Franz Mehring 19140000 August Bebel Erinnerungen

Franz Mehring: August Bebel1

Persönliche Erinnerungen 1914

[Archiv für die Geschichte, des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 4. Jg., Leipzig 1914, S. 304-312. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 468-477]

In seinen Denkwürdigkeiten spricht Bebel von dem geselligen Verkehr, den er zur Zeit des Norddeutschen Reichstags, Ende der sechziger Jahre, mit den Leuten um Johann Jacobys „Zukunft", mit Guido Weiß, Robert Schweichel, William Spindler, dem „damals noch sehr jungen Franz Mehring" u. a. unterhalten habe.

Er fügt dann hinzu: „Blieben Liebknecht und ich über Sonntag in Berlin, so trafen wir in der Regel mit mehreren der Genannten, unter denen sich auch öfter Paul Singer befand, in einer Weinstube zusammen. Nach stillschweigender Übereinkunft tranken wir alle einen billigen Moselwein, so genannten Kutscher, den Schoppen zu fünfzig Pfennig. Nachher ging es nicht selten noch in ein Bierhaus. Meine Leistung im Trinken war allezeit eine minimale, aber Schweichel, Liebknecht, Guido Weiß, Mehring waren trinkfeste Mannen. Mehr als einmal gingen wir, doch stets aufrechten Hauptes, nach Hause, als schon die Sonne hell leuchtend am Himmel stand." Es ist eine der nicht allzu zahlreichen Stellen in Bebels Denkwürdigkeiten, wo sie das sind, was man im eigentlichen Sinne des Wortes Memoiren zu nennen pflegt: persönliche Erinnerungen, aus verklärender Ferne gesehen.

Trotz seiner minimalen Trinkfähigkeit verschmähte Bebel einen guten Tropfen nicht, aber den Rückzug trat er doch immer in den bergenden Schatten der Nacht an. Guido Weiß und Robert Schweichel waren freilich fröhliche Zecher des alten Schlages, die es ungern an einem angebrochenen Abend bewenden ließen, wobei der eine es bis dicht an die achtziger Jahre und der andere noch ein gutes Stück darüber hinaus gebracht hat. Aber wenn uns der Sonnengott zur Heimkehr leuchtete, schlief Bebel längst den Schlaf des Gerechten, während Liebknecht, sonst kein Mann des Kompromisses, eine gewisse Mittellinie zwischen seinem alten Freunde Schweichel und seinem jungen Freunde Bebel innehielt.

In seiner Lebensführung war Bebel stets der solide Kleinbürger, trotz seiner proletarischen Abstammung. Seine kümmerlichen Jugendjahre hat er in seinen Denkwürdigkeiten geschildert, und er sprach auch schon bei unseren bescheidenen Symposien gern davon. Damals meinte er auch, sein in Ostrowo aufgewachsener Vater sei geborener Pole gewesen; ich bin dieser Tatsache ganz sicher, da Guido Weiß sie in einem Artikel der „Wage" wiederholte, worin er einiges von Bebels Mitteilungen verwertete, ohne dass dieser widersprach. Erst als ich ein paar Jahrzehnte später in meiner Parteigeschichte seinen Vater einen „gebornen Polen" nannte, bat Bebel mich, die Angabe in den späteren Auflagen zu streichen; er sei seiner deutschen Abstammung sicher. Es ist mir jedoch zweifelhaft geblieben, ob es ihm dabei nicht ein wenig der Humanist Heinrich Bebel und namentlich der Buchdrucker Johann Bebel in Basel angetan hatten, der 1518 die erste deutsche Übersetzung der „Utopia" Mores herausgab. Vor einigen Jahren sprach ich mit Bebel noch auf einer gemeinsamen Fahrt nach Leipzig darüber. Tags vorher hatte die „Kölnische Zeitung" eine etymologische Abhandlung über polnisch-deutsche Familiennamen veröffentlicht und darin die polnische Wurzel des in Polen verbreiteten Namens Bebel nachgewiesen. Ich hatte ihm das Blatt mitgebracht, aber er wollte nichts davon wissen. Dabei erzählte er, dass er seiner Abstammung nachgeforscht habe, und rühmte das Entgegenkommen der Pfarrämter, die er gebeten hatte, alte Kirchenbücher nachzuschlagen. Viel war nicht dabei herausgekommen, doch zog er aus der Tatsache, dass der Name Bebel schon im 17. Jahrhundert in Polen vorkomme, die sonst nicht weiter begründete Schlussfolgerung, dass die Bebel zur Zeit der Reformation aus dem südwestlichen Deutschland in Polen eingewandert sein möchten.

Ein Freund „polnischer Wirtschaft" – wenn es gestattet ist, dies landläufige Schlagwort eines heute mehr denn je ungerechten Vorurteils zu gebrauchen – ist Bebel jedenfalls nie gewesen. Als Mensch und Staatsbürger war er stets der ehrsame Handwerksmeister von peinlicher Pünktlichkeit, darin wie in so vielem anderen seinem Freunde Liebknecht ganz unähnlich, der – bei gleich bescheidener und selbst frugaler Lebensführung – wenig von den Tugenden eines würdigen Hausvaters besaß. Dafür hatte Liebknecht eine künstlerische Ader, die seinen Lebenserinnerungen, so viel er davon in einzelnen Bruchstücken hinterlassen hat, viel mehr Farbe und Leben gibt, als die Denkwürdigkeiten Bebels aufzeigen. Es wäre verwegen, auf jede Tatsache, die Liebknecht beispielsweise in seinem Büchlein über Marx2 berichtet, einen körperlichen Eid abzulegen, aber trotz allen Fabulierens und gerade in ihm schildert Liebknecht viel lebendiger und wahrer als Bebel im Sinne des österreichischen Dichters:

Hast du nur deinem Werke eben Aus eignem Ich was zugegeben, So gibt's ein Bild.

Es heißt nun aber weit übers Ziel hinausschießen, wenn aus der Farblosigkeit, die den Denkwürdigkeiten Bebels ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade anhaftet, der Schluss gezogen worden ist, dass er im Grunde eine arme und dürftige Natur gewesen sei. Man findet dieselbe Farblosigkeit nicht zwar in allen, aber in den weitaus meisten der Nachrufe, die ihm gerade auch in der Parteipresse gewidmet worden sind. Bei allem gerechten Lobe, das sie dem unvergänglichen Verdienste Bebels um die Arbeiterbewegung spenden, geben sie doch kein eigentliches Bild des Mannes, und ein jüngerer Parteigenosse, der ihn liebte und verehrte wie keiner und der eine Gedenkrede auf ihn halten sollte, sagte mir jüngst: Es ist eine verzweifelte Sache; wenn man über Bebel sprechen will, kommt man sofort in die Geschichte der Partei, und dann kann man nur erzählen, was schließlich jeder Parteigenosse weiß.

Damit war der springende Punkt berührt. Man pflegt in den Nachrufen auf jeden langjährigen Parteiführer zu lesen, dass seine Geschichte sich nur schreiben lasse als Geschichte seiner Partei, aber bei Bebel hat die landläufige Wendung einen tieferen Sinn. Macht man die selbstverständliche Voraussetzung, dass seine historische Tätigkeit ohne ganz ungewöhnliche Gaben des Geistes und des Charakters nicht möglich gewesen wäre, so muss man doch sagen, dass er unter den modernen Arbeitern, die ihre Namen in das Buch der Geschichte einschreiben durften, nicht der begabteste gewesen ist. Er besaß nichts von dem genialen Zuge eines Weitling, wenig von der theoretischen Erkenntnisschärfe eines Eccarius, und wenn man ihn nur an denen misst, die, unter ähnlichen Verhältnissen emporgekommen, Schulter an Schulter mit ihm gekämpft haben, so war Auer unstreitig die reichere Persönlichkeit3. Aber Bebel war, wie kein anderer vor ihm und mit ihm, der getreueste Dolmetsch der Massen. Er war, wie kein anderer vor ihm und mit ihm, mit der Arbeiterbewegung verwachsen, und sein Denken, Fühlen und Streben haftete mit allen Wurzeln so tief in ihrem Boden; aus diesem Boden sog er so ausschließlich die Kräfte seines Lebens, dass jede besondere Eigentümlichkeit seines Wesens darin erlosch. Was die Schwaben von Uhland zu sagen pflegen, das sagten und sagen die deutschen Arbeiter von Bebel: Jedes Wort, das er gesprochen hat, ist uns gerecht gewesen.

Hierin liegt Bebels eigentümliche historische Bedeutung, die in der Geschichte aller Massenbewegungen kaum ihresgleichen hat. Hierin wurzelte das ungeheure Maß von Autorität, das er besaß und bis an sein Lebensende behauptet hat. Hieraus erklärt sich dann auch die Farblosigkeit seiner Denkwürdigkeiten, die so vielfach verkannt worden ist. Wenn seine Person darin so sehr zurücktrat, so war das nicht erkünstelte Bescheidenheit, denn er war sich seiner Arbeit wohl bewusst; es war nicht einmal wirkliche Bescheidenheit, sosehr sie ihm in all den schweren Belastungsproben, denen sie in den letzten Jahrzehnten seines Lebens ausgesetzt war, treu geblieben sein mochte: Es war seines Wesens Wesenheit, dass ihm seine Person völlig in seiner Partei aufging. Nun konnten seine Denkwürdigkeiten freilich auch keine Geschichte der Partei geben, da ihm die Fähigkeiten des Historikers fehlten, und so haben sie bei Lesern, die Bebels Art nicht verstanden, den ungerechten Vorwurf hervorgerufen, er sei eine arme und dürftige Natur oder mindestens ein greisenhaft langweiliger Erzähler gewesen.

Seinen größten Ruhm hat Bebel als Redner und namentlich als parlamentarischer Redner davongetragen. Eben jetzt geht eine Notiz durch die Zeitungen, wonach Bismarck ihn als den einzigen Redner des Reichstags gelobt haben soll. Etwas anders lautet eine vor Jahren schon verbreitete Notiz, wonach Bismarck gesagt haben soll, Bebel möge ja ein guter Redner sein, aber was sei viel dabei, wenn jahrzehntelange Übung den Meister mache, im Anfange habe es sehr mit Bebel gehapert. Von den beiden angeblichen Äußerungen Bismarcks ist die zweite die besser beglaubigte und die innerlich wahrscheinlichere, obgleich oder auch weil sie gänzlich danebenhaut. Bebel erwies sich schon in seinen Anfängen als ein Meisterfechter auf parlamentarischem Boden; selbst als er der einzige Vertreter der Partei im Reichstage war, setzte er bei einem Zusammenstoß Lasker, den damals gewandtesten Parlamentarier, und sogar Simson, den „geborenen Präsidenten", platt auf den Boden. Allein selbst wenn Bismarck von Bebel als dem einzigen Redner des Reichstags gesprochen haben sollte, so hat er es schwerlich in anerkennendem Sinne getan.

Für Bismarck war alle Beredsamkeit nicht mehr als Schall und Rauch. Wenn d'Alembert ihre Wirkungen als das vielleicht glänzendste Zeugnis der Überlegenheit eines Menschen über die anderen gepriesen, Kant sie aber eine Betrügerin gescholten hat, weil sie in Dingen, die die Vernunft zu entscheiden habe, der ästhetischen Empfindung das letzte Wort lasse, so stand Bismarck ganz auf Seiten des deutschen Denkers. Ohne schwerlich viel von Kant zu wissen, hat er die Beredsamkeit, namentlich in politischen Dingen, die immer eine kaltblütige Überlegung erforderten, mit den Gründen Kants als unheilvoll bekämpft. Er bezog sich wiederholt auf eine Rede, die Radowitz im Jahre 1849 im preußischen Abgeordnetenhause gehalten hatte. Sie hätte das ganze Haus hingerissen, einen Kollegen, der neben ihm saß, sogar bis zu Tränen gerührt. Bismarck erzählte dann weiter, er habe diesem Kollegen den gedruckten Wortlaut der Rede vorgelegt und ihn gebeten, nun doch zu zeigen, wo denn so Erhabenes und Rührendes darin enthalten sei. Der aber habe nach Lesung der Rede verlegen erklärt, ja, im Grunde stünde wirklich nichts darin.

Von diesem Standpunkt aus konnte Bismarck am wenigsten die Reden Bebels bewundern. Sie zeichneten sich weder durch künstlerische Form noch durch geistreiche Einfälle und am wenigsten durch neue Gedanken aus, die in parlamentarischen Reden ja überhaupt so selten vorkommen wie weiße Raben. Die wohl berühmteste Rede Bebels war die so genannte „Kaiserrede" vom 23. Januar 1903. Nach seinem Tode wurde sie von mehreren Blättern abgedruckt, und wenn man sie nun las, so begriff man freilich nicht, dass sie einst mit Sturmesgewalt über ein atemlos lauschendes Haus hinweggefegt war und selbst die widerwilligsten Hörer in ihren Bann gerissen hatte. Solche Wirkungen der Beredsamkeit führte Bismarck auf das – grob ausgedrückt – komödienhafte Gebaren der Redner zurück; bei Radowitz auf den Denkerblick, das andächtige Auge, die Stimme voll Klang und Gewicht, bei Waldeck auf den weißen Bart und die gesinnungstüchtige Geste.

Er war ein guter Hasser, wie ihm auch Bebel bezeugt hat, und mit dem Späherblick des Hasses hat er der parlamentarischen Beredsamkeit, die so oft seine Kreise störte, ihre Schattenseiten abgesehen. Allein darüber hinaus verschob er die Frage auf ein falsches Gebiet. Die parlamentarische Beredsamkeit will nicht nur auf das ästhetische Empfinden wirken, sondern sie ist eine Waffe im Kampf gegen die Macht. Darin hat sie d'Alembert unter vorgeschrittenen Verhältnissen viel richtiger erkannt als sein Zeitgenosse Kant. Spekuliert sie auf die Lachmuskeln oder die Tränendrüsen, so wird sie missbraucht und hat ihren Lohn dahin; die berufsmäßigen Heiterkeitsmacher werden schließlich selbst nicht ernsthaft genommen, ebenso wenig die feierlichen Leichenredner, die von pathetischen Gemeinsätzen triefen. Aber das einfache und ungeschminkte „Aussprechen dessen, was ist", um dies viel missbrauchte Schlagwort Lassalles einmal am richtigen Orte anzuwenden, kann die parlamentarische Beredsamkeit zu einer wuchtigen Waffe im proletarischen Klassenkampfe machen, und niemand hat diese Waffe so geschickt zu handhaben gewusst wie Bebel.

Er besaß wenig von jenen äußeren Hilfsmitteln der Rhetorik, auf die Bismarck gern alle Wirkungen der parlamentarischen Beredsamkeit zurückgeführt hätte; nur der helle Klang seiner Stimme wirkte schon wie der Ruf der Trompete zur Schlacht. Auch an Bildung und Wissen mochten ihm manche Redner der gegnerischen Parteien überlegen sein. Aber gleichwohl hatte er das Ohr des Reichstags wie kein anderer. Aus jedem Worte sprach eine Überzeugung, von der jeder Hörer wusste, dass sie nicht erlernt, sondern erlebt, dass sie in Arbeit und Kampf dreimal gehärtet war; aus jedem Worte sprach ein Wille zur Macht, von dem jeder Hörer wusste, dass es kein müßiges Begehren, sondern der klare Entschluss von Millionen war.

Die alte Erfahrung, dass gute Redner selten gute Schriftsteller und gute Schriftsteller selten gute Redner sind, bewährte sich auch an Bebel. Er schrieb, wie er sprach, was zwar nicht geringere Größen der Literatur als Goethe und Lessing empfohlen haben, aber was deshalb nicht weniger ein sehr zweideutiges Lob ist. Lessing hat in dem glorreichen Alter von vierzehn Jahren seiner Schwester den altklugen Rat erteilt: Schreibe wie du redest, so schreibst du schön, und Goethe hat, ohne von Lessing zu wissen, in nicht viel höheren Semestern, ebenfalls seiner Schwester mit fast denselben Worten den gleichen brüderlichen Wink gegeben. In den Zeiten eines unglaublich verschnörkelten Briefstils hatte dieser Wink auch seinen guten Sinn und zeigte schon die Klauen der jungen Löwen. Aber für alle schriftstellerische Tätigkeit bleibt es bei dem lakonischen Worte Vischers, dass eine Rede keine Schreibe sei. Eine gewisse Breite und Gemeinverständlichkeit, die für den Redner ganz unentbehrlich ist, kann für den Schreiber zu einer gefährlichen Klippe werden. Auch hat Bebel seinen schriftstellerischen Stil nie gepflegt; seine Beziehungen zur schönen Literatur waren meines Wissens überhaupt nur lose. So lässt sich unter rein literarischem Gesichtspunkte manches gegen Bebels Schriften einwenden.

Allein der rein literarische Gesichtspunkt ist, wie gegenüber seinen Denkwürdigkeiten, so auch gegenüber seiner sonstigen Schriftstellerei, nicht angebracht. Sie war ihm nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck. Seine historischen Schriften, die die Kritik am stärksten herausfordern, sind Gefängnisarbeiten, geschrieben, um auch die erzwungene Muße zum Besten der Arbeiterbewegung auszunützen; seine Schrift über die Lage der Bäckereiarbeiter wollte dieser Proletarierschicht ein menschenwürdigeres Los schaffen und hat diesen Zweck erreicht; seine Hauptschrift, das Buch über „Die Frau und der Sozialismus", traf mit Bebels nie irrendem Klasseninstinkt den Punkt, wo ein neuer und mächtiger Hebel der Arbeiterbewegung angesetzt werden konnte. Dies Buch ist bekanntlich das verbreitetste Erzeugnis der sozialistischen Literatur und in fast alle modernen Sprachen übersetzt worden. Die fachmännische Kritik hat es ein „durch und durch unwissenschaftliches Buch" genannt, jedoch in gewissem Sinne hat es durch die sorgsame Bearbeitung, der N. Rjasanow die fünfzigste Auflage unterzogen hat, eher verloren als gewonnen. Freund Rjasanow wird diese Bemerkung nicht missverstehen: Er hat das Buch gegen die Einwürfe der fachmännischen Kritik viel hieb- und stichfester gemacht, aber der historische Rost dieses menschlichen Denkmals ist dadurch zum Teil zerstört worden.

Was Bebel als Agitator und Organisator geleistet hat, das lässt sich nicht wohl ohne tieferes Eindringen in die Parteigeschichte darstellen, und ich wäre auch nicht der Berufenste, darüber zu schreiben. Obgleich wir gewöhnlich in allen Parteifragen übereinstimmten, so führte uns unsere Parteitätigkeit doch selten persönlich zusammen, und auch in unseren Mußestunden, die ihm wie mir spärlich gemessen waren, trafen wir uns nicht oft; „wenn des Abends sinkt die Sonnen", erfrischt sich der eine mehr an dieser, der andere mehr an jener Form der Geselligkeit, wie Bebels Scherz über seine minimale Trinkfähigkeit und meine Trinkfestigkeit in immerhin scherzhafter Form andeutet. Am häufigsten war unser Verkehr in den letzten Jahren des Sozialistengesetzes und in den ersten Jahren nach dessen Aufhebung. Der schönste Schmuck seines Hauses war seine Frau. Sie war ein ganz einfaches Naturkind, aber in schweren Kämpfen und Opfern mit ihrem Mann gewachsen, und sie beriet ihn auch wohl in politischen Fragen nachhaltiger, als ihr überaus anspruchsloses Wesen vermuten ließ. Sah man sie in ihrer behaglichen Häuslichkeit um ihn walten, so dachte man an das Lied des schottischen Volksdichters: Woman, lovely woman, heaven destined you to temper man4 Ich habe selten in meinem Leben eine Frau von gleich bestrickender Liebenswürdigkeit des Herzens kennen gelernt. Im Alter noch eine stattliche Erscheinung, musste sie in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein; als ihn einst ein Witzblatt, um seine Auffassung der Frauenfrage zu verspotten, an der Seite einer wenig anziehenden Frauengestalt abgebildet hatte, meinte er mit einem Anfluge von Ärger: Na, so viel könnten sie mir doch lassen, dass ich mir eine hübsche Frau ausgesucht habe.

Seit der Mitte der neunziger Jahre trat allmählich eine Entfremdung zwischen uns ein, die ich hier berühren darf, da sie auf rein sachlichen Gegensätzen beruhte, noch dazu in einer rein historischen Frage. In meiner Parteigeschichte hatte ich die alte Legende von Schweitzers Verrat an der Arbeiterbewegung zerstört, auf Grund einer wissenschaftlichen Untersuchung, deren Ergebnis seitdem von allen Historikern, bürgerlichen wie sozialistischen, die sich mit dieser Geschichtsperiode beschäftigt haben, bestätigt worden ist. Mögen die Ansichten über Schweitzers Person und Tätigkeit im einzelnen noch auseinander gehen, so herrscht darin doch völlige Übereinstimmung unter allen Forschern, die die Dinge selbst untersucht haben, dass die Legende von Schweitzers durch Bismarcks Gold erkauften Verrat eben eine Legende ist.5

Bebel hielt an dieser Legende aber hartnäckig fest, wenn auch gewiss nicht aus persönlichen Gründen. Er hat wohl im leidenschaftlichen Kampf manchem Gegner und auch manchem Parteigenossen unrecht getan; er war ein guter Hasser, wie Bismarck, aber von Bismarcks nachtragender Gehässigkeit durfte er sich mit Recht freisprechen. Nachdem die bis dahin feindlichen Fraktionen sich 1875 geeinigt hatten, hat Bebel mit manchem der früheren Lassalleaner, der ihn viel ärger beschimpft hatte als Schweitzer, seinen ehrlichen Frieden gemacht. Mit kleinlichen oder niedrigen Beweggründen hatte es nichts zu tun, wenn er gegenüber Schweitzer selbst eine Unversöhnlichkeit bewies, an der alle Gründe wirkungslos abprallten. Diese Unversöhnlichkeit hing vielmehr mit seiner stärksten Seite zusammen, mit seinem völligen Aufgehen in der Bewegung der Arbeiter. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Gegner, der ihm innerhalb dieser Bewegung selbst entstanden war und ihn jahrelang die schwersten Kämpfe gekostet hatte, von anderen als unlauteren Beweggründen geleitet gewesen sei.

Unser Gegensatz in dieser Frage war nicht zu überbrücken und brach von Zeit zu Zeit wieder auf, wenn auch dazwischen lange Jahre des Friedens lagen. Den entscheidenden Schlag wollte Bebel in seinen Denkwürdigkeiten führen. Sie waren überhaupt das Schoßkind seines Alters, und er hat später selbst das Kapitel über Schweitzer als dasjenige bezeichnet, das ihm vor allen andern am Herzen gelegen habe. Als wir vor Jahren einmal am dritten Orte zusammentrafen und er in seiner beredten Weise im allgemeinen Tischgespräche auseinandersetzte, wie unzuverlässig das Gedächtnis sei, so dass selbst Vorgänge, die sich einem tief eingeprägt hätten, im Laufe der Jahre unter allerlei Suggestionen eine ganz andere Gestalt gewinnen könnten, rief ich ihm zu: Das ist ja gerade Ihr Fall mit Schweitzer. Er stutzte einen Augenblick, wehrte dann aber lebhaft ab: Warten Sie nur meine Memoiren ab. Ich werde mit keinem Worte gegen Sie polemisieren, aber mit Ihrem Schweitzer wird es dann vorbei sein.

Als der erste Band der Denkwürdigkeiten im Anfang des Jahres 1910 erschien, reichte er schon tief in die Periode Schweitzers hinein, berührte diesen aber wenig. Ich machte nun noch einen Versuch der Verständigung, in dem Aufsatz über die Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung (in diesem „Archiv" I, 101). Ich sandte ihm einen Abzug zu und sprach die Hoffnung aus, dass wir uns näher gekommen seien. Das gab er in seiner Antwort zu, hatte auch freundliche Worte für meine Arbeit, aber er fügte hinzu, in dem Hauptpunkte, in der Stellung Schweitzers zur Politik Bismarcks, blieben wir uneinig. Er fuhr dann fort: „Ich habe den zweiten Band: Aus meinem Leben, trotz der sehr schmerzlichen Sorgen und Erregungen, die mir die Krankheit und schließlich der Tod meiner unvergesslichen Frau verursachten, im vorigen Jahre nahezu fertig gestellt. Der erste Abschnitt dieses Bandes befasst sich mit Schweitzer. Ich habe mich bemüht, objektiv zu sein, und muss nun abwarten, ob es mir nach Ansicht der Leser gelungen ist, meine Ansicht über die Rolle Schweitzers in der Politik seiner Zeit auskömmlich zu begründen. – Nach wie vor erkenne ich an, dass in Bezug auf Talent und Geschick er der bedeutendste Führer war, den bis heute die Sozialdemokratie hatte, aber seine schlimmen Charaktereigenschaften und seine Leidenschaften führten ihn auf Abwege. Wäre er wirklich ein ehrlicher Mann gewesen, der ehrlich der Bewegung dienen wollte, er wäre bis zum letzten Tage seines Lebens der erste Führer der Partei geblieben. Niemand hätte wagen dürfen, einen Stein auf ihn zu werfen. Es würde sich auch niemand dazu gefunden haben. Welche Verehrung haben gerade nach dem Tode die Liebknecht, die Auer, die Singer erfahren, denen er geistig überlegen war. Schweitzer war einer von den genialen Menschen, die das Größte leisten könnten, wären sie eben nicht die Sklaven ihrer Leidenschaften und die Opfer ihres schlechten Charakters. Zu denen gehörte er. Mehr aber als in jeder anderen politischen Partei kommt es in der sozialdemokratischen auch auf den Charakter der Führer an. Es steht für die Masse zu viel auf dem Spiel, und da vertraut sie lieber mehr der Ehrlichkeit als der Genialität." Der Satz kennzeichnet den Mann, der nichts von Genialität, aber umso mehr von Ehrlichkeit besaß. Im allgemeinen freilich zerbricht der kahle Gegensatz von Ehrlichkeit und Genialität an der unendlichen Bedingtheit des historischen Lebens; zwischen beschränkter Ehrlichkeit und genialem Lumpentum gibt es zahllose Zwischenstufen, und auf einer von ihnen hat auch Bebel selbst gestanden, denn mit der Ehrlichkeit allein hat auch er nicht sein Lebenswerk vollbracht.

Im Herbst 1911 erschien der zweite Teil seiner Denkwürdigkeiten, mit dem Kapitel über Schweitzer, das 137 Seiten umfasste. Leider hielt darin Bebel sein Wort, nicht gegen meine Auffassungen zu polemisieren; er hatte meine Darstellung vor der Niederschrift seines Kapitels nach seiner eigenen Angabe nicht einmal angesehen, um mich nicht in die fatale Lage zu bringen, auf Angriffe nicht an der Stelle, wo sie erhoben seien, antworten zu können. Damit war jede sachliche Erörterung des Problems von vornherein abgeschnitten. Wenn historische Quellenkunde und namentlich Quellenkritik ohnehin nicht seine Sache war, so wiederholte Bebel einfach die alten Behauptungen über Schweitzer, die von mir und anderen gerade als legendär nachgewiesen worden waren. Hätte sich die gegnerische Presse nicht der Sache bemächtigt und nunmehr ihre alte Mär, wonach Bismarck bei der Gründung der deutschen Sozialdemokratie die Hand im Spiel gehabt haben sollte, als erwiesene Tatsache behauptet, die ich wider besseres Wissen bestritten hätte, so würde ich keinen Anlass gehabt haben, mich mit der Sache nochmals zu befassen. So aber war ich gezwungen, wenigstens in aller Kürze nochmals meinen nach wie vor entgegengesetzten Standpunkt zu betonen. Es geschah in so zurückhaltender Form, dass die gegnerischen Blätter meine Ausführungen als „lahme Ausreden" verspotteten. Aber Bebel selbst antwortete nunmehr in schroff ablehnender Weise. Weder das ihm immer verdächtige Lob der Gegner, noch die Spärlichkeit der Zustimmung, die sein Kapitel über Schweitzer in der eigenen Partei fand, konnten ihn in seiner Überzeugung erschüttern.

Er hat an ihr bis an sein Lebensende festgehalten. Seine letzte Betätigung in der Parteipresse war ein lang ausgesponnener Streit über Schweitzer, nicht mit mir, sondern mit einem andern Parteigenossen, wobei jedoch für mich bittere Worte abfielen. Ich habe sie nicht erwidert, aber bei einer letzten persönlichen Begegnung, die aus anderem Anlass ein paar Wochen vor seinem Tode stattfand, ergab sich ein Maß von Verstimmung, das jede Möglichkeit einer Einigung auch für die Zukunft ausschloss.

Bei diesem Abschied fürs Leben ahnte ich nicht, dass seine Lebensfrist nur noch kurz bemessen sei. Nichts verriet, dass schon die Fittiche des Todes über ihm schwebten; so lebhaft und munter sprach er, ganz wie in seinen gesunden Tagen. Nach seinem Ableben haben die Ärzte festgestellt, dass seine körperlichen Kräfte völlig aufgezehrt gewesen seien, so dass die lange Erhaltung seines Lebens fast wie ein Wunder erschiene. So hat sich an ihm das Dichterwort erfüllt: Es ist der Geist, der sich den Körper baut, und er selbst hätte sich keinen besseren Nachruf gewünscht, als dass der Geist, der in seinem schmächtigen Körper Großes gewirkt hat, der Geist der kämpfenden Arbeiterklasse gewesen ist.

1 Siehe den Leitartikel zum Tode von August Bebel in der „Leipziger Volkszeitung" vom 14. August 1913.

2 Gemeint ist Wilhelm Liebknecht: Karl Marx zum Gedächtnis. In: Mohr und General. (Siehe auch Anmerkung 24.)

3 Dieser Vergleich Mehrings wird der überragenden Rolle August Bebels in der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung nicht gerecht. Während sich Auer zum ausgesprochenen Opportunisten entwickelte, blieb Bebel bis an sein Lebensende der Sache der Arbeiterklasse treu.

4 Woman, lovely woman, heaven destined you to temper man (engl.) - Frau, liebliche Frau, der Himmel hat dich dazu bestimmt, das Temperament des Mannes zu mäßigen.

5 Mehrings Versuch, neben Lassalle auch Schweitzer zu „retten", war von vornherein zum Scheitern verurteilt. (Siehe Thomas Hohles Vorwort zu den Bänden 1 und 2 der „Gesammelten Schriften", Bd. 1, Berlin 1960, S. 41/42.)

Kommentare