Franz Mehring 19100204 Bebels Denkwürdigkeiten

Franz Mehring: Bebels Denkwürdigkeiten

4. Februar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 669-671. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 458-461]

August Bebel, Aus meinem Leben. Erster Teil. Stuttgart 1910, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. 221 Seiten. Geheftet 1,50, gebunden 2 Mark.

Derweil die deutsche Arbeiterklasse sich rüstet, den siebzigsten Geburtstag ihres ältesten Vorkämpfers unter den Lebenden zu ehren, spendet er selbst ihr eine reichere Gabe, als sie ihm zu seinem Festtag darbringen kann: den ersten Teil seiner Denkwürdigkeiten, die eben in demselben Verlag erscheinen, mit dem ihn eine gemeinsame Arbeit von Jahrzehnten verbindet.

Dieser Teil reicht bis zum Frühling 1869, bis an das dreißigste Lebensjahr des Verfassers, dessen Wachsen und Werden er schildert, von den harten Anfängen des blutarmen, in einer preußischen Kasematte geborenen und früh verwaisten Knaben bis zur Reife des Mannes, der das Ziel seines Lebens mit festem und klarem Blick erfasst hat. Die letzten zehn Jahre dieser Jugendgeschichte fallen schon zusammen mit der allgemeinen Zeitgeschichte, doch sind sie wesentlich noch eine Zeit der Selbstverständigung, des ehrlich-mühsamen Zurechttastens an den großen Problemen des proletarischen Klassenkampfes. In dem Verband deutscher Arbeitervereine, der von der Bourgeoisie als Schutzwall gegen Lassalles Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet wurde, ist der Kämpfer Bebel groß geworden, und seine Denkwürdigkeiten bereichern die Geschichte des Verbandes, der bisher in unzureichender Weise behandelt worden ist, um eine Reihe neuer Züge.

Aber nicht in dieser Ergänzung der Parteigeschichte, so dankenswert und willkommen sie ist, liegt der eigentliche Kern und Nerv der Schrift. Denkwürdigkeiten sollen uns den Menschen lebendig machen, der sie veröffentlicht: sowohl in dem, was er schreibt, als auch – und noch viel mehr – in dem, wie er schreibt. Mit Recht nennt Bebel als ihre ersten Erfordernisse Offenheit und Wahrheit, doch kann man auch, wie manche berühmten Denkwürdigkeiten zeigen, mit der Offenheit und Wahrheit kokettieren. Die so kuriose wie unerfreuliche Schilderung eines angeblich sozialistischen Lebenslaufs, an der sich augenblicklich das bourgeoise Sensationsbedürfnis ergötzt, ist von manchen Kritikern mit Rousseaus Bekenntnissen verglichen worden, insofern nicht ohne Grund, als sie zwar nichts von Rousseaus Genie, aber zum Ersatz dafür um so mehr von Rousseaus Eitelkeit verrät. Jedoch auch wenn Bebels Schrift einer geschmacklosen Reklame so bedürftig wäre, wie sie überhaupt keiner Reklame bedürftig ist, so wäre es dennoch verkehrt, sie mit berühmten Denkwürdigkeiten des bürgerlichen Zeitalters zu vergleichen.

In ihr spricht vielmehr ein neues Geschlecht, und eine neue Welt tut sich in ihr auf. Ein Mann, dem Bebel ein Kapitel seiner Denkwürdigkeiten widmet, als einem der Besten, die ihm je auf seinem Lebensweg begegnet seien, F. A. Lange, sagt einmal irgendwo, die Klage, dass unsere Zeit nicht so reich an überragenden Gestalten sei wie frühere Jahrhunderte, stelle vielmehr eine Tatsache fest, zu der sich die Menschheit nur beglückwünschen könne. Die Kepler und die Kopernikus, die Leibniz und Spinoza erschienen nur deshalb so übermenschlich groß, weil sie eine einsame Stellung in ihrem Zeitalter eingenommen hätten, während heutzutage das Größte immer häufiger durch die gemeinsame Arbeit vieler zustande komme. Das gilt namentlich von der modernen Arbeiterbewegung, in deren unvergleichlicher Größe der einzelne atmet und lebt wie ehedem der einzelne in der unvergleichlichen Größe seines Genies.

Das Leben Bebels zumal ist ein klassisches Beispiel dafür, wie der einzelne historische Bedeutung gewinnt, indem er völlig aufgeht im großen Ganzen. Kein Mensch, der auf gleich große Leistungen zurückblicken darf, ist je so frei gewesen nicht etwa nur von eitler Selbstbespiegelung, sondern auch von dem Selbstbewusstsein, das den tapferen Mann nicht schlecht kleidet. Wie er sonst wohl manchmal im Gespräch gesagt hat, dass ganz anderes aus ihm hätte werden können, als tatsächlich aus ihm geworden sei, wenn dieser oder jener kleine Zufall seinem Lebenslauf eine andere Wendung gegeben hätte, so kommt Bebel auch in seinen Denkwürdigkeiten darauf zu sprechen, wie wenig an dem Sprichwort sei, wonach jeder seines Glückes Schmied sein solle. Der Selfmademan existiere nur in sehr bedingtem Maße. Hundert andere, die viel ausgezeichnetere Eigenschaften hätten als der eine, der obenauf gekommen sei, blieben im verborgenen, lebten und gingen zugrunde, weil ungünstige Umstände ihr Emporkommen verhinderten. Als persönliches Verdienst des einzelnen könne nur die Anpassung an günstige Umstände und ihre richtige Ausnutzung gelten.

So unbestreitbar das alles ist, so kann die Wahrheit, die in diesen Sätzen liegt, doch auch übertrieben werden. Der historische Prozess ist immer ein dialektischer Prozess; es kommt nicht nur darauf an, was die Dinge aus dem Menschen, sondern auch, was der Mensch aus den Dingen macht. Mitunter überwiegt das Allgemeine in Bebels Denkwürdigkeiten vielleicht zu sehr das Persönliche; namentlich aus seinen ersten Leipziger Jahren hätten wir gern mehr über die innere Entwicklung seines Geistes gehört. Aber dieser Fehler, wenn es anders ein Fehler ist, hängt zu sehr mit Bebels Eigenstem zusammen, als dass wir ein Recht hätten, uns darüber zu beklagen.

Natürlich wäre es ein gewaltiger Irrtum, anzunehmen, dass mit der wachsenden Verschmelzung des Allgemeinen und des Einzelnen, des Sachlichen und des Persönlichen das Menschliche zu kurz käme. Es ist ähnlich, als wenn man dem historischen Materialismus nachredet, dass er keine Gestalten zu schaffen vermöge, weil er bestreitet, dass die Geschichte von einzelnen großen Männern gemacht wird. Freilich, wer in Bebels Buch nach den Bizarrerien und Koketterien des „Übermenschentums" sucht, das in der dekadenten Bourgeoisliteratur umher spukt, der wird das Buch schwer enttäuscht aus der Hand legen. Aber umso mehr wird von ihm befriedigt sein, wer des Glaubens lebt, dass die moderne Arbeiterbewegung überall auf die einfachen und schlichten Tugenden unverbildeten Menschentums zurückführe. Was in so vielen berühmten Denkwürdigkeiten eine so große Rolle spielt, all das Neigen von Herzen zu Herzen, das spielt hier gar keine Rolle; der erfolgreichste Vorkämpfer der Frauenemanzipation erzählt nur, was er drei Frauen zu danken hat, seiner Mutter, seiner Gattin und seiner Tochter. Der treuesten Gefährtin seines Lebens hat er das Buch gewidmet, und von ihr darf er rühmen: „Eine liebevollere, hingebendere, allzeit opferbereitere Frau hätte ich nicht finden können. Leistete ich, was ich geleistet habe, so war dieses in erster Linie nur durch ihre unermüdliche Pflege und Hilfsbereitschaft möglich. Und sie hat viele schwere Tage, Monate und Jahre zu durchkosten gehabt, bis ihr endlich die Sonne ruhigerer Zeiten schien."

So auch wird Bebel den treuesten Gefährten seines Lebens gerecht; das Kapitel über Liebknecht ist das prächtigste Charakterbild eines prächtigen Menschen; wie es zu den schönsten Partien des Buches gehört, so auch zu dem Besten, was je über Liebknecht geschrieben worden ist. „Er war ein Mann von Eisen mit einem Kindergemüt." Alle die glänzenden Vorzüge und alle die kleinen Eigenheiten des Alten kommen vortrefflich heraus; dies Denkmal ehrt in gleichem Maße die beiden Kämpfer, die bei sehr verschiedenem Charakter eine fünfunddreißigjährige Waffenbrüderschaft unzertrennlich verbunden hat.

Bebel versteht es, oft mit wenigen Strichen eine lebendige Gestalt hinzustellen, immer milde in seinem Urteil, auch über die Hände, die ihn einmal härter angefasst haben mögen. So in seiner Kindheit, deren bittere Armut ihm doch nicht die Lust an kleinen Schelmenstreichen ertötete; derer aber, die ihm damals freundlich nahe getreten sind, wie ein katholischer Geistlicher und vermutlicher Jesuit in Salzburg, gedenkt er mit aufrichtiger Dankbarkeit.

So sind ihm Offenheit und Wahrheit, in dem natürlichsten und schlichtesten Sinne dieser Worte, die Leitsterne gewesen, als er seine Denkwürdigkeiten schrieb, und mehr noch als das Was wird das Wie seiner Darstellung die Herzen seiner Leser gewinnen. Wer immer sie liest, wird nichts eifriger wünschen als Kraft und Muße für den Verfasser, sie bald fortzusetzen und zu vollenden.

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