Franz Mehring 18930802 Bucher und Lassalle

Franz Mehring: Bucher und Lassalle

2. August 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Zweiter Band, S. 577-581. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 331-337]

Als Lothar Bucher im Oktober vorigen Jahres gestorben war, sickerte mancherlei in die Presse über die Ungeduld und den mühsam gebändigten Unmut, womit den verflossenen Mann das bismärckische Joch dennoch erfüllt hatte. Die Frage, wie der Freund und literarische Erbe Lassalles so lange die Gemeinschaft mit dem schlimmsten Ausbeuter, den die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gesehen hat, habe ertragen können, lag in der Tat so nahe, dass sie sich auch den stumpfen Sinnen mindestens einzelner bürgerlicher Blätter aufdrängen musste. Die von Friedrichsruh abhängigen Federn suchten das Rätsel dadurch zu lösen, dass sie die Gesinnungsgemeinschaft zwischen Bucher und Lassalle möglichst herabzumindern suchten, aber an der für sie „maßgebenden Stelle" mochte man wohl empfinden, dass mit dem geistreichelnden Galimathias: „Wie Heine zu Börne, so konnte später auch Lothar Bucher nicht zu Lassalle den Steg finden, denn Börne und Lassalle gehörten eben bei aller Verschiedenheit doch gemeinsam der Partei an, die an Wörter glaubt", wenig oder nichts getan war. So hat sich denn ein anderer Prophet des Messias von Friedrichsruh, der Ritter v. Poschinger, an die Arbeit gemacht; er veröffentlicht in der „Deutschen Revue" eine Reihe von Artikeln über Lothar Buchet zur höheren Ehre Bismarcks, und diese Artikel sind interessant genug, um an dieser Stelle eine nähere Beleuchtung zu finden.

Freilich nicht eigentlich ihrer Tendenz wegen. Denn in der Lösung des psychologischen Problems Bucher-Lassalle-Bismarck bringt besagter Ritter es nicht einmal zu geistreichelndem Galimathias, sondern hilft sich mit der plumpen Finte, womit sich sein Herr und Meister schon im Herbste von 1878 zu helfen suchte, als er von Bebel wegen des Verkehrs mit Lassalle an die Wand gedrückt wurde. Wenn Herr v. Poschinger schreibt: „Lassalle war ein liebenswürdiger Wirt, ein geistreicher, ja bahnbrechender Kopf, ein warmer Anhänger des Staatsgedankens, ein eifriger Gegner des Individualismus, ein guter preußischer Patriot und ein ausgesprochener Bewunderer Bismarcks", und wenn er dann einige hundert Zeilen weiter schreibt: „Der Punkt, der Bucher bewog, sich von Lassalle als Politiker förmlich loszusagen, war die Erkenntnis, dass letzterer offen auf den Umsturz hinsteuerte, während der bedächtige Bucher den Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht verlassen wollte", so wäre jedes Wort, das darüber noch verloren würde, eine sündhafte Verschwendung von Papier und Druckerschwärze. Aber der gegenwärtige Besitzer von Lassalles literarischem Nachlasse, vermutlich Graf Hatzfeldt, hat dem Ritter v. Poschinger einiges zur Veröffentlichung gespendet, und diese Urkunden, Briefe Buchers an Lassalle, sind ein wertvoller Beitrag zur Geschichte von Lassalles Agitation.

Man wolle es uns nicht als persönliche Eitelkeit auslegen, wenn wir zunächst auf die glänzende Bestätigung hinweisen, welche die psychologische Analyse von Buchers Charakter, die wir gleich nach seinem Tode in der „Neuen Zeit" – Nr. 5 des laufenden Jahrgangs – veröffentlichten, durch jene Schriftstücke erhalten hat. Unser persönliches Verdienst dabei war nicht weit her; es beschränkte sich auf die jedem freistehende Anwendung der historisch-materialistischen Forschungsmethode. Bei dem sehr spärlichen literarischen Material, das für unseren Zweck vorlag, suchten wir aus den sozialen Zuständen, aus denen Bücher erwachsen war und in denen er gelebt hatte, den Schlüssel zum Verständnis seines Wesens zu gewinnen, und wenn wir dabei zu dem Ergebnisse kamen: „Das Verhängnis dieses Mannes war, dass er nie in seinem Leben frei atmen, voll leben durfte; daraus erwuchs ihm jene Zaghaftigkeit des Charakters, die ihn bei der Wahl zwischen Lassalle und Bismarck auf diese Seite fallen ließ", so liegt jetzt sein schriftliches Bekenntnis vor, dass er sich von Lassalle „im Bewusstsein seiner Schwäche zurückgezogen" habe. Bucher hasste die „bestehende Gesellschaftsordnung" mindestens ebenso sehr wie Lassalle, ja insofern noch mehr, als er in gewissem Sinne ihre Nichtsnutzigkeit noch tiefer erkannte als Lassalle, und wenn er aus seiner schärferen Erkenntnis ihrer Schäden heraus die Heilmittel Lassalles für unzulänglich hielt, so fügte er doch seiner Kritik die Worte hinzu: „Wenn Sie alle Gründe kennten, die ich habe, diese alte Weltordnung zu hassen, so würden Sie die Überwindung würdigen, die es mich kostet, so objektiv die Dinge anzusehen." Dieser Brief Buchers an Lassalle war bereits im Sommer 1878 von der Gräfin Hatzfeldt in der „Berliner Freien Presse" veröffentlicht worden, und es kennzeichnet die elende Geschichtsfälschung der bismärckischen Literatenclique, dass Ritter v. Poschinger in seiner Bucher-Biographie (Ein Achtundvierziger 2, 259 ff.) den Brief zwar sonst wörtlich abdruckt, aber den angeführten Satz einfach unterschlägt, ohne auch nur die Lücke durch Punkte oder Striche anzudeuten, so dass der Leser möglichst den Eindruck gewinnen soll, als habe Bucher trotz seiner Freundschaft für Lassalle in dem lieblichen Mischmasch von Absolutismus und Militarismus, Feudalismus und Kapitalismus des bismärckischen Zeitalters die goldenen Tage der Menschheit erblickt.

Tatsächlich war Bucher namentlich in zwei Punkten der sozialen Erkenntnis Lassalles noch voraus. Er kannte aus seiner Tätigkeit als Patrimonialrichter die ostelbische Landbevölkerung, und solange diese blieb, was sie war, hielt er jeden „Umsturz" für unmöglich. Dann aber hatte er das ökonomisch so wichtige Jahrzehnt von 1850 bis 1860 nicht wie Lassalle in Düsseldorf und in Berlin, sondern in London und teilweise in Paris verlebt; er kannte deshalb den modernen Großkapitalismus und das Spiel seiner immanenten Gesetze viel genauer, und er wusste, dass diese Bestie ein viel zäheres Leben hatte als ihr luftiges Gesindel von Freihandelshausierburschen, die Lassalle immer gleich zu Dutzenden in die Pfanne hieb. In einer Denkschrift, die Bucher im November 1865 über seine ehemaligen Beziehungen zu Lassalle seinem nunmehrigen Vorgesetzten Bismarck einzureichen hatte, sagte er: „Das Resultat der Unterredung (nämlich zwischen Bucher und Lassalle) war eine Übereinstimmung unserer Vorstellungen von dem Wesen der Gesellschaft und dem Gange der Geschichte im großen; sofort aber trat der alte Konflikt zwischen uns und nun in der Form hervor, dass er, von der Ideenentwicklung in der Geschichte ausgehend, die Realisierung der nächsten Phase bald, noch während seines Lebens, erwartete, während ich, ausgehend von der Betrachtung der Klassen und Gruppen, wie sie mir in einzelnen Typen erschienen, von dem natürlichen Egoismus der einen und der Trägheit der anderen einen langen Widerstand der Materie gegen den Gedanken, daher den Durchbruch neuer wirtschaftlicher Formen erst in Menschenaltern vorherzusehen glaubte." Bismarck wird davon nicht viel verstanden haben, aber die Quintessenz dessen, worin Bucher und Lassalle übereinstimmten und worin nicht, dürfte in diesen Sätzen enthalten sein.

Die Tatsache, dass Bucher was davon erkannt und in den Briefen, die er aus London in die „National-Zeitung" schrieb, sein volles Herz nicht gewahrt hatte, kostete ihm bei seiner Rückkehr in die Heimat die politische und beinahe auch die bürgerliche Existenz. Die liberale Bourgeoisie war in Deutschland viel kleiner als in England und Frankreich, aber ebendeshalb auch viel kleinlicher. Sie besaß damals schon eine boshafte und grausame Meisterschaft, den Hungerboykott über jeden zu verhängen, der in ihrem Schoße gegen ihre Herrlichkeit zu murren wagte. Man hat es Lassalle oft zum Vorwurfe gemacht, dass er auch mit den besseren bürgerlichen Elementen, wie Waldeck und Genossen, gar zu ungeniert umgesprungen sei, aber man sollte doch nicht übersehen, dass Lassalle aus nächster Nähe beobachtete, wie diese besseren bürgerlichen Elemente, den einzigen Ziegler ausgenommen, gar nichts Entehrendes darin erblickten, dass der aus dem Exil heimkehrende Bucher eben nur noch ein dürftiges Gnadenbrot (achthundert Taler jährlich) als ein Tintenkuli in dem Telegraphenbüro des Herrn Wolff erhielt. Sogar der Ritter v. Poschinger fühlt ein menschliches Rühren, wenn er von Buchers Qualen in solcher Tätigkeit spricht. Er schreibt: „Wie oft klagte Bucher über diese Stellung und, was noch schlimmer war, über die Färbung der Depeschen: es ist unerträglich." Der wackere Ritter hätte nur nicht vergessen sollen, zu erwähnen, dass diese „Färbung", d. h. die systematische Fälschung der Depeschen, im Auftrage und Interesse seines Messias geschah. Denn Bismarck hatte gleich nach seinem Eintritt in die Geschäfte dem Telegraphenbüro des Herrn Wolff gegen entsprechende Gegenleistung allerlei Vorrechte in der Beförderung der Depeschen verschafft, und er schilderte nur seine eigene Praxis, als er das geflügelte Wort prägte: Gelogen wie telegraphiert!

Wenn Bucher nun aber annahm, dass er um den Preis einer entwürdigenden Stellung sich wenigstens die Freiheit der Rede und Schrift gerettet habe, so sollte ihn die Hungerpeitsche der liberalen Bourgeoisie, zu deren Zierden Herr Wolff als Besitzer der „National-Zeitung" gehörte, eines Besseren belehren. Trotz aller sachlichen Bedenken gegen Lassalles Agitation war der „Umsturz" der „bestehenden Gesellschaftsordnung" viel zu sehr Herzenssache für Bucher, als dass er sich nicht ehren- oder, wie er es auffasste, schandenhalber an die Seite des von allen Seiten beschimpften Freundes hätte stellen sollen. Am 20. April 1863 schrieb er den Leipziger Arbeitern, dass die Misshandlung Lassalles durch die liberale Presse es „doppelt geboten" mache, „Farbe zu zeigen", und versprach ihnen einen Vortrag darüber, dass die Lehre der Manchesterschule vor der Wissenschaft, vor der Geschichte und vor der Praxis nicht bestehe. Aber bereits zehn Tage später, am 30. April, nahm er seine Zusage zurück, weil die Äußerungen des Bedauerns, des Tadels und der Anerkennung über die bloße Ankündigung seines Vortrags ihn nötigten, seine Ansicht in einer Form zu entwickeln und mit einer Masse von Tatsachen zu belegen, die beide für einen Vortrag nicht geeignet seien, vielmehr eine schriftliche Darlegung erforderten, die er unter der Feder habe. Man kann den Wortlaut beider Briefe in Bernsteins Ausgabe von Lassalles Schriften 2, 485 f., nachlesen. Indessen aus der Schrift Buchers ist sowenig etwas geworden wie aus seinem Vortrage, und mit der Schrift ist es ihm auch nie Ernst gewesen. Das geht unzweideutig aus einem Briefe Buchers an Lassalle hervor, der zwischen jenen beiden nach Leipzig gerichteten Schreiben liegt und vom Ritter von Poschinger in der „Deutschen Revue" veröffentlicht wird. Er ist vom 26. April datiert und lautet:

Was ich Ihnen neulich des Abends sagte in Bezug auf – Sie möchten es nicht wie Urquhart machen, Ihre Freunde ruinieren und dadurch zu Feinden machen, war prophetisch. Am anderen Morgen zeigte sich eine sehr ernste Verwicklung, hervorgegangen aus der Zusage, die ich dem Leipziger Arbeiterverein auf Ihr Verlangen gemacht, und aus der Form, in welche ich diese Zusage gekleidet hatte, und der Wendung gegen die Berliner Presse, die ich gewählt hatte, weil es mir anständig erschien, jemanden, mit dem man in den vier Pfählen und an seinem Herde in den freundschaftlichsten Beziehungen lebt, draußen nicht zu verleugnen, sei es auch nur durch Stillschweigen in einer Frage, in der man auf seiner Seite steht, oder, um es kürzer und platter auszudrücken, weil ich es für anständig hielt, von den vielen Prügeln, die auf Sie fielen, auch etwas abzubekommen. Die Verwicklung ist noch nicht gelöst, kann den einen oder den anderen Ausgang nehmen. Ich benutze die Gelegenheit, um Ihnen in vollständiger Gemütsruhe einen Entschluss mitzuteilen, der, unzählige Male in mir aufgestiegen und immer niedergedrückt, während der verflossenen Nacht mit einer Klarheit und Festigkeit in meine Seele getreten ist, wie seit vielen Jahren keiner. Ich muss den Umgang mit Ihnen aufgeben. Wenn ich ihn fortsetzte, so würde ich über kurz oder lang durch Sie in Verwicklungen hineingezogen oder in Lagen versetzt werden, die mich zwängen, mich selbst in Verwicklungen zu stürzen. Statt einer Motivierung dieses Entschlusses, die Sie ja auch aus unseren mannigfachen Disputationen seit Ihrer Rückkehr aus Italien selbst entnehmen können, lassen Sie mich einfach sagen: es ist mein Instinkt. Noch weniger brauche ich Ihnen zu schreiben, wie viel mich der Entschluss kostet; ich wiederhole nur, was ich oft hinter Ihrem Rücken gesagt habe, dass ich dem Umgange mit Ihnen mehr Belehrung und Anregung verdanke als irgendeinem anderen Verhältnisse. Ich kann jetzt in voller Freundschaft von Ihnen scheiden, wie wenn ich nur eine Reise anträte; ob ich es in einigen Tagen noch könnte, weiß ich nicht. Ich überlasse Ihnen ganz, wann und wo Sie über den Gegenstand dieses Briefes sprechen wollen, ich selbst werde längere Zeit keine Nötigung dazu haben und, wenn ich endlich muss, einfach sagen: ich habe mich im Bewusstsein meiner Schwäche zurückgezogen."

Und zwei Tage darauf, am 28. April, beantwortet Bucher eine inzwischen eingetroffene, von Poschinger nicht mitgeteilte Erwiderung Lassalles mit folgendem Satze:

Eine Stimme, die nie getrogen und deren Nichtbeachtung sich stets bitter gerächt hat, sagt mir, dass es Ihr Verhängnis ist, Ihre Freunde verderben zu sehen, und dass es für mich die letzte, wenn noch eine Chance ist, diesem Verhängnis zu entgehen …"

Diese Briefe sind ein paar Steine mehr zum Schandmale der liberalen Bourgeoisie. Unter ihrer Hungerpeitsche hört man ihr Opfer jammern. Aber ein Ehrendenkmal sind diese Briefe deshalb für Bucher nicht, und man versteht jetzt, weshalb Herr Bruno Bucher vor einiger Zeit in den „Grenzboten" erklärte, dass er mit der Veröffentlichung des Ritters von Poschinger in der „Deutschen Revue" nichts zu tun habe. Vielleicht sieht Herr Bruno Bucher nun auch ein, dass er nicht gut beraten war, als er im vergangenen Herbste, gleichfalls in den „Grenzboten", eine freilich versteckte und vorsichtige Polemik gegen den Nekrolog führte, den die „Neue Zeit" seinem verstorbenen Bruder gewidmet hatte. Sieht man in Lothar Bucher das Opfer bestimmter sozialer Zustände, in seiner revolutionären Geistesgemeinschaft mit Lassalle den gipfelnden Punkt seines Lebens und darnach in seinem Übergang ins bismärckische Lager einen jähen Abstieg, eine bitter-verächtliche Absage an die nichtswürdigen Praktiken der liberalen Bourgeoisie, so bleibt ein tragischer Rest, dem es schwer ist, Achtung und Sympathie zu versagen, um so schwerer, als Bucher das bismärckische Joch wie ein büßender Trappist ertragen hat. Soll dagegen Bucher bis in sein fünfzigstes Lebensjahr im Irrgarten eines hohlen Radikalismus getaumelt und dann plötzlich vom bismärckischen Lichte erleuchtet sein, wie es im Grunde auch sein überlebender Bruder behauptet, nun so war er ein charakterloser Schwächling, dessen gerechter Lohn es gewesen wäre, als „Perle" unter dem bismärckischen Gesinde zu glänzen.1

Zum Glücke für Buchers Andenken ist unsere Auffassung die richtige, und ein klassischer Zeuge dafür ist auch Lassalle. Ganz hörte die Verbindung zwischen beiden Männern nicht auf; sie haben noch Briefe gewechselt und mindestens einmal sich noch persönlich gesehen, in der Verhandlung des Hochverratsprozesses, den der Staatsanwalt v. Schelling gegen Lassalle angestrengt hatte. Bei dieser Gelegenheit riet Bücher dem Freunde, während der Beratung des Gerichtshofs zu entfliehen, wie er selbst in dem Steuerverweigerungsprozesse geflohen war, aber Lassalle lehnte das ängstliche Ansinnen trotz der drohenden Zuchthausstrafe mit den Worten ab: das schickt sich nicht. Auch sonst verschloss er den politischen Ratschlägen Buchers sein Ohr, aber ein menschliches Interesse hat er ihm bewahrt, ihm bekanntlich auch noch in seinem Testament ein leider schlecht gelohntes Vertrauen bezeigt.

Überhaupt schlagen die Schönfärbereien, die an Bucher auf Kosten Lassalles und zu Ehren Bismarcks verübt werden, durchaus in eine Ehrenrettung Lassalles auf Kosten Buchers und Bismarcks um. Was Bucher und ähnlich Rodbertus und Ziegler gegen Lassalles Agitation einwandten, war vielfach berechtigt und berührte sich selbst hier und da mit der heutigen sozialistischen Auffassung, aber Lassalle sah doch tiefer als sie alle, wenn er meinte, dass die Zeiten sich erfüllet hätten und die Dinge reif genug geworden wären für den kräftigen Stoß der Menschenhand, der sie endlich ins Rollen brächte. Er kannte kein „Bewusstsein der Schwäche", und „Chancen, dem Verhängnis zu entgehen", waren für ihn überhaupt keine Begriffe. Ein ganzer Mann ist immer noch mehr als die tausend Einzelheiten, die ihn zusammensetzen, und selbst wenn er in allen Einzelheiten Unrecht haben sollte, so kann er im ganzen noch immer Recht haben. So berechtigt eine strenge Kritik Lassalles auch und gerade vom sozialistischen Standpunkt aus ist, so trifft sie noch immer nicht jenes sein innerstes Wesen, das Marx nach Lassalles Tod mit den Worten traf: „Er ist jung gestorben, im Triumph, als Achilles"2, das die deutsche Arbeiterklasse trifft, wenn sie Lassalle trotz aller Fehler und Schwächen als einen Ebenbürtigen neben Marx und Engels stellt.

1 Der Übergang Buchers auf die Seite Bismarcks war nicht so sehr eine Absage an die liberale Bourgeoisie, als vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass große Teile der Bourgeoisie ihre alten Ideale verrieten und sich mit der preußischen Reaktion verbündeten.

2 Marx an Sophie von Hatzfeldt in Berlin, 12. Sept. 1864. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 30, S. 673.

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