesprochen, für das Herr Brausewetter den allgemeinen Unwillen zu tragen hat; am 11. d. M. wurde von einer anderen Strafkammer des hiesigen Landgerichts ein Urteil gegen den „Sozialisten" gefällt, das mindestens ein gleiches Maß von Unwillen herausforderte. Mindestens ein gleiches Maß von Unwillen, denn während durch das Urteil des Herrn Brausewetter eine Anzahl Personen mehr oder minder schwer zu leiden hat, wurde durch das andere Urteil nicht nur derselbe Schaden angestiftet, sondern noch obendrein ein Prinzip sanktioniert, das die letzten Reste deutscher Pressfreiheit abermals in beträchtlichem Maße schmälert. Das Prinzip nämlich, wonach neben den verantwortlichen Redakteuren auch alle sonst wie an der Herstellung einer Zeitung beteiligten Personen für deren Inhalt strafrechtlich verantwortlich sein sollen. Nicht nur über zwei verantwortliche Redakteure des „Sozialist" wurden auf Grund eines bekannten Kautschukparagraphen des Strafgesetzbuchs „wegen Aufreizung zu Gewalttätigkeiten" neun und acht Monate Gefängnis verhängt, sondern auch über den Drucker achtzehn Monate. Zusammen fünfunddreißig Monate Gefängnis wegen einiger Äußerungen, die – nach der nicht widerlegten Behauptung der Angeklagten -in anderen Druckschriften teilweise schon vor Jahrzehnten unbeanstandet veröffentlicht worden waren, und das alles noch obendrein unter unberechtigter Aufstellung eines Grundsatzes, dessen allgemeine Anerkennung der gesamten Presse jeden festen Rechtsboden unter den Füßen wegnehmen müsste.

Dieses Urteil ist aber nur von der sozialdemokratischen Tagespresse kritisiert worden, wie es kritisiert zu werden verdient. Die bürgerliche Presse nimmt es als selbstverständlich hin, weil es sich gegen ein anarchistisches Blatt richtet, genauso wie sie das Gebaren des Herrn Brausewetter als selbstverständlich hingenommen hatte, so lange, bis es den bürgerlichen Parteien unbequem wurde. Wir entsinnen uns noch recht wohl, wie im Jahre 1881 die „Vossische Zeitung" und ähnliche Zeitungsgeschwister in Feuer und Flammen aufgingen über die „Missachtung des preußischen Richterstandes", als ein junger ebenso fähiger wie mutiger Anwalt auf Grund schreiender Tatsachen und innerhalb seines gesetzmäßigen Rechts den Herrn Brausewetter wegen Befangenheit als Richter ablehnte. Dieser Anwalt, der gegenwärtige Reichstagsabgeordnete für Liegnitz-Goldberg-Haynau, gehörte keineswegs zur sozialistischen, sondern zur freisinnigen Partei, wenn auch nicht zum kapitalistischen Klüngel, und er hatte es wahrhaftig nicht den Denunziationen seiner eigenen Parteiblätter zu danken, wenn er mit knapper Not der Disziplinierung entging für die Vermessenheit, Herrn Brausewetter, solange es noch Zeit war, an eine unparteiische Führung der Gerichtsverhandlungen zu gewöhnen.

Wenn Herr Brausewetter das geworden ist, was er heute ist – und nichts liegt uns ferner als die Behauptung, dass er etwas Beneidenswertes geworden sei –, so trägt die wohlwollende Patronage, die ihm die bürgerliche Presse widmete, so lange, bis er ihr selbst unbequem wurde, ein gutes Teil der Schuld daran. Außerhalb Berlins mag er ein unbekannter Mann gewesen sein; in Berlin war er aber seit einem halben Menschenalter sehr bekannt, er und seine Leistungsfähigkeit im Gerichtsfach. Dutzende, um nicht zu sagen Hunderte von Malen haben sich hiesige Anwälte über die Art beschwert, wie er als Vorsitzender die Angeklagten und ihre Verteidiger zu behandeln beliebte, aber ohne jeden Erfolg. Und so wie wir Herrn Brausewetter kennen, werden die Stürme sittlicher Entrüstung, die jetzt um ihn toben, seine Gemütsruhe auch nicht sonderlich stören. Er wird in seiner beschaulichen Weise denken: Aber, liebe Leute, was wollt ihr denn von mir? Ich bin ein „preußischer Richter", an dem der königlich-preußische Justizminister nie ein Fehl zu finden vermocht hat – trotz aller Beschwerden. Ich bin ein hervorragendes Mitglied desselben „preußischen Richterstandes", der nach eurer liebenswürdigen und durchaus lobenswerten Auffassung seinesgleichen nicht hat oder gehabt hat, solange es eine Gerechtigkeit auf Erden gibt. Vielleicht bin ich etwas temperamentvoller als meine Kollegen, aber wer kann für sein Temperament? Und deshalb soll ich als Sündenbock in die Wüste gejagt werden? Ach, geht mir doch!

Mit diesem Räsonnement würde Herr Brausewetter auch nicht so sehr Unrecht haben. Als Typus, als besonders scharf ausgeprägter Typus einer ganzen Gattung von Richtern hat er ohne Zweifel seine Bedeutung, aber das Attackieren seiner Person lässt uns sehr kalt. Ebenso wie es uns sehr kalt lassen würde, wenn der Entrüstungssturm der bürgerlichen Presse ausnahmsweise einmal den bisher noch sehr zweifelhaften Erfolg haben sollte, dass Herr Brausewetter in eine Zivilkammer versetzt würde. Wir würden dann einfach sagen: den Brausewetter sind wir los, aber die Brausewetter sind geblieben. Ob es heute im ganzen Deutschen Reich vom ersten Präsidenten des Reichsgerichts bis zum letzten Assessor einen einzigen Richter gibt, der in politischen Prozessen, die mit der Arbeiterbewegung zusammenhängen, ein sachkundiges und unbefangenes Urteil zu fällen fähig ist, das ist eine Frage, deren zuversichtliche Bejahung eine außerordentliche Kühnheit im Aufstellen verwegener Behauptungen beweisen würde. Dass es eine mehr oder minder große Anzahl von Richtern gibt, die sich mit manchmal mangelhaftem Erfolge, aber stets redlichem Willen bemühen, sich bei ihrer Rechtsprechung in solchen Prozessen aus ihren Klassenvorurteilen heraus zu wickeln, soll deshalb nicht bestritten, vielmehr ausdrücklich anerkannt werden. Aber nicht minder wichtig ist, dass es auch eine schwere Menge Brausewetters gibt, deren Blick nun einmal nicht über eine sehr enge bürokratisch-polizistisch-bürgerliche Schranke reicht. Dass diese Diener der Frau Justitia, die es mit ihrer Herrin in ihrer Weise ja auch recht gut meinen mögen, gemeiniglich die äußeren Formen einer unparteiischen Rechtspflege besser beobachten, als es Herrn Brausewetter gegeben ist, macht den Verdonnerten den Rumfutsch von Plötzensee nicht fetter.

Das Herumpuffen an der Person des Herrn Brausewetter hat schon deshalb seine bedenkliche Seite, weil er neben allen Fehlern auch manche Vorzüge in diesem Prozesse bewährt hat. Solche Vorzüge waren erstens die Offenheit, womit er bekannte, die ganze Verhandlung sei ein großes Scheuerfest der Polizei, die blitzblank geputzt werden solle von dem Vorwurfe, mit Lockspitzeleien und ähnlichen Teufeleien je zu tun gehabt zu haben, und zweitens die Gründlichkeit, womit er diesen Zweck vereitelte. Gibt es eine Stelle, wo man heute über Herrn Brausewetter noch viel zorniger sein wird, als die bürgerliche Presse nur immer zornig über ihn sein kann, so ist es der Polizeipalast am Alexanderplatz. Man würde das Herz wie den Kopf unserer Polizei gleichmäßig unterschätzen, wenn man annehmen wollte, dass es ihr um die drakonische Bestrafung der Angeklagten zu tun gewesen sei und dass sie an deren harter Verurteilung einen Genuss habe. Nein, ihr wäre es am liebsten gewesen, wenn Herr Brausewetter die Verhandlung mit stocksteif-feierlichem Ernste geleitet, seine innige Überzeugung von der Unschuldsreinheit der Polizei in den Gründen des Urteils mit trocken-juristischem Unfehlbarkeitstone niedergelegt und die Angeklagten zwar verurteilt, aber unter Annahme aller möglichen mildernden Umstände zu so geringen Strafen verurteilt hätte, dass sie sich vergnügt auf ihre Redaktionssessel zurückziehen konnten. Man muss sich unter unserem verehrten Polizeipräsidenten kein verschlagenes Polizeigenie vorstellen. Wir kennen ihn noch aus der Zeit, als er in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit den Kreis Stolp in Hinterpommern regierte und sich wenig davon träumen ließ, dass es ihm einmal beschieden sein würde, die tausendfach verschlungenen Fäden des internationalen Königsmordes zu entwirren. Bei Lösung dieser ehrenvollen und weltgeschichtlichen Aufgabe ist er stets ein Opfer der Verhältnisse gewesen, die sich in den Stieber und Krüger die richtigen Werkzeuge geschaffen hatten, und wenn Herr v. Richthofen einmal ganz einwandfrei bescheinigt erhalten könnte, dass seine Verwaltung des hiesigen Polizeipräsidiums nichts belastet, was ein rechtschaffener Landjunker nicht vor seinem Gewissen verantworten kann, so wäre dieser Erfolg vermutlich das froheste Ereignis seines Lebens. Es ist deshalb aber leicht abzusehen, dass er die Sorte von Bescheinigung, die ihm Herr Brausewetter überreicht hat, nicht gerade mit einem Segenswunsche für den Spender empfangen haben wird.

Dieses Scheuerfest der Polizei war nicht ihr erstes und wird auch nicht ihr letztes sein. Und weil es nicht ihr letztes sein wird, so ist es vielleicht von Interesse, ein wenig bei ihrem ersten zu verweilen, das, da es sich zur Zeit des Sozialistengesetzes abspielte und ein dem kapitalistischen Klüngel damals verhasstes Blatt betraf, kaum bekannt geworden ist. Die Dokumente, die wir dabei aus alten, verstaubten Akten ausgraben, sind lehrreiche Beiträge zur Geschichte des Sozialistengesetzes und zudem geeignet, hindernd auf weitere Scheuerfeste der Polizei einzuwirken, ganz abgesehen von der für Herrn Brausewetter gewiss unschätzbaren Aufklärung, die sie ihm über die Existenz oder Nichtexistenz von Lockspitzeln geben können. Als im Herbste des Jahres 1886 Berndt und Christensen durch das hiesige Landgericht von der Anklage freigesprochen worden waren, den Schutzmann Ihring-Mahlow verleumderischerweise der Lockspitzelei beschuldigt zu haben, nahm die Polizei den verlorenen Prozess wieder auf durch eine gleiche Anklage gegen die „Volks-Zeitung", die wie ziemlich alle hiesigen Blätter über die Kulturtaten des Herrn Ihring-Mahlow tadelnde Bemerkungen gemacht hatte. Herr v. Puttkamer erklärte als Polizeiminister im Reichstage, ein Gericht könne sich irren, aber nach der zweifellosen Verurteilung der „Volks-Zeitung" werde sich zeigen, dass Ihring-Mahlow doch unschuldig sei wie ein Engel des Lichts. Die Art des polizeilichen Angriffs war dieselbe wie in dem Brausewetter-Prozesse; man griff ein einzelnes Blatt heraus, das nicht schuldiger war als zehn andere, und man bewährte eine ganz schlaue Taktik mit der Wahl der „Volks-Zeitung", die damals in der hiesigen Presse vollkommen isoliert stand und deren polizeilich-gerichtliche Drangsalierung namentlich von den freisinnig-kapitalistischen Blättern stets mit wohlwollendem Schmunzeln betrachtet wurde. In der Tat hat die „Volks-Zeitung" in dem fast dreijährigen Prozesse nicht die geringste Unterstützung von bürgerlicher Seite erfahren, um so nachdrücklichere Hilfe aber von den hiesigen Arbeitern. Eine andere Ähnlichkeit mit dem Brausewetter-Prozess war die versuchte Einschüchterung der Entlastungszeugen durch die Drohung, sie wegen Meineids zu verfolgen. Als die Hauptverhandlung am 16. Februar 1887 anstand, erschien Herr Krüger an der Spitze einer halben Kompagnie von Schutzleuten und mit einem ostentativen Lärm, der halb Moabit auf die Beine brachte, im Gerichtsgebäude und verhaftete noch vor Eröffnung der Sitzung vom Korridor weg zwei von der „Volks-Zeitung" geladene Zeugen wegen Verdachts, in dem früheren Ihring-Mahlow-Prozesse einen Meineid geleistet zu haben. Nach diesem Walten der irdischen Gerechtigkeit trat dann auch die himmlische Gerechtigkeit in ihre Wirksamkeit, indem der Vorsitzende des Schöffengerichts jeden neuen Zeugen mit der Frage empfing: „Was denken Sie denn vom Eide? Glauben Sie an ein ewiges Leben? Glauben Sie an eine ewige Verdammung? Glauben Sie, dass der Meineid in einem Leben nach dem Tode bestraft wird?" Indessen, von jedem dieser Zeugen galt Uhlands Wort: Der wackere Schwabe forcht sich nit. Geben wir zwei ihrer Aussagen nach dem gerichtlichen Protokoll:

Tischler Bahls: Von den Dynamitabsichten weiß ich nichts, nur dass Ihring sagte, mit dem Parlamentieren sei es nichts, es müsste so gearbeitet werden, wie die Nihilisten in Russland es täten. Es machte auf mich den Eindruck, als reize er zu Gewalttätigkeiten auf, von denen ich nichts halte."

Kaufmann Ewald Hasenbein: Ich lernte Ihring bei Wesenack kennen. Er führte, als Arbeiter gekleidet, revolutionäre Redensarten und suchte sich Arbeitern anzuschließen. Einmal bei Ebersbach hatte er ein Buch und wollte vortragen, kam aber nicht dazu. Ein andermal sagte er, er habe mit Büchel gesprochen und wolle ihm das Dynamitmachen lehren. Wittkowski teilte mir mit, es sei bei ihm Haussuchung gehalten worden. Ihring tröstete ihn und sagte: ,Du kriegst höchstens drei Wochen, ich würde drei Jahre kriegen, ich habe Dynamit, Tiegel, Retorten usw. Wenn sie bei mir kommen, steht alles gleich offen da.' Dies wiederholte er nachher nochmals. Dem Berndt habe ich auch geborgt und wunderte mich, dass er Ihring anborgte. Ihring hat mich direkt zum Spitzbuben machen wollen und wollte, ich solle Blutlaugensalz aus der Apotheke mitbringen, in der ich arbeitete. Ich tat es nach Genehmigung meines Chefs, gleichwohl sagte er später auf dem Molkenmarkt, ich hätte es gestohlen. (Einschaltend sei hier bemerkt, dass Ihring nach eigenem Zugeständnis mit dem Blutlaugensalz eine Geheimschrift lehren wollte.). Einmal, als er uns die Geheimschrift lehren wollte, schrieb er hin: ‚Kauft Revolver' und (schrieb) mir extra eine Chiffreschrift auf, auch sagte er, wenn wir nichts mit Dynamit machen wollten wie die in Zürich und Italien, wäre es nichts, er wollte uns stets zu Taten aufreizen, es war ihm nicht lieb, dass wir uns so harmlos bewegten. Nur dunkel erinnerlich ist mir, dass er von den Nihilisten gesprochen."

Diese Aussagen wurden mit größter Bestimmtheit, Einfachheit und Klarheit abgegeben, so scharf Vorsitzender und Staatsanwalt die Zeugen auf Herz und Nieren prüften. In so hoffnungsloser Situation beantragte der Staatsanwalt, Ihring als Zeugen zu vernehmen, der durch seinen Eid die Aussagen der Entlastungszeugen vernichten würde. Hiergegen protestierte die Verteidigung, da Ihring bereits durch ein gerichtliches Urteil der Lockspitzelei überführt sei; im Falle das Gericht dennoch seine Ladung beschlösse, beantrage sie auch die eidliche Vernehmung Christensens, der aus Berlin ausgewiesen war und der polizeilichen Erlaubnis bedurfte, um vor Gericht zu erscheinen. Der Gerichtshof beschloss, Ihring und Christensen zu vernehmen, dazu aber einen vom Polizeipräsidium zu benennenden Beamten, der über den Charakter von Christensen und Ihring amtliche Auskunft geben solle.

Es folgte nun ein Hin und Her von gegenseitigen Schachzügen, deren nähere Auseinandersetzung an dieser Stelle zu weit führen würde. Nur das letzte Hindernis, das sich gegen die Vernehmung Christensens auftürmte, sei als prozessualisches Kuriosum erwähnt. Am 13. März 1888 erging folgende amtsgerichtliche Verfügung an die Beklagte: „Chicago ist eine Stadt von zirka 400 000 Einwohnern. Die angegebene Adresse des Zeugen Christensen – per Adresse der Redaktion der Arbeiterzeitung – scheint nicht vollständig bzw. nicht genau genug. Sie werden daher veranlasst, den Aufenthaltsort des p. Christensen in Chicago näher zu bezeichnen, andernfalls ohne diesen Zeugen zur Verhandlung geschritten werden soll. Diese Verfügung ist in 14 Tagen zu erledigen." Glücklicherweise war die „Volks-Zeitung" so weit mit ihrem Jahrhundert fortgeschritten, um von der Existenz eines transatlantischen Kabels zu wissen, und sie brauchte kaum 14 Stunden, um dem Gerichte die Wohnung Christensens nach Straße, Hausnummer und Etage mit minutiösester Genauigkeit zu übermitteln.

So wurde denn Christensen am 6. Juli 1888 vor dem kaiserlich deutschen Konsulat in Chicago kommissarisch vernommen. Wir geben seine Aussage, wie sie von dem Konsul aufgenommen und von Christensen beeidet worden ist, als bisher noch nicht veröffentlichtes historisches Dokument wieder, mit Weglassung einer Handvoll schmutziger Beleidigungen, die Ihring gegen den damaligen und den heutigen Kaiser geschleudert hatte. Als Zeuge musste Christensen sie deponieren, aber in einem historischen Bericht ist es uns begreiflicherweise nicht gut genug, uns mit diesen Ausgeburten eines Polizistenhirns zu befassen. Wir hätten auch ein paar Sätze, die wir von diesem Teile der Aussage andeutungsweise stehen gelassen haben, lieber gestrichen, indessen die gänzliche Weglassung der ominösen Partie würde das Bild der schauerromantischen Aufreizungen, womit so ein preußischer Lockspitzel deutsche Arbeiter kirren zu können hofft, gar zu sehr beeinträchtigt haben. Also mit diesen Auslassungen lautet die Aussage Christensens wörtlich:

Im November 1885 tauchte in Berliner Arbeiterkreisen der Schutzmann Ihring unter dem Namen Mahlow auf. Ich lernte denselben in dem Lokal von Wesenack kennen. Es war dies Ende November und nicht, wie Ihring behauptet hat, am 71. Dezember. Ihring hatte einem Vortrag, den ich kurze Zeit vorher gehalten, beigewohnt, begann mit mir über den Vortrag zu sprechen und äußerte, derselbe sei nicht scharf genug gewesen. Ich hielt Ihring im ersten Augenblick für einen Anarchisten oder einen agent provocateur. Seine in provozierender Weise gemachten Äußerungen erregten in mir den Verdacht, dass er im Dienste der Polizei stehe. Ende November oder Anfang Dezember ging ich über den Opernplatz, um mich in die königliche Bibliothek zu begeben, und traf den Ihring in der Nähe des kronprinzlichen Palais. Derselbe schloss sich mir an und begleitete mich, wobei er in der Unterhaltung zwei Majestätsbeleidigungen aussprach, dem Sinne nach folgenden Inhalts: ‚Schade, dass die Bibliothek im Schlosse sich befindet; wenn wir da a …. L in die Luft sprengen, fliegt sie mit; das wäre doch schade um sie.' Und ferner mit Bezug auf die kaiserliche Standarte: ,Der Lappen ist draußen, der L … ist drin.' Ich ging auf diese Äußerungen nicht ein. Da das Benehmen des Ihring verdacht erregend war, so wurde beschlossen, acht auf ihn zu geben und ihn zu bewachen. Er wurde in unsere sonntäglichen Zusammenkünfte eingeführt. Das erste Mal, als Ihring sonntags mit uns zusammenkam, war am 27. Dezember. Er ist dann öfter mit uns gewesen. Ihring bemühte sich, in verschiedener Weise uns aufzureizen. Zunächst strebte er dahin, einen politischen Verein zu gründen. Dann hat er eine Geheimschrift auf verschiedenen Blättern mitgebracht, die er zirkulieren ließ, um sie bekannt zu machen. Als Schlüssel hatte er vorgeschlagen: ‚Kauft Revolver.' Ferner empfahl er die Anwendung von Dynamit. Er äußerte sich einmal, er werde das nächste Mal fünf Dynamitbomben mitbringen, die in öffentliche Gebäude geworfen werden sollten. Vor der Beratung des Sozialistengesetzes müsse noch ein Putsch gemacht werden."

Als diese Zeugenaussage in Berlin eingetroffen war, erkannte die Staatsanwaltschaft, dass dagegen mit den feierlichen Eiden des Ihring und auch mit der höheren Autorität eines vom Polizeipräsidenten noch zu benennenden Beamten nicht aufzukommen sei. Es geschah, was in der preußischen Rechtspflege noch nie geschehen war: Der Staatsanwalt ließ die von ihm anhängig gemachte Strafsache freiwillig einschlafen. Nachdem die Verjährung eingetreten war, begrub das Gericht am 6. Mai 1889 die von Herrn v. Puttkamer mit den lebhaftesten Posaunenstößen im Reichstag angekündigte Haupt- und Staatsaktion auch formell ohne Sang und Klang. […]

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